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Kapitel 5.
Im Eisenbahndienst. Zunehmende Selbständigkeit.

Aus dem engen Telegraphenbureau trat ich nun mit einem Schritt hinaus in die freie Welt. Zuerst war diese Veränderung keineswegs angenehm. Ich war gerade 18 Jahre alt, und noch heute glaube ich, daß keiner in diesem Alter weniger mit unreinen und schlechten Dingen in Berührung gekommen sein kann, als ich es bis dahin war. Ich glaube kaum, daß ich bis dahin je ein Schimpfwort ausgesprochen hatte, und nur selten hatte ich eins gehört. Niedrigkeit und Gemeinheit kannte ich nicht. Ich hatte das große Glück, daß ich immer nur mit guten Menschen zu tun gehabt hatte.

Und nun kam ich auf einmal in die Gesellschaft roher, ungebildeter Leute. Denn fürs erste war das Bureau, in dem Direktor Scott und ich arbeiteten, nur ein Teil der Werkstätten und diente zugleich als Aufenthaltsort der Frachtzugführer, Bremser und Heizer, die alle Zutritt zu diesem Raum hatten und ihn viel benutzten. Das war wirklich eine ganz andere Welt als die, in der ich bis dahin gelebt hatte. Ich war wenig davon erbaut. Zum ersten Male aß ich notgedrungen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Freilich hatte ich ja immer noch die milde und reine Atmosphäre meines Elternhauses, wo nichts Rohes oder Schlechtes Eingang fand, und auch die Welt, in der ich mit meinen Freunden lebte, die alle eine gute Bildung besaßen und sich bestrebten, Fortschritte zu machen und geachtete Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden. Ich durchlief diese Phase meines Lebens mit tiefer Verachtung gegen alles, was meiner Natur und meiner Jugenderziehung fremd war. Ein Wechsel in jenen Zuständen trat erst ein, als Mr. Scott sein eigenes Bureau bekam, in dem er und ich dann allein arbeiteten. Die Berührung mit jenen rohen Gesellen ist aber vielleicht ganz gut für mich gewesen, denn sie flößten mir einen wahren Ekel gegen alle groben Ausdrücke ein, gegen Tabakkauen und Rauchen, gegen Fluchen und unsaubere Redensarten, und diesen Abscheu habe ich glücklicherweise mein Leben lang behalten. Ich will übrigens nicht gerade sagen, daß jene Leute wirklich verkommene oder schlechte Menschen gewesen wären. Damals war die Gewohnheit zu fluchen, zu schimpfen, Tabak zu kauen, zu rauchen oder auch zu schnupfen weiter verbreitet und hatte weniger zu sagen als heute. Die Eisenbahnen waren etwas ganz Neues, und manchen groben Kerl von Flußmatrosen zog das an. Übrigens waren doch auch viel nette junge Leute darunter, die sehr geachtete Männer geworden sind und verantwortungsvolle Posten bekleidet haben. Und ich muß sagen, daß sie alle zu mir recht freundlich waren. Gelegentlich höre ich noch von diesem oder jenem von ihnen und ich denke an sie mit Sympathie zurück.

Bald schickte mich Mr. Scott nach Altoona, um die monatlichen Löhnungslisten und Schecks abzuholen. Die Bahn über das Alleghaniegebirge war damals noch nicht fertig. So mußte ich durch das hügelige Vorland reisen, was mir die Fahrt äußerst interessant machte. Ganz Altoona bestand damals nur aus den paar Häusern, die die Gesellschaft gebaut hatte. Die Werkstätten waren noch im Bau, und von der Großstadt von heute war noch nichts zu sehen. Dort begegnete ich zum erstenmal dem größten Mann unseres Faches, dem Generaldirektor Mr. Lombaert. Sein Sekretär war damals mein Freund Robert Pitcairn, dem ich bei der Bahn eine Stellung besorgt hatte, so daß »Davy«, »Bob« und »Andy« wieder zusammen arbeiteten. Wir waren alle drei von der Telegraphengesellschaft zur Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft übergegangen.

Mr. Lombaert war ganz anders als Mr. Scott; er war nicht umgänglich, sondern eher streng und verschlossen. Man denke sich also Roberts und meine Überraschung, als er nach ein paar Worten gleich sagte: »Sie kommen doch heute abend zu einer Tasse Tee zu uns!« Ich stotterte irgendein Wort des Dankes und erwartete mit starker Bangigkeit die verabredete Stunde. Ich faßte diese Einladung als die größte Ehre auf, die mir je ein Mensch erwiesen hatte. Frau Lombaert war außerordentlich freundlich und ihr Mann stellte mich ihr mit den Worten vor: »Hier hast du Mr. Scotts Andy.« Ich war sehr stolz, daß man mich als zu Mr. Scott gehörig ansah.

Auf dieser Reise erlebte ich etwas, was meine Laufbahn leicht für einige Zeit hätte vernichten können. Ich fuhr am nächsten Tage mit meinen Löhnungslisten und den Schecks nach Pittsburg zurück. Da das Paket für meine Tasche zu groß war, glaubte ich es am sichersten unter meiner Weste zu tragen. Ich schwärmte damals sehr für das Eisenbahnfahren und fuhr am liebsten auf der Lokomotive. Ich stieg also auf eine Maschine. Es war eine wilde Fahrt. Plötzlich hatte ich ein unbehagliches Gefühl; ich griff nach meinem Paket und entdeckte zu meinem Entsetzen, daß es wahrscheinlich bei dem Schütteln der Maschine herausgerutscht war. Jedenfalls war es weg!

