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Kapitel 3.
Der Pittsburger Depeschenbote. Erweiterung der Bildung: Bücher und Kunst.

So kam ich im Jahre 1850 zum eigentlichen Ausgangspunkt meiner Lebensentwicklung. Aus dem dunklen Keller, wo ich bei zwei Dollar Wochenlohn ständig mit Kohlenstaub beschmiert, ohne eine Spur veredelnder Einflüsse, die Dampfmaschine bediente, wurde ich auf einmal ins Paradies, ja, wie mir schien, in den Himmel versetzt und hatte nun Zeitungen, Federn, Bleistifte und Sonnenschein um mich herum. Es gab keine Minute am Tage, in der ich nicht etwas Neues hinzulernen konnte oder doch einsehen lernte, wieviel es zu lernen gibt und wie wenig ich noch wußte. Ich hatte das Bewußtsein, daß mein Fuß auf der untersten Sprosse einer Leiter stand und daß ich emporsteigen mußte.

Nur die eine Sorge hatte ich, daß ich die Adressen der verschiedenen Geschäftshäuser, an die ich Depeschen zu bestellen hatte, nicht schnell genug auswendig lernte. Ich schrieb mir daher die Schilder an diesen Häusern ab: die eine Seite der Straße hinauf und die andere Seite wieder hinunter; des Abends numerierte ich dann die verschiedenen Firmen in der richtigen Reihenfolge. Nach kurzer Zeit schon konnte ich mit geschlossenen Augen die Namen sämtlicher Firmen in der richtigen Reihenfolge vom unteren Ende der Straße bis zum oberen und auf der anderen Seite zurück hersagen.

Der nächste Schritt war, daß ich die Leute selbst kennenlernte. Denn ein Bote, der die Mitglieder oder Angestellten der Firmen kannte, hatte manchen Vorteil und sparte sich oft einen langen Weg; man konnte ja einem dieser Herren auf dem Wege zu seinem Bureau begegnen. Für die Jungen war es ein großer Triumph, wenn einer ein Telegramm unterwegs abgeliefert hatte. Dazu kam noch das Gefühl stolzer Befriedigung, daß ein großer Mann – und für einen Depeschenboten sind fast alle Anderen große Männer! – auf der Straße stehenblieb und ein paar freundliche Worte mit ihm sprach.

Im Jahre 1850 war Pittsburg lange nicht das, was es heute ist. Noch immer litt es unter den Nachwirkungen des großen Brandes, der das ganze Geschäftsviertel der Stadt am 10. April 1845 eingeäschert hatte. Die Häuser waren zumeist aus Holz, nur wenige aus Ziegeln, und kein einziges war feuersicher. Ganz Pittsburg mit Umgebung hatte damals nicht mehr als 40 000 Einwohner. Das Geschäftsviertel der Stadt ging noch nicht bis zur Fünften Straße, die damals noch ganz still und nur dadurch bemerkenswert war, daß dort das Theater stand. Die Federal Street in Allegheny bestand aus einzelstehenden Geschäftshäusern mit großen, leeren Plätzen dazwischen, und ich weiß noch, daß ich mitten im Herzen des jetzigen fünften Bezirks auf einem kleinen Teich Schlittschuh gelaufen bin; wo heute unser Union-Eisenwalzwerk steht, war damals und noch viele Jahre später ein Kohlgarten. General Robinson, an den ich oft Telegramme zu bestellen hatte, war der erste Weiße, der westlich des Ohio River geboren worden ist. Ich sah den ersten Telegraphendraht, der vom Osten in die Stadt hinein gelegt wurde, und späterhin sah ich auch die erste Lokomotive; denn die Ohio- und Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft brachte diese zu Schiff von Philadelphia aus und lud sie in Allegheny City von der Fähre. Es gab noch keine direkte Eisenbahnverbindung nach dem Osten. Die Fahrgäste fuhren den Kanal hinauf bis zum Fuß des Alleghenygebirges, wurden über dieses hinweg nach Hollidaysburg, etwa dreißig Meilen weit, mit der Eisenbahn gebracht, von dort aus wieder auf dem Wasserwege nach Columbia, und von da waren es noch 81 Meilen Bahnfahrt nach Philadelphia. Die Reise dauerte drei Tage.

