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Wie Tarzan wieder nach Opar kam

Als Clayton zu dem Baum zurückkehrte, auf dem er und seine Gefährten ihre Siedlung aufgeschlagen hatten, und Jane Porter nicht mehr vorfand, geriet er in Angst und Schrecken. Thuran war wieder ganz bei Sinnen, denn das Fieber war plötzlich wieder verschwunden, wie es in jenen Gegenden oft der Fall ist. Der Russe war aber noch schwach und erschöpft und lag ruhig auf der Grasdecke ihrer Baumhütte.

Als Clayton ihn nach dem Verbleib Jane Porters fragte, schien er überrascht zu sein, daß sie nicht dort sei.

Ich habe nichts Ungewöhnliches gehört, sagte er. Allerdings war ich die meiste Zeit über ohne Besinnung.

Wenn der Mann nicht offenbar zu schwach gewesen wäre, hätte Clayton ihn im Verdacht gehabt, daß er die Schuld am Verschwinden des Mädchens trug, aber er sah, daß der Russe nicht genügend Kraft hatte, um ohne Hilfe auch nur hinunterzusteigen. In diesem Zustand konnte er dem Mädchen jedenfalls nichts zuleide getan haben, und er konnte auch nicht die unbequeme Leiter hinunter- und wieder heraufgestiegen sein.

Solange es noch hell war, suchte der Engländer den nahegelegenen Teil der Dschungel ab, ob sich dort nicht eine Spur der Vermißten oder ihres Entführers fand. Aber obschon die von den fünfzig gräßlichen Männern hinterlassenen Spuren so deutlich waren, daß auch der dümmste Dschungel-Bewohner sie erkannt hätte, ging Clayton zwanzigmal daran vorbei, ohne zu merken, daß doch vor wenigen Stunden viele Männer durchgekommen sein mußten. Während des Suchens fuhr er fort, den Namen des Mädchens laut zu rufen, aber das einzige, was er damit erreichte, war, daß er Numa, den Löwen, anlockte.

Glücklicherweise bemerkte er, wie sich die Gestalt einen Weg durch das Gebüsch bahnte, und so hatte er gerade noch Zeit, auf einen Baum zu klettern, bevor das Tier ihn erreichte.

Das machte Claytons weiteren Nachforschungen für den Nachmittag ein Ende, denn der Löwe lauerte unter dem Baume, und der Engländer konnte nicht daran denken, wieder herunterzuklettern.

Nach Eintritt der Nacht entfernte sich der Löwe, aber Clayton wagte es nicht, in das schreckliche Dunkel des Waldes hinunterzusteigen, und so verbrachte er weitere schreckliche Stunden auf dem Baume.

Erst als es wieder hell geworden war, kam er herunter und ging nach dem Strande. Da Jane nicht zurückgekehrt war, gab er die Hoffnung, sie retten zu können, auf.

In der folgenden Woche gewann Thuran seine Kräfte wieder. Er lag oben auf dem Baum, indes Clayton sich bemühte, für sie beide Nahrung zu suchen. Der Russe sprach nur das Allernotwendigste.

Clayton benutzte jetzt die Abteilung des Lagers, die für Jane Porter bestimmt gewesen war, und sah den Russen nur, wenn er ihm Essen oder Wasser brachte, oder wenn er ihm die andern kleinen Dienste leistete, die die einfachste Menschlichkeit erforderte.

Als Thuran wieder imstande war, herunterzusteigen und auf Nahrungssuche zu gehen, wurde Clayton vom Fieber befallen. Tagelang lag er bewußtlos und von Schmerzen geplagt da, aber nicht ein einzigesmal kam der Russe zu ihm.

Clayton mochte allerdings nichts essen, aber er litt furchtbaren Durst. Zwischen den Fieberanfällen suchte er eines Tages, so schwach er auch war, herunterzusteigen und sich zum Bach zu schleppen.

Bei solchen Gelegenheiten schaute Thuran ihm mit boshafter Schadenfreude zu. Und doch hatte Clayton ihn, so sehr er ihn auch verachten mußte, während seiner Krankheit aufs beste verpflegt.

Zuletzt wurde der Engländer so schwach, daß er nicht mehr imstande war, herunterzusteigen. Einen Tag lang ertrug er den Durst, ohne den Russen in Anspruch zu nehmen, aber schließlich konnte er die Qual nicht länger aushalten und bat ihn, ihm etwas zu trinken zu geben.

Der Russe kam an den Eingang von Claytons Raum, eine Schale Wasser in der Hand. Sein Gesicht hatte einen mürrischen Ausdruck.

Hier ist Wasser! sagte er. Aber zuvor will ich Sie daran erinnern, daß Sie mich bei dem Mädchen schlecht gemacht haben, daß Sie es sich auf die Seite geschafft haben, weil Sie es nicht mit mir teilen wollten ...

Run hören Sie auf! unterbrach ihn Clayton. Wie können Sie