Ich durfte mir nicht verhehlen, daß dieser Vorfall mir den Hals brechen konnte. Es mußte doch einen vernichtenden Eindruck machen, wenn ich die Löhnungslisten und Schecks verlor, deren Abholung ein besonderer Vertrauensauftrag war und die ich wie meine Ehre hatte hüten müssen. Ich rief dem Maschinisten zu, daß das Paket auf den letzten paar Meilen der Strecke herausgefallen sein müßte; ob er wohl noch einmal zurückfahren wollte? Die gute Seele tat das wirklich. Ich paßte das Gleis entlang auf und sah mein Paket unmittelbar am Ufer eines breiten Flusses, nur wenige Fuß vom Wasser entfernt, liegen. Kaum traute ich meinen Augen. Ich sprang hinunter und hob es auf. Es war unversehrt. Bedarf es einer besonderen Versicherung, daß ich es nun fest in der Hand hielt, bis ich es sicher in Pittsburg abgeliefert hatte? Der Maschinist und der Heizer waren die einzigen, die von meiner Nachlässigkeit etwas wußten; sie versprachen mir, nichts davon verlauten zu lassen. Erst viel später wagte ich es, selbst die Geschichte zu erzählen. Wenn das Päckchen nur ein paar Fuß weiter hinübergefallen und vom Strom fortgespült worden wäre, dann hätte es jahrelanger gewissenhafter Arbeit bedurft, um die Wirkung dieser einen Fahrlässigkeit wieder gutzumachen. Ich hätte das Vertrauen derjenigen verloren, deren Vertrauen ich für mein Weiterkommen unbedingt brauchte, wenn mir das Glück nicht auch in diesem Falle hold gewesen wäre. Ich glaube, ich bin später nie zu streng mit einem jungen Mann verfahren, selbst wenn er einen oder zwei grobe Fehler machte. Wenn mir solche Fälle vorlagen, dachte ich immer, wie anders meine eigene Laufbahn sich gestaltet hätte, wenn ich nicht durch einen glücklichen Zufall das verlorene Paketchen am Ufer des Flusses einige Meilen von Hollidaysburg wiedergefunden hätte. Ich würde die Stelle noch heute sofort wiederfinden; und so oft ich später diese Strecke entlangfuhr, sah ich immer wieder das hellbraune Päckchen am Ufer liegen; es war, als riefe es mir zu: »Ja, ja, mein Junge! Diesmal ist es noch gut abgelaufen; aber tu' so etwas nicht wieder!« –

Ich war schon frühzeitig ein eifriger Gegner der Sklaverei und begrüßte mit heller Begeisterung die erste Versammlung der Republikanischen Partei des ganzen Landes in Pittsburg am 22. Februar 1856, obwohl ich selbst noch nicht stimmfähig war. Ich wartete auf der Straße auf die hervorragenden Männer und bewunderte glühend die Senatoren Wilson, Hale und andere. Kurz zuvor hatte ich unter den Eisenbahnbeamten einen Klub von etwa 100 Mitgliedern für die New York Weekly Tribune gegründet. Auch sandte ich gelegentlich kurze Berichte an deren Chefredakteur Horace Greeley, der so viel tat, um die Bevölkerung aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber jener Lebensfrage aufzurütteln. Es war ein großer Tag in meinem Leben, als ich mich zum erstenmal gedruckt sah in dem Blatt, das damals leidenschaftlich für die Freiheit eintrat. Ich habe diese Nummer der Tribune jahrelang aufgehoben.

Rückblickend beklage ich es noch heute, daß unser Land nur um einen so hohen Preis wie den Bürgerkrieg von dem Fluche der Sklaverei befreit werden konnte. Aber es handelte sich nicht nur um deren Abschaffung. Die lockere Bundesverfassung mit so ausgedehnten Rechten der einzelnen Staaten hätte sicher die Bildung einer festen und kraftvollen Zentralregierung verhindert oder doch wenigstens noch auf lange Zeit hinausgeschoben. Die Tendenz der Südstaaten war zentrifugal. Heute ist die Stimmung zentripetal: alles konzentriert sich um die Herrschaft des Supreme Court Der oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten., dessen Entscheidungen recht eigentlich halb Rechtssprüche und halb politischen Charakters sind. Einheitlichkeit ist auf vielen Gebieten unbedingt erforderlich. Eheschließung und -scheidung, Bankrott, die Aufsicht über das Eisenbahnwesen, die Kontrolle über die Handelsgesellschaften, dazu noch manches andere bedurften bis zu einem gewissen Grade einer einheitlichen Verwaltung. (Bei der Durchsicht dieses vor vielen Jahren geschriebenen Abschnittes im Juli 1907 kommt er mir fast wie eine Prophezeiung vor; denn gerade jetzt sind diese Fragen brennend geworden.) –