Das große Ereignis des Tages für Pittsburg war damals die Ankunft und Abfahrt des Postdampfers nach und von Cincinnati. Das Hauptgeschäft der Stadt bestand in der Beförderung von Waren nach Osten und Westen, denn hier war die große Übergangsstation zwischen Fluß und Kanal. Ein Eisenwalzwerk war eröffnet worden, aber noch lange Jahre hindurch wurde nicht eine einzige Tonne Roheisen oder Stahl geliefert. Die Roheisenindustrie hatte zuerst gar keinen Erfolg, da es an geeignetem Brennmaterial fehlte, obwohl die besten zur Koksgewinnung geeigneten Kohlen in ganz geringer Entfernung lagen. Aber an Koks zum Schmelzen von Eisenerz dachte man damals ebensowenig wie an den Schatz des Gases, der lange Zeit ungenutzt unter der Stadt gelegen hat.

Es gab zu jener Zeit wohl kaum ein halbes Dutzend Leute in der Stadt, die reich genug waren, um sich eine Kutsche zu halten, und noch manches Jahr verging, bis man daran dachte, wenigstens für den Kutscher eine Livree einzuführen. Ungefähr 1861 erst trat das aufsehenerregendste finanzielle Ereignis, das je in den Annalen von Pittsburg zu verzeichnen war, ein, daß sich Mr. Fahnestock mit der ungeheuren Summe von 174 000 Dollar, die ihm seine Teilhaber als Anteil auszahlten, vom Geschäft zurückzog. Wie groß erschien diese Summe damals, und wie gering ist sie heute!

Meine Tätigkeit machte mich bald den paar führenden Männern der Stadt bekannt. Besonders Edwin M. Stanton, der spätere bedeutende Kriegsminister und »Lincolns rechte Hand,« schenkte in seiner Güte mir, dem kleinen Jungen, seine freundliche Beachtung. Mein Leben als Messenger Boy war in jeder Hinsicht glücklich. Damals schloß ich meine herzlichsten Freundschaften. Als der ältere Depeschenbote befördert wurde, trat an seine Stelle David McCargo, der spätere bekannte Direktor der Allegheny-Talbahn. Mit ihm zusammen hatte ich die Nachrichten von der Ostlinie zu bestellen, während die Westtelegramme von zwei anderen Jungen besorgt wurden. Damals waren die Ost- und West-Telegraphengesellschaften noch getrennt, obwohl sie in demselben Gebäude ihren Dienst hatten. »Davy« und ich wurden schnell enge Freunde. Schon daß er auch ein Schotte war, führte uns näher zusammen. Denn obwohl Davy in Amerika geboren war, war doch sein Vater noch ein ebenso guter Schotte wie der meine, sogar im Dialekt.

Kurz nach der Einstellung Davys brauchte man noch einen dritten Jungen und fragte mich, ob ich einen geeigneten ausfindig machen könnte. Das fiel mir nicht weiter schwer; ich nannte meinen Kameraden Robert Pitcairn, der später mein Nachfolger als Direktor und Geschäftsführer der Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft in Pittsburg wurde. Robert war, wie ich, nicht nur von schottischer Abstammung, sondern selbst in Schottland geboren. So wurden alle Telegramme der östlichen Telegraphenlinie in Pittsburg von Davy, Bob und Andy, den drei schottischen Jungen, für das unter den damaligen Verhältnissen fürstliche Gehalt von zweieinhalb Dollar wöchentlich bestellt. Zu den Obliegenheiten der Jungen gehörte es, jeden Morgen das Bureau zu reinigen. Wir taten das abwechselnd; man kann daraus sehen, daß wir alle von der Pike auf dienen mußten. Der sehr ehrenwerte H. W. Oliver, Chef der großen Fabrik von Gebrüder Oliver, und der nachmalige Stadtprokurator W. C. Morland kamen später hinzu und haben ebenso angefangen wie wir. Nicht die Söhne und die Vetternschaft der reichen Leute braucht ein junger Mann, der im Kampfe ums Dasein vorwärts kommen will, zu fürchten, sondern die Unscheinbaren, die als Außenseiter das Rennen gewinnen; und das sind oft gerade die, die mit dem Ausfegen der Bureauräume anfangen müssen.