Um jene Zeit baute die Eisenbahngesellschaft ihre eigene Telegraphenlinie. Wir sollten Beamte dafür stellen. Die meisten wurden in unserem Amt in Pittsburg ausgebildet. Der Telegraphenbetrieb nahm mit verblüffender Schnelligkeit zu. Immer wieder wurde die Einrichtung neuer Ämter verlangt. Meinen ehemaligen Kollegen als Depeschenbote, »Davy« McCargo, machte ich am 11. März 1859 zum Direktor der Telegraphenabteilung. »Davy« und ich können den Ruhm beanspruchen, daß wir die ersten gewesen sind, die junge Mädchen bei der Bahntelegraphie in Amerika einstellten, vielleicht sogar überhaupt die ersten, die in irgendeinem Berufszweig Damen beschäftigten. Wir brachten auf verschiedenen Ämtern junge Mädchen als Schülerinnen unter, bildeten sie aus und verteilten sie dann nach Bedarf auf die Dienststellen. Eine der ersten war meine Kusine Miß Maria Hogan. Sie war Telegraphistin auf dem Güterbahnhof in Pittsburg. Ihr Bureau wurde allmählich zu einer Ausbildungsstation für junge Mädchen umgestaltet. Wir machten die Erfahrung, daß wir uns im Telegraphendienst auf die jungen Mädchen mehr verlassen konnten als auf die jungen Männer. Von all den Berufen, in denen Frauen jetzt arbeiten, weiß ich keinen, der für sie besser paßte, als den einer Telegraphistin.

Mr. Scott war der wohlwollendste Vorgesetzte, den man sich denken konnte. Ich schloß mich bald recht eng an ihn an. Er war für mich der »große Mann«, und alle Heldenverehrung, die ein junger Mensch in sich trägt, konzentrierte sich bei mir auf ihn. In meinen Gedanken und Wünschen sah ich ihn schon als Präsidenten der großen Pennsylvaniabahn – eine Stellung, die er späterhin wirklich einnahm. Unter seiner Leitung habe ich nach und nach immer mehr Dienstleistungen verrichtet, die eigentlich nicht unmittelbar zu meinem Ressort gehörten.

Mein entscheidendes Avancement im Dienste kann ich hauptsächlich auf ein Ereignis zurückführen, das ich noch gut in der Erinnerung habe. Die Bahn hatte nur ein Gleis. So mußten oft telegraphische Anweisungen an die Züge gegeben werden, wenn es auch damals noch nicht die Regel war, die Züge telegraphisch zu melden. Soviel ich weiß, durfte damals nur der Direktor selbst solche Zugbefehle geben. Diese telegraphischen Befehle waren ein nicht ungefährlicher Notbehelf, da das ganze Eisenbahnwesen noch in den Anfängen stand und das Personal noch nicht recht geschult war. Mr. Scott mußte fast jede Nacht hinaus, weil Verkehrsstörungen oder Zugentgleisungen eingetreten waren und das Freimachen der Strecke zu überwachen war. Infolgedessen war er auch oft des Morgens nicht auf dem Bureau.

Als ich eines Morgens zum Dienst kam, erfuhr ich, daß ein schwerer Unfall auf der östlichen Linie eine Verspätung des nach Westen fahrenden Expreßzuges verursacht hatte und daß der nach Osten fahrende Personenzug nur mit Hilfe eines Signalwärters vorwärts kam, der an jeder Kurve Flaggenzeichen gab. Die Güterzüge nach beiden Richtungen lagen schon sämtlich auf den Seitengleisen fest. Mr. Scott war nirgends zu finden. Schließlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, einzugreifen, unter eigener Verantwortung telegraphische Anweisungen abgehen zu lassen und so die Sache wieder in Gang zu bringen. »Tod oder Westminster-Abtei!« fuhr es mir durch den Sinn. Ich wußte genau, daß mich Entlassung, Ungnade, vielleicht sogar gerichtliche Bestrafung erwartete, wenn ich einen Fehler machte. Aber andererseits konnte ich das ermüdete Güterzugpersonal nach Hause bringen, das die ganze Nacht draußen gewesen war. Ich konnte den ganzen Mechanismus wieder in Bewegung setzen. Ich wußte genau, daß ich es konnte. Oft genug hatte ich es schon getan, wenn ich Mr. Scotts Anordnungen telegraphisch weitergegeben hatte. Ich wußte, was in diesem Falle zu tun war, und so fing ich an. Ich erließ die Anordnungen in seinem Namen, ließ die Züge abfahren, saß am Apparat und achtete auf jedes Ticken, leitete die Züge weiter von einer Station zur anderen, traf besondere Vorsichtsmaßregeln und hatte alles wieder in schönste Ordnung gebracht, als Mr. Scott endlich zum Dienst kam. Er hatte schon von der Verkehrsstörung gehört. Seine ersten Worte waren: »Nun, wie stehen die Dinge?« Er trat schnell an meine Seite, griff nach Bleistift und Papier und begann seine Befehle niederzuschreiben. Nun mußte ich reden und fing schüchtern an: »Mr. Scott, ich konnte Sie nirgends finden und habe daher in aller Frühe diese Befehle hier in Ihrem Namen herausgehen lassen.« – »Ist alles wieder in Ordnung? Wo ist der Ostexpreß?« Ich zeigte ihm die Telegramme und erklärte ihm, wo jeder Zug (Güterzüge, Schotterzüge für den Bau usw.) auf der Strecke sich befand, zeigte ihm auch die Antworten der verschiedenen Zugführer und die letzten Berichte von den Bahnhöfen, die die Züge berührt hatten. Alles war in Ordnung. Einen Augenblick lang sah er mich an. Ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. Was nun geschehen würde, wußte ich nicht. Er sprach kein Wort, sondern sah nur noch einmal genau alles durch, was geschehen war. Noch immer sagte er nichts. Nach einem Weilchen ging er von meinem Tisch nach dem seinigen hinüber, und damit war die Sache erledigt. Er wollte mein Verhalten offenbar nicht gutheißen, aber er hatte mich doch wenigstens nicht getadelt. Wenn die Sache gut ablief, war es recht; wenn sie schief ging, trug ich die Verantwortung. So lagen die Dinge; aber es fiel mir auf, daß er an den folgenden Tagen sehr regelmäßig und besonders früh am Morgen zum Dienst kam.

Natürlich sprach ich mit niemand über die Sache. Keiner von dem gesamten Zugpersonal wußte, daß die Anordnungen nicht direkt von Mr. Scott gekommen waren. Ich war schon fest entschlossen, im Wiederholungsfalle nicht wieder so zu handeln, wenn ich nicht ausdrücklich dazu ermächtigt würde, und war schon ganz verzweifelt über das, was ich da getan hatte, als ich von Mr. Franciscus, dem damaligen Leiter der Güterabteilung in Pittsburg, erfuhr, daß Mr. Scott am Abend nach jenem denkwürdigen Morgen zu ihm gesagt hatte: »Wissen Sie, was mein kleiner blonder schottischer Teufelskerl da gemacht hat?« – »Nein.« – »Er hat doch wirklich und wahrhaftig in meinem Namen den gesamten Zugverkehr wieder in Ordnung gebracht, ohne daß ich ihn auch nur mit einem Wort dazu ermächtigt hätte.« – »Und hat er seine Sache gut gemacht?« fragte Franciscus. – »O ja, sehr gut sogar.« Das war mir genug. Ich wußte nun natürlich, was ich bei der nächsten Gelegenheit zu tun hatte, und nahm es beherzt auf mich. Von da an kam es nur noch selten vor, daß Mr. Scott eine Zugorder selbst gab. –

Der bedeutendste Mann von allen, die damals in meinen Gesichtskreis traten, war John Edgar Thomson, der Präsident der Pennsylvania-Eisenbahn, nach dem später unser Stahlwerk genannt wurde. Er war der zurückhaltendste und schweigsamste Mann, den ich je gesehen habe, mit Ausnahme von General Grant, der aber doch im Freundeskreise mehr aus sich herausging. Bei seinen regelmäßigen Besuchen in Pittsburg ging Mr. Thomson durch die Straßen, als ob er keinen Menschen sähe. Später erfuhr ich, daß diese Zurückhaltung eigentlich eine Folge seiner großen Schüchternheit war. Ich war sehr überrascht, als er eines Tages in Mr. Scotts Bureau trat und mich an meinem Apparat als »Scotts Andy« begrüßte. Später kam ich dahinter, daß er von meiner Heldentat bei der Verkehrsstockung gehört hatte. Der Kampf ums Dasein ist schon halb gewonnen für einen jungen Mann, der direkt mit hochstehenden Persönlichkeiten in Berührung kommt; jeder Junge sollte den Ehrgeiz haben, etwas zu tun, was über seine Pflicht hinausgeht und womit er die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich lenkt.

Einige Zeit darauf wollte Mr. Scott auf ein bis zwei Wochen verreisen und erbat von Mr. Lombaert die Genehmigung, mich mit seiner Vertretung bei der Abteilung zu betrauen. Das war ein recht gewagter Versuch, denn ich war damals kaum 20 Jahre alt. Das Gesuch wurde genehmigt. Nun hatte ich die ersehnte Gelegenheit zum weiteren Aufstieg im Leben. Bis auf einen einzigen Unfall, der durch die unentschuldbare Fahrlässigkeit des Personals eines Güterzuges verursacht wurde, ging alles gut. Aber daß dieser Unfall überhaupt vorkommen konnte, trieb mir die Galle ins Blut. Entschlossen, meine Pflicht auf dem Posten in jeder Beziehung zu erfüllen, hielt ich ein großes Strafgericht. Ich verhörte die Beteiligten, entließ kurz entschlossen den Hauptschuldigen und suspendierte zwei andere vom Dienst wegen ihrer Mitschuld an dem Unfall. Mr. Scott wurde natürlich nach seiner Rückkehr von dem Zwischenfall in Kenntnis gesetzt und äußerte die Absicht, eine Untersuchung einzuleiten und dann eine Verhandlung zu führen. Ich merkte, daß ich zu weit gegangen war. Aber da der Schritt nun einmal getan war, teilte ich Mr. Scott mit, daß die Sache schon geregelt sei; ich hätte bereits die Sache untersucht und die Schuldigen bestraft. Einige von diesen wandten sich an Mr. Scott mit der Bitte um Wiederaufnahme des Verfahrens. Aber dazu hätte ich nie, selbst wenn sie noch so sehr gebeten hätten, meine Einwilligung gegeben. Mr. Scott erriet meine Gedanken über diesen heiklen Punkt mehr aus meinen Blicken als aus meinen Worten und ließ die Sache ruhen.

Er befürchtete wohl, daß ich zu streng vorgegangen war, und höchstwahrscheinlich hatte er damit recht. Als ich in späteren Jahren selbst Direktor der Abteilung war, hatte ich immer noch ein gewisses Schuldgefühl gegenüber den Leuten, die ich damals suspendiert hatte. Ich empfand doch Gewissensbisse über mein Auftreten bei dieser meiner ersten Gerichtshandlung. Jeder neue Richter neigt dazu, möglichst stramm zu sein, anstatt ein wenig einzulenken. Erst die Erfahrung lehrt, welche ungeheure Kraft im milden Urteil liegt. Leichte, aber konsequent durchgeführte Bestrafung am passenden Ort ist von größter Wirkung. Strenge Strafen sind nicht nötig, und oft ist ein richterlicher Freispruch, wenigstens beim ersten Vergehen, das beste. –