Mancherlei Freuden gab es für einen Botenjungen. Da waren Obstgroßhandlungen, wo man mitunter eine ganze Tasche voll Äpfel als Lohn für ein pünktlich bestelltes Telegramm bekam; Bäcker- und Konditorläden, wo es zuweilen süßen Kuchen gab. Man traf auch manchmal einen freundlichen Herrn, zu dem man voll Achtung aufblickte; der sprach dann ein paar gütige Worte, lobte einen wegen seiner Gewissenhaftigkeit und bat etwa auch, auf dem Heimweg noch eine Bestellung für ihn im Bureau auszurichten. Es gibt kaum eine Stellung, in der ein Junge leichter die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken kann – und das ist alles, was ein wirklich tüchtiger Junge braucht, um im Leben weiterzukommen. Kluge Menschen sehen sich immer nach tüchtigen Jungens um.

Ein großer Anreiz im Leben der Telegraphenboten war die Sondergebühr von 10 Cent, die wir für die Bestellung von Telegrammen über eine gewisse Zone hinaus erheben durften. Auf diese »Groschenbestellungen« waren wir natürlich alle sehr erpicht, und oft genug stritten wir uns um das Recht, sie auszuführen. Manchmal wurde behauptet, daß hin und wieder ein Junge eine Groschenbestellung außer der Reihe gemacht habe. Aber das war auch die einzige Ursache ernsterer Mißhelligkeiten unter uns. Um solchen vorzubeugen, machte ich den Vorschlag, daß wir den Erlös solcher Bestellungen in eine gemeinsame Kasse zusammenschießen und die Summe am Ende der Woche gleichmäßig verteilen wollten. Ich wurde zum Schatzmeister ernannt, und von dem Tage an herrschten wieder Friede und gute Laune unter uns. Diese Ringbildung, die aber keineswegs eine künstliche Erhöhung der Preise bezweckte, kann man also wirklich als genossenschaftliche Arbeit ansprechen. Es war mein erster Versuch einer finanziellen Organisation.

Die Jungen waren der Meinung, daß sie ein gutes Recht hätten, ihren jedesmaligen Anteil gleich auszugeben, und die meisten hatten laufende Rechnungen bei dem benachbarten Konditor. Mitunter standen darauf weit höhere Beträge, als der Schuldner zahlen konnte. Infolgedessen mußte der Schatzmeister dem Konditor mitteilen – was er auch in angemessener Weise tat –, daß er nicht verantwortlich sei für die Schulden der allzu hungrigen oder naschhaften Jungen. Robert Pitcairn war der Schlimmste; er hatte augenscheinlich nicht nur ein Leckerzünglein, sondern ein ganzes Leckermäulchen. Als ich ihn eines Tages einmal ins Gebet nahm, erzählte er mir im Vertrauen, daß er in seinem Magen lebendige Dinger hätte, die seine Eingeweide anknabberten, wenn er sie nicht mit Süßigkeiten fütterte. –

Bei allem Vergnügen mußten wir Botenjungen aber doch auch tüchtig arbeiten. Jeden zweiten Abend war Dienst bis zum Schluß des Bureaus, und an solchen Abenden kam ich selten vor 11 Uhr nach Hause. An den dazwischenliegenden Tagen waren wir um 6 Uhr frei. Auf diese Weise blieb mir nicht viel Zeit für meine Fortbildung. Die Bedürfnisse der Familie ließen mir auch kein Geld für Bücher übrig. Da kam, wie eine Fügung vom Himmel, eine Hilfe, die mir die Schätze der Literatur erschloß.