Als sich der Interessenkreis unseres aus einem halben Dutzend bestehenden engeren Freundschaftsbundes erweiterte, war es natürlich unausbleiblich, daß auch Fragen wie Leben und Tod, Diesseits und Jenseits unsere Gedanken beschäftigten und zu ernsthaften Kämpfen führten. Wir waren alle von trefflichen Eltern erzogen worden, die etwas auf sich gaben und sämtlich der einen oder anderen religiösen Gemeinschaft angehörten. Durch den Einfluß von Mrs. McMillan, der Gattin eines der ersten presbyterianischen Geistlichen in Pittsburg, kamen wir in Verkehr mit dessen Kreise. Mr. McMillan war ein guter, frommer Calvinist aus der alten Schule; seine reizende Frau war zur Leiterin der Jugend wie geschaffen. Bei ihr fühlten wir uns immer so recht heimisch und hatten an den Zusammenkünften in ihrem Hause mehr Freude als irgendwo anders. Dadurch kam es, daß einige von uns gelegentlich auch den Gottesdienst in ihrer Kirche besuchten.

Eine ganz orthodoxe Predigt über die Prädestination, die Miller dort hörte, wurde für uns die Veranlassung zu theologischen Gesprächen, die zu keiner Einigung führten. Millers Angehörige waren entschiedene Methodisten Religionsgesellschaft, die das Christentum verinnerlichen und praktisch fruchtbar machen will und auf das Dogma weniger Gewicht legt., und Tom wußte nur wenig von den Dogmen. Das Dogma der Prädestination, dem gemäß Gott das Schicksal jedes Menschen von vornherein derart festgesetzt hat, daß selbst schon von den Kindern die einen zur Seligkeit, die anderen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt sind, erschreckte ihn. Wie ich zu meinem Erstaunen erfuhr, war Tom nach der Predigt zu Mr. McMillan gegangen und hatte mit ihm über die Frage gesprochen; dabei war er schließlich mit den Worten herausgeplatzt: »Mr. McMillan, wenn Ihre Ansicht richtig wäre, dann wäre Ihr Gott ja ein wahrer Satan!« und hatte dann den aufs höchste verwunderten Geistlichen allein gelassen.

Manche Woche lang bildete diese Frage das Thema unserer Zusammenkünfte an den Sonntagnachmittagen. War jener Glaubenssatz Wahrheit oder nicht? Und welche Folgen würde Toms Erklärung für uns andere haben? Würden wir nun nicht mehr bei Mrs. McMillan als Gäste willkommen sein? Auf den Verkehr mit dem Geistlichen selbst hätten wir ja schließlich verzichten können; aber der Gedanke, daß uns die schönen Abende seiner Frau verschlossen sein sollten, war für uns traurig. Eins war uns klar. Carlyles Thomas Carlyle (1795-1881), der englische Historiker und Sozialpolitiker, ist auch für die Weiterentwickelung der christlichen Religion nachdrücklich eingetreten. Kämpfe über diese Fragen hatten tiefen Eindruck auf uns gemacht, und wir konnten uns seinen Entschluß: »Wenn es denn unglaublich ist, so wollen wir in Gottes Namen nicht daran glauben« wohl zu eigen machen. Nur die Wahrheit konnte uns frei machen; und die Wahrheit, die volle Wahrheit wollten wir suchen.

Natürlich verfolgten wir das Thema, nachdem es einmal aufgekommen war, weiter und taten ein Dogma nach dem anderen als überlebte Auffassungen einer weniger aufgeklärten Zeit ab. Ich weiß nicht mehr, von wem unser zweites Axiom stammte: »Ein Gott der Vergebung wäre das Edelste, was Menschen ersinnen könnten.« Es galt uns als ausgemacht, daß jedes Kulturzeitalter sich seinen eigenen Gottesbegriff schafft, und daß die Auffassung von der Gottheit in gleichem Maße fortschreitet, wie der Mensch aufsteigt und vollkommener wird. Später ließ das theologische Interesse bei uns etwas nach, keineswegs aber das religiöse. Die Krise ging vorüber. Mrs. McMillan schloß uns erfreulicherweise nicht von ihrer Geselligkeit aus. Aber es war doch ein denkwürdiger Tag, als wir uns entschlossen, uns alle auf Millers Standpunkt zu stellen, selbst auf die Gefahr des Ausschlusses hin.

Die erste schmerzliche Lücke in unserem Freundeskreis entstand, als John Phipps infolge eines Sturzes vom Pferde starb. Dieser Todesfall machte einen tiefen Eindruck auf uns; doch weiß ich noch, daß ich mir sagte: »John ist gleichsam in seine Heimat England zurückgekehrt. Wir alle werden ihm folgen und dann wieder für immer vereint sein.« Ich hatte damals keine Zweifel daran. Das lebte nicht nur als unbestimmte Hoffnung in meinem Herzen, sondern als eine feste Gewißheit. Glücklich sind die, welche in ihrer Todesnot solch eine Zuflucht besitzen. Das Wunder, das uns im jenseitigen Leben wieder mit unseren Lieben auf ewig vereint, ist nicht größer als das, welches uns das diesseitige Leben mit ihnen zusammen verbringen läßt. Beides ist für sterbliche Wesen gleichermaßen unbegreiflich. Darum wollen wir unseren Trost in der steten Hoffnung suchen, aber auch nicht vergessen, daß unsere Pflichten auf dieser Erde warten und daß das Himmelreich in uns liegt. Wir stellten damals als einen unserer Grundsätze auf, daß derjenige, der das Jenseits mit Bestimmtheit leugnet, ebenso töricht ist wie der, der es mit Bestimmtheit behauptet; denn wissen kann man beides nicht, nur erhoffen soll und kann es jeder. Im übrigen aber lautete unser Wahlspruch: »Meine Heimat ist mein Himmel« und nicht »Der Himmel ist meine Heimat«. –

Während der Jahre, von denen ich hier erzähle, hatte sich der Wohlstand der Familie ständig gehoben. Mein Monatsgehalt war durch eine Zulage, die mir Mr. Scott ohne mein Zutun zuwandte, von 35 auf 40 Dollar gestiegen. Es gehörte damals zu meinen Aufgaben, allmonatlich die Gehälter und Löhne anzuweisen. [Ich weiß noch, daß ich beim Ausschreiben der Löhnungsliste mich bei Mr. Scotts Monatsgehalt von 125 Dollar jedesmal wieder verwundert fragte, was er wohl mit so viel Geld anfangen wollte. (Andrew Carnegie in einer Rede bei einer Tagung der Militärtelegraphisten Nordamerikas am 28. März 1907.)] Ich erhielt mein Gehalt immer gleichmäßig in zwei goldenen 20-Dollarstücken ausgezahlt. Diese erschienen mir als die schönsten Kunstwerke der Welt. Im Familienrat wurde beschlossen, daß wir die Baustelle mit den zwei kleinen Holzhäusern, in deren einem wir wohnten, kaufen wollten; das andere war ein Vier-Zimmer-Haus, in dem mein Onkel und meine Tante Hogan bisher gewohnt hatten. Mit Hilfe der guten Tante Aitken waren wir seinerzeit n dem kleinen Hause über der Weberwerkstatt untergekommen; nun war es unsere Sache, dafür zu sorgen, daß sie wieder in das Häuschen zurückkehren konnte, das früher ihr gehört hatte. Ebenso konnten wir, als wir nach Altoona übersiedelten, der Tante Hogan – der Onkel war inzwischen gestorben – das Vier-Zimmer-Haus, das wir zuletzt bewohnt hatten, überlassen und ihr dadurch wieder zu ihrem alten Heim verhelfen. 100 Dollar wurden beim Kauf bar angezahlt; der ganze Preis betrug, soviel ich mich erinnere, 700 Dollar. Nun galt es, pünktlich jedes halbe Jahr die Zinsen zu zahlen und soviel von der Schuld abzutragen, wie wir irgend ersparen konnten. Es hat nicht lange gedauert, bis der Rest getilgt war und wir wirklich Hausbesitzer waren.

Aber noch ehe es soweit kam, riß der Tod die erste Lücke in unsere Familie, denn mein Vater starb am 2. Oktober 1855. Es war gut für die drei Hinterbliebenen, daß auf jedem von uns dringende Pflichten lagen. Trauer und Pflichterfüllung beruhigten uns; unser Tagewerk nahm uns in Anspruch. Die Ausgaben, die sich während seiner Krankheit gehäuft hatten, mußten erspart und abgezahlt werden; denn wir hatten damals noch keine größeren Geldreserven.

Da ereignete sich eines der wohltuendsten Vorkommnisse aus den ersten Jahren unseres Lebens in Amerika. Mr. David McCandleß, ein hervorragendes Mitglied unserer kleinen Swedenborgianischen Gemeinschaft, hatte meine Eltern gekannt, aber, außer daß man ein paar Worte im Vorübergehen am Sonntag in der Kirche miteinander sprach, kann ich mich nicht erinnern, daß sie je in nähere Berührung gekommen wären. Aber Tante Aitken kannte er genauer, und nun ließ er uns durch sie sagen, daß, falls meine Mutter in der jetzigen traurigen Lage ein Darlehen brauche, er gern bereit wäre, jeden nötigen Betrag vorzustrecken. Er hatte viel von meiner tapferen Mutter gehört, und das genügte ihm.

Es wird einem so manchmal Hilfe angeboten, wenn man sie nicht mehr braucht, oder wenn die Lage so ist, daß die Wahrscheinlichkeit einer Rückzahlung auf der Hand liegt; da ist es doppelt schön, wenn einem eine Tat reiner und selbstloser Menschenliebe begegnet. Hier war eine arme schottische Frau, die ihren Mann verloren hatte, deren ältester Sohn eben erst anfing, es zu etwas zu bringen, und deren jüngerer Sohn das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatte. Das Unglück dieser Menschen rührte Mr. McCandleß, und darum suchte er es in wundervoll zartfühlender Weise zu lindern. Obwohl meine Mutter in der Lage war, die dargebotene Hilfe abzulehnen, brauche ich wohl nicht zu sagen, daß Mr. McCandleß in unseren Herzen einen besonderen Ehrenplatz erhielt. Ich glaube ganz fest daran, daß die Menschen, die an einem kritischen Punkte ihres Lebens einer Hilfe bedürfen, auch immer Hilfe finden. Es gibt viele Menschen, Männer wie auch Frauen, die nicht nur gewillt sind, sondern sogar nach jeder Gelegenheit suchen, um dem Würdigen ihre hilfreiche Hand zu bieten. In der Regel brauchen diejenigen, die sich selbst zu helfen entschlossen sind, nicht in Sorge zu sein, wenn sie des Beistandes anderer benötigen.