Oberst James Anderson – Ehre seinem Andenken! – machte bekannt, daß er seine Bibliothek von 400 Bänden für die jungen Arbeiter zur Verfügung stellen wolle, so daß man sich jeden Sonnabendnachmittag ein Buch holen und es am folgenden Sonnabend gegen ein anderes umtauschen könne. Mein Freund Mr. Thomas N. Miller erinnerte mich vor kurzem daran, daß die Bücher des Obersten Anderson zuerst nur für »Arbeitsburschen« [ Working Boys] bestimmt waren, und daß es daher fraglich war, ob Botenjungen [ Messenger Boys], Bureauangestellte und andere, die nicht Handarbeiter waren, auch ein Recht auf die Bücher hätten. Meine erste Veröffentlichung in der Presse war eine Notiz im Pittsburgh Dispatch, in der ich dringend bat, uns nicht auszuschließen. Denn obwohl wir zwar gegenwärtig nicht Handarbeiter wären, gäbe es doch manchen unter uns, der es vorher gewesen wäre, und so seien wir wirklich »jugendliche Arbeiter«. Die Notiz war unterzeichnet Working Boy. Der Herausgeber antwortete in den Spalten des Dispatch und vertrat die Ansicht, daß »ein Arbeiter ein Handwerk betreiben müsse« (a Working Boy should have a Trade). Carnegies Erwiderung war unterschrieben »ein Arbeitsbursche ohne Handwerk« (a Working Boy, though without Trade) und ein paar Tage danach stand eine Notiz im redaktionellen Teil des Dispatch, die folgenden Wortlaut hatte: »Der ›Arbeitsbursche ohne Handwerk‹ wird gebeten, sich in der Expedition des Blattes zu melden.« (David Homer Bates im Century Magazine, Juli 1908.) [Van Dyke.] Der liebe Oberst Anderson erweiterte daraufhin umgehend seine Bestimmungen. So brachte mir mein erstes Auftreten als Publizist gleich einen Erfolg.

Mein lieber Freund Tom Miller, einer aus meinem engeren Kreise, wohnte in der Nähe des Obersten Anderson und stellte mich ihm vor. So wurden mir die Fenster meines Kerkers geöffnet, durch die nun das Licht der Bildung ungehindert Einlaß fand. Der arbeitsreiche Alltag wie die langen Stunden des Nachtdienstes wurden erhellt durch das Buch, das ich immer bei mir trug und in dem ich in jeder noch so kurzen Pause las, die ich während meiner Arbeit erübrigen konnte. Auch die Zukunft erschien mir hell und leuchtend, wenn ich daran dachte, daß ich am nächsten Sonnabend wieder einen neuen Band bekommen konnte. Auf diese Weise wurde ich vertraut mit Macaulays »Essays« und seinen geschichtlichen Werken sowie auch mit Bancrofts »Geschichte der Vereinigten Staaten«, die ich mit noch größerem Eifer als irgend ein anderes Buch, das ich bis dahin in der Hand gehabt hatte, studierte. Besondere Freude hatte ich an Lambs »Essays.« Von dem größten von allen aber, von Shakespeare, kannte ich mit Ausnahme der ausgewählten Stücke in den Schulbüchern zu jener Zeit noch nichts; mein Geschmack für ihn wurde erst etwas später in dem alten Pittsburger Theater geweckt.

John Phipps, James R. Wilson, Thomas N. Miller, William Cowley – alles Mitglieder unseres engeren Kreises – teilten mit mir den unschätzbaren Vorzug, Oberst Andersons Bibliothek benutzen zu dürfen. Bücher, die ich sonst unmöglich hätte erlangen können, wurden mir durch seine großmütige Einrichtung zugänglich. Ihm verdanke ich meine Liebe für die Literatur, die ich nicht für alle Schätze der Welt eintauschen möchte. Ohne sie wäre mir das Leben ganz unerträglich. Nichts hat so viel dazu beigetragen, meine Kameraden und mich vor schlechter Gesellschaft und üblen Gewohnheiten zu bewahren, wie die Wohltat des guten Obersten. In späteren Jahren, als das Glück mich begünstigt hatte, hielt ich es für eine meiner ersten Pflichten, diesem meinem Wohltäter ein Denkmal zu setzen. Es steht auf dem Diamond Square, gegenüber der Halle und Bibliothek, die ich der Stadt Allegheny gestiftet habe, und trägt folgende Inschrift:

Dem Oberst James Anderson, dem Begründer der Frei-Bibliotheken in Westpennsylvanien. Er stellte seine Bücherei an jedem Sonnabend Nachmittag den jungen Arbeitern zur Verfügung und widmete nicht nur seine Bücher, sondern auch sich selbst diesem Liebeswerk, indem er selbst als Bibliothekar tätig war. Dieses Denkmal errichtete ihm in dankbarer Erinnerung Andrew Carnegie, einer der jungen Arbeiter, denen auf diese Weise die köstlichen Schätze der Wissenschaft und Dichtung zugänglich wurden, die allein der Jugend den Aufstieg ermöglichen.

Dies ist nur ein geringer Tribut und kann nicht im entferntesten dem Grad meiner Dankbarkeit für das Ausdruck geben, was Anderson an mir und meinen Kameraden getan hat. So bin ich durch eigene frühzeitige Erfahrung zu meiner späteren Überzeugung gelangt: man kann zum Wohle von Jungen und Mädchen, die gut veranlagt sind und die Fähigkeit und den Trieb besitzen, sich weiter zu entwickeln, nicht zweckmäßiger sein Geld anwenden, als dadurch, daß man öffentliche Bibliotheken gründet und sie Gemeinden zum Geschenk macht, die sie als öffentliche Einrichtung zu pflegen bereit sind. Ich bin der festen Meinung, daß die Zukunft der von mir gegründeten Bibliotheken den Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht erbringen wird. Denn wenn in jedem Bibliotheksbezirk nur ein Junge durch die Möglichkeit, solch eine Bibliothek zu benutzen, halb so viel gefördert wird, wie ich durch die 400 abgegriffenen Bücher des Obersten Anderson, dann ist sie nicht vergebens gegründet. Die Schätze der Welt, die in den Büchern verborgen liegen, wurden mir gerade zur rechten Zeit zugänglich. Der größte Nutzen einer Bibliothek ist der, daß man die Schätze, die sie verschenkt, nicht ohne eigene Mühe gewinnt. Junge Menschen müssen sich ihre Kenntnisse selbst erringen. Das bleibt keinem erspart.

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme.« Mit einem Gefühl tiefster Befriedigung habe ich viele Jahre später entdeckt, daß mein Vater einer der fünf Weber von Dunfermline gewesen ist, die ihre paar Bücher zusammensuchten und damit die erste Leihbibliothek der Stadt gründeten. Die Geschichte dieser Bibliothek ist interessant. Sie wuchs und wurde nicht weniger als siebenmal verlegt, das erstemal von den Gründern selbst, die die Bücher in ihren Schürzen und in zwei Kohlenkästen von der Handwebwerkstatt nach dem neuen Standort brachten. Es ist einer der interessantesten Umstände meines Lebens, daß mein Vater Mitbegründer der ersten Bibliothek seiner Heimatstadt war, und daß ich das Glück hatte, die letzte gründen zu dürfen. Ich ahmte das Beispiel meines Vaters als Gründer einer Bücherei ganz unbewußt nach – fast möchte ich sagen, durch eine Fügung der Vorsehung –, und das ist mir immer eine Quelle höchster Genugtuung gewesen. Ein Vater wie der meine konnte schon als Beispiel dienen; er war eine der besten, reinsten und gütigsten Naturen, die ich je kennengelernt habe.