Seit dem Tode meines Vaters hatte ich in weit höherem Grade als bisher für die Familie zu sorgen. Meine Mutter nähte noch immer Schuhe, Tom ging fleißig zur Schule und ich war bei Mr. Scott in der Eisenbahngesellschaft. Da klopfte zu rechter Zeit das Glück an unsere Tür. Mr. Scott fragte mich, ob ich 500 Dollar hätte, dann wolle er sie für mich zinstragend anlegen. 500 Cent waren eine Summe, die meinem Vermögen viel besser entsprach. Ich hatte natürlich noch nicht einmal 50 Dollar erspart, die ich hätte anlegen können. Aber die Gelegenheit, mit meinem Chef und bewunderten Gönner in finanzielle Verbindung zu treten, wollte ich mir doch nicht entgehen lassen. So sagte ich kurz entschlossen, ich glaubte wohl, diese Summe aufbringen zu können. Er erzählte mir nun, daß er Gelegenheit hätte, von einem Stationsvorstand der Gesellschaft, Mr. Reynolds in Wilkinsburg, Anteile der Adams-Expreß-Aktien zu kaufen. Am Abend wurde die Sache natürlich dem Familienoberhaupt vorgetragen, und meine Mutter war nicht lange im Zweifel, was wir zu tun hätten. Wann hatte sie auch je einen falschen Rat gegeben! Wir hatten damals schon 500 Dollar für das Haus abgezahlt, und so, meinte sie, ließe sich dieses ganz gut als Sicherheit für ein Darlehen verpfänden. Am nächsten Morgen fuhr meine Mutter mit dem Dampfer nach East Liverpool, kam dort am Abend an und erhielt das Geld durch Vermittlung ihres Bruders. Dieser war Friedensrichter, in der damals noch kleinen Stadt sehr bekannt und hatte zahlreiche Summen von Farmern, die ihr Geld verzinsen wollten, an der Hand. Unser Haus wurde als Pfand gegeben, und Mutter brachte die 500 Dollar heim, die ich Mr. Scott übergab. Er erwarb also für mich die gewünschten zehn Anteilscheine. Wider Erwarten waren auch noch 100 Dollar Prämie zu bezahlen; aber Mr. Scott sagte in seiner liebenswürdigen Art, ich könne das zahlen, wann es mir paßte, was mir natürlich sehr lieb war.

Dies war meine erste Kapitalanlage. In der guten alten Zeit waren monatliche Dividenden häufiger als heute, und Adams Expreß zahlte monatliche Dividenden. Eines Morgens lag ein weißer Briefumschlag auf meinem Platz, der in großer, schön geschwungener Kaufmannshandschrift an »Herrn Andrew Carnegie, Hochwohlgeboren« adressiert war. Das »Hochwohlgeboren« machte auf die Jungen und mich einen außerordentlichen Eindruck. In einer Ecke stand der runde Stempel der Adams-Expreß-Company. Als ich den Umschlag öffnete, fiel mir ein Scheck über 10 Dollar auf die Gold-Exchange-Bank in Neuyork entgegen. An diesen Scheck werde ich denken, solange ich lebe, und auch an die schwungvolle Unterschrift »I. C. Babcock, Kassierer«. Es waren die ersten Zinsen, die mir ein Kapital einbrachte, – das erste Geld, für das ich nicht im Schweiße meines Angesichts gearbeitet hatte. »Heureka!« rief ich, »jetzt haben wir das Huhn, das goldene Eier legt.«

Unser Freundeskreis ging gewöhnlich am Sonntagnachmittag in den Wald. Als wir unter den Bäumen unseres Lieblingswäldchens in der Nähe von Wood's Run saßen, holte ich meinen Scheck aus der Tasche und zeigte ihn den anderen. Der Eindruck, den das auf meine Freunde machte, war überwältigend. Keiner von ihnen hatte ja eine solche Kapitalanlage für möglich gehalten. Wir beschlossen, sparsam zu sein und auf die nächste Gelegenheit zu einer Kapitalanlage zu warten, an der wir uns alle beteiligen wollten. Jahrelang haben wir dann all unsere kleinen Anlagen gemeinsam unternommen und gleichsam als Sozien miteinander gearbeitet. –

Bis dahin hatte sich der Kreis meiner Bekanntschaften nicht sehr erweitert. Mrs. Franciscus, die Frau des Leiters unserer Speditionsabteilung, war sehr freundlich und lud mich wiederholt in ihr Haus in Pittsburg ein. Oft erzählte sie, wie ich zum ersten Male in der Dritten Straße an ihrer Haustür geklingelt hätte, um eine Bestellung von Mr. Scott auszurichten. Sie hatte mich aufgefordert, hineinzukommen; aber ich hätte verschämt abgelehnt, und sie mußte mir erst eine ganze Weile zureden, bis ich meine Schüchternheit überwand. Lange konnte sie mich nicht dazu bewegen, einmal bei ihr zu essen. Noch jahrelang habe ich eine große Scheu gehabt, fremde Häuser zu besuchen; aber Mr. Scott bestand gelegentlich darauf, daß ich mit ihm zusammen in das Hotel ging und dort mit ihm speiste. Das war dann immer ein großer Tag für mich. Soweit ich mich erinnere, war außer Mr. Lombaerts Haus in Altoona nun das des Mr. Franciscus das erste vornehme Haus, das ich als Gast betreten habe. Vornehm war in meinen Augen jedes Haus, das in einer der Hauptstraßen stand und als Eingang eine Halle hatte.