Ich erwähnte schon, daß meine Liebe zu Shakespeare erst durch das Theater geweckt worden ist. Als ich Depeschenbote war, stand das Pittsburger Theater unter der Leitung des Mr. Foster in hoher Blüte. Seine Telegramme wurden kostenfrei ausgeführt und dafür bekamen die Telegraphisten Freikarten zum Theater. Diese Bevorzugung übertrug sich in gewissem Maße auch auf die Boten; sie hielten, fürchte ich, manchmal Telegramme am späten Nachmittag noch ein wenig zurück, um sie erst am Abend am Eingang zum Theater abliefern zu können mit der schüchternen Bitte, ob der Bote nicht auf den zweiten Rang hineinschlüpfen dürfe; eine Bitte, die auch immer gewährt wurde. Die Jungen wechselten sich deshalb im Dienst ab, um abwechselnd den sehnsüchtig begehrten Eintritt zum Theater zu bekommen.

Auf diese Weise lernte ich die Welt hinter dem grünen Vorhang kennen. Man gab gewöhnlich Schauspiele, die nicht gerade von literarischer Bedeutung, aber doch geeignet waren, die Augen eines fünfzehnjährigen Jungen zu entzücken. Ich hatte so etwas noch nie zu sehen bekommen. Ich war noch nie in einem Theater oder Konzertsaal gewesen, hatte auch noch keine Art öffentlicher Lustbarkeit miterlebt. Ebenso ging es »Davy« McCargo, »Harry« Oliver und »Bob« Pitcairn. Wir alle unterlagen dem Zauber des Rampenlichtes und begrüßten mit ungeheurem Jubel jede Gelegenheit zu einem Theaterbesuch.

Mein Geschmack änderte sich dann, als »Gust« Adams (Edwin Adams), einer der berühmtesten Tragöden seiner Zeit, in Pittsburg einen Zyklus Shakespearescher Charakterrollen zu spielen begann. Von dieser Zeit ab gab es für mich nur noch Shakespeare. Ich lernte seine Werke fast mühelos auswendig. Nie zuvor hatte ich bemerkt, welcher Zauber in Worten liegen kann, Rhythmus und Melodie gingen förmlich in meiner Seele auf und setzten sich da in fester Form ab, stets bereit, bei dem geringsten Anlaß hervorzuquellen. Es mutete mich wie eine ganz neue Sprache an. Mein Verständnis dafür verdanke ich bestimmt dem Theater, denn bevor ich eine Vorstellung von »Macbeth« sah, hatte ich für Shakespeare eigentlich noch gar kein Interesse, noch nicht einmal seine Stücke gelesen.

Viel später erst offenbarte sich mir der Geist Wagners im »Lohengrin«. Ich hatte noch wenig oder nichts von ihm gehört, als mich in der Akademie für Musik in Neuyork die Ouvertüre zum »Lohengrin« erschütterte wie eine neue Offenbarung. Ja, hier war ein Genie, das all seine Vorgänger bei weitem überragte, ein neuer Weg zum Aufstieg – und, wie Shakespeare, ein neuer Freund.

Ich muß hier noch etwas anderes aus jener Zeit erwähnen. Eine Anzahl von Personen, wohl kaum mehr als hundert, hatten in Allegheny eine Swedenborgianische Vgl. S. 15, Anm. 1. Gemeinschaft begründet, in der unsere amerikanischen Verwandten an hervorragender Stelle standen. Auch mein Vater besuchte nach seinem Austritt aus der presbyterianischen Kirche die Gottesdienste dieser Leute und nahm mich natürlich dahin mit. Meine Mutter hatte indessen kein Interesse für Swedenborg. Obwohl sie uns immer zur Achtung gegen alle Formen religiösen Glaubens anhielt, beobachtete sie doch für ihre eigene Person eine auffallende Zurückhaltung. Ihr Standpunkt läßt sich am besten durch den bekannten Ausspruch des Konfuzius charakterisieren: »Höchstes Gebot der Weisheit ist es, die Pflichten dieses Lebens treu zu erfüllen, ohne sich über das andere Gedanken zu machen.« Sie hielt ihre beiden Jungen zum Besuch der Kirche und der Sonntagsschule an; aber man konnte leicht sehen, daß die Schriften Swedenborgs und auch manches im Alten und Neuen Testament ihr nicht als göttlichen Ursprungs und maßgebende Berater zur Lebensführung erschienen. Ich fühlte ein lebhaftes Interesse für die geheimnisvollen Lehren Swedenborgs und wurde von meiner frommen Tante Aitken beglückwünscht zu meiner Fähigkeit, den geistlichen Sinn der Heiligen Schrift auszulegen. Die gute alte Frau sah im Geiste voller Freude eine Zeit kommen, wo ich eine Leuchte des »Neuen Jerusalem« Swedenborg hatte die neue Gemeinschaft nach Apokalypse 212 die »Kirche des Neuen Jerusalem« genannt. sein würde, und manchmal verstieg sich ihre Hoffnung gar zu dem Gedanken, daß ich mich zu dem entwickeln würde, was sie einen »Prediger des Wortes« nannte.

Diese Hoffnungen schwanden freilich, als ich mich mehr und mehr von aller von Menschen geschaffenen Theologie abwandte, aber das Interesse und die Liebe meiner Tante für ihren ersten Neffen, den sie in Schottland auf ihren Knien gehätschelt hatte, sind trotzdem gleich geblieben. Hingegen mein Vetter Leander Morris, den sie auch durch die Swedenborgsche Offenbarung zu retten hoffte, enttäuschte sie schwer, als er Baptist wurde und sich wiedertaufen ließ. Das war für die Evangelistin zu viel, obwohl sie daran hätte denken sollen, daß ihr Vater denselben Werdegang durchgemacht und oft genug in Edinburg in der Baptistengemeinde gepredigt hatte. Der Empfang, den sie Leander bei seinem ersten Besuch nach diesem Ereignis bereitete, war nichts weniger als herzlich. Er bekam zu hören, daß der Ruf der Familie unter seinem Abfall leide, um so mehr, als er schon so dicht vor den Toren des Neuen Jerusalem gestanden hatte, das ihm eine der treuesten Anhängerinnen Swedenborgs zugänglich gemacht hätte – sie, unsere Tante. Er versuchte sich zu verteidigen: »Warum bist du so böse auf mich, Tante? Sieh dir doch Andy an; mit dem schiltst du nicht, obwohl er überhaupt keiner Kirche angehört. Da ist schließlich die baptistische doch besser als gar keine!« Aber wie aus der Pistole geschossen kam die Antwort: »Andy! Ja! Andy, der geht nackt; aber du läufst in Lumpen gehüllt herum!« Er kam nie wieder ganz in das alte herzliche Verhältnis zu der guten Tante Aitken. Da ich nicht an eine Kirche gebunden war, sah sie immer noch einige Hoffnung, mich schließlich doch noch zu bekehren. Aber Leander hatte sich für eine andere Kirche entschieden, die nicht die des Neuen Jerusalem war.