Ich hatte noch nie eine Nacht in einer fremden Wohnung geschlafen, als mich Mr. Stokes aus Greensburg, der erste Rechtsbeistand der Pennsylvaniabahn, einmal über Sonntag in seine schöne Besitzung auf dem Lande einlud. Das erschien mir ein recht seltsamer Einfall von Mr. Stokes; denn ein wohlhabender und hochgebildeter Mann wie er konnte doch schwerlich ein besonderes Interesse für mich haben. Aber der Grund, weshalb er mir eine solche Ehre erwies, war ein Artikel, den ich im Pittsburgh Journal veröffentlicht hatte. Ich schrieb schon für die Presse, als ich noch nicht 20 Jahre alt war; Redakteur zu werden, war einer meiner sehnlichsten Wünsche. Horace Greeley und die Tribune erschienen mir als der höchste Gipfel menschlichen Triumphes. Seltsam genug, daß ich in späterer Zeit einmal die Tribune hätte kaufen können; aber mittlerweile hatte das Ideal viel von seinem Glanze eingebüßt. Oftmals kommen unsere Luftschlösser später im Leben uns zum Greifen nahe, – aber dann haben sie ihren Reiz verloren.

Mein Artikel behandelte das Verhältnis der Stadt zur Pennsylvania-Eisenbahngesellschaft; er war nicht mit Namen unterzeichnet. Ich war nicht wenig überrascht, als er in den Spalten des Journal an hervorragender Stelle abgedruckt erschien. Der Besitzer und Redakteur war damals Robert M. Riddle. In meiner Eigenschaft als Telegraphist ging mir ein Telegramm an Mr. Scott durch die Hände, das von Mr. Stokes unterzeichnet war und jenen bat, durch Mr. Riddle den Verfasser dieses Artikels zu ermitteln. Ich wußte, daß Mr. Riddle den Verfasser nicht würde nennen können, da er ihn nicht kannte. Gleichzeitig fürchtete ich aber, daß er Mr. Scott im Falle einer Anfrage das Manuskript zeigen könnte und dieser natürlich auf den ersten Blick meine Handschrift erkennen würde. Deswegen schenkte ich Mr. Scott reinen Wein ein und sagte ihm, daß ich der Verfasser des Artikels sei. Zuerst wollte er es nicht glauben. Er sagte, er hätte den Artikel am Morgen gelesen und sich auch überlegt, wer ihn wohl geschrieben haben könnte. Ich hatte seinen zweifelnden Blick wohl bemerkt. Die Feder war also eine gute Waffe in meiner Hand. Kurz danach bekam ich die Einladung, einen Sonntag bei Mr. Stokes zu verleben. Dieser Besuch gehört mit zu meinen schönsten Erinnerungen. Seit dem Tag waren wir gute Freunde.

Die Eleganz in Mr. Stokes' Haus machte auf mich einen großen Eindruck. Aber ein marmorner Kaminmantel in seiner Bibliothek stellte doch alles andere in den Schatten. In der Mitte des Bogens war in den Marmor ein offenes Buch eingemeißelt, das die Inschrift trug:

Wer nicht denken kann, ist ein Narr;
Wer es nicht will, ein Blinder;
Wer es nicht wagt, ein Sklave.

Diese stolzen Worte drangen mir ins Herz. »Eines Tages«, dachte ich, »eines Tages, wenn ich auch eine Bibliothek habe, sollen diese Worte auch dort den Kamin schmücken.« Und das tun sie in meinem Hause in Neuyork und in Skibo bis auf den heutigen Tag.

Einige Jahre später verlebte ich noch einen anderen denkwürdigen Sonntag in seinem Hause. Ich war damals schon Direktor der Abteilung Pittsburg der Pennsylvaniabahn. Der Süden hatte sich losgelöst. Ich war Feuer und Flamme für das Unionsbanner. Mr. Stokes, einer der demokratischen Führer, bestritt das Recht der Nordstaaten, Gewalt anzuwenden zur Erhaltung der Union. Seine Ansichten brachten mich aus der Fassung, und ich rief: »Mr. Stokes, in weniger als sechs Wochen werden Leute Ihres Schlages am Galgen hängen!« Während ich diese Zeilen niederschreibe, ist es mir, als hörte ich wieder sein Lachen und seine Stimme, als er seiner Frau ins Nebenzimmer hinüber zurief: »Nancy, Nancy, höre nur, was der schottische Teufelskerl hier sagt! In weniger als sechs Wochen sollen Leute meines Schlages am Galgen hängen!« Seltsame Dinge passierten damals. Schon kurz danach wandte sich derselbe Mr. Stokes in Washington an mich, um ein Majorspatent für die freiwilligen Truppen zu bekommen. Ich war damals im Kriegsministerium tätig und half, für die Regierung den Bahn- und Telegraphenbetrieb zu regeln. Seine Ernennung wurde besorgt und er war fortan Major Stokes: derselbe Mann, der das Recht der Nordstaaten aus den Kampf um die Union bestritten hatte, war also selbst als Soldat in den Dienst der guten Sache getreten. Zuerst stritten sich die Leute über verfassungsrechtliche Theorien. Aber die Stimmung schlug um, als das Banner in Gefahr war. Im Nu stand alles in Flammen, auch die papiernen Verfassungen. »Die Union und unser alter Ruhm!« Das war nun jedermanns einziger Gedanke. Die Konstitution sollte bewirken, daß es nur eine einzige Fahne gab, wie Oberst Ingersoll sagte: »Es gibt auf dem Festland von Amerika nicht genug Wind, um zwei Fahnen wehen zu lassen.«


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