Durch den Zusammenhang mit der Swedenborgianischen Gemeinschaft habe ich zuerst Geschmack an der Musik gefunden. Ein Anhang zu ihrem Gesangbuch bestand aus kurzen Auszügen aus den Oratorien. Instinktiv hielt ich mich an diese und nahm mit größter Regelmäßigkeit an den Chorübungen teil. Stimmbegabt war ich zwar durchaus nicht, aber ich ersetzte das durch viel »Ausdruck«. Ich glaube, der Dirigent Mr. Koethen hat mir oft meine Mißtöne meinem begeisterten Eifer zuliebe verzeihen müssen. Als ich in späteren Jahren die Oratorien vollständig kennen lernte, machte es nur die größte Freude, zu sehen, daß diejenigen Händelschen Kompositionen, die mir als unwissendem Jungen am besten gefallen hatten, auch in musikalischen Kreisen als seine Meisterwerke galten. So gehen die Anfänge meiner musikalischen Bildung auf den kleinen Chor der Swedenborgianischen Gemeinschaft von Pittsburg zurück.

Ich darf aber doch auch nicht vergessen, daß schon die unvergleichlich schönen Volkslieder meiner Heimat, die mein Vater sang, mir eine gute Grundlage für die weitere Entwicklung meiner Liebe zur Musik gegeben hatten. Es gab wohl kaum ein altes schottisches Lied, dessen Text und Melodie ich nicht genau kannte. Volkslieder sind die denkbar beste Grundlage für ein sicheres Aufsteigen zu der Höhe Beethovens und Wagners. Mein Vater war einer der besten und gefühlvollsten Sänger, die ich je gehört habe; von ihm habe ich zwar nicht seine schöne Stimme, aber doch sicher die Liebe zur Musik und zum Gesang geerbt. Oft denke ich an den Ausruf des Konfuzius: »Musik! O du heilige Zunge Gottes! Ich höre deinen Ruf und ich folge ihm.« –

Ein Ereignis, das in diese Zeit fällt, zeigt, wie frei meine Eltern über eine andere Frage dachten. Als Depeschenbote hatte ich keine freien Tage; nur im Sommer bekam ich 14 Tage Urlaub, die ich mit meinen Vettern bei meinem Onkel in East Liverpool, Ohio, verlebte, wo wir viel auf dem Fluß ruderten. Aber ich lief auch leidenschaftlich gern Schlittschuh, und in dem Winter, von dem ich erzähle, war das stille Wasser des Flusses gegenüber unserem Hause herrlich fest gefroren und das Eis war in glänzendem Zustande. Als ich eines Sonnabends spät am Abend nach Hause kam, wagte ich die Frage, ob ich am Sonntag ganz früh aufstehen und vor Beginn des Gottesdienstes laufen dürfte. Dem Durchschnitt schottischer Eltern hätte keine heiklere Frage vorgelegt werden können. Meine Mutter aber war sich durchaus klar, daß ich unter den gegebenen Verhältnissen so lange Schlittschuh laufen dürfe, wie ich wolle. Und auch mein Vater sagte, er hielte es nicht für unrecht, aber er hoffe, ich würde rechtzeitig wieder zurück sein, um mit ihm zusammen zur Kirche zu gehen.

Heutzutage würden wohl 999 von 1000 Eltern in Amerika diese Ansicht teilen, und wahrscheinlich auch die meisten in England, weniger allerdings in Schottland. Aber die heutigen Vertreter der Ansicht, daß der Sonntag für die Menschen da ist, daß an diesem Tage Bildergalerien und Museen für das Publikum offen stehen sollen, daß der Sonntag für die Menschen, statt ihnen die Pflicht aufzuerlegen, über ihre vielfach nur in der Einbildung vorhandenen Sünden zu trauern, vielmehr ein richtiger Festtag sein soll – sie sind durchaus nicht fortschrittlicher, als es meine Eltern schon vor 40 Jahren waren. Diese standen hoch über den Strenggläubigen ihrer Zeit, die es, wenigstens in Schottland, für die größte Sünde hielten, am Sonntag zum Vergnügen einen Spaziergang zu machen oder gar ein weltliches Buch zu lesen.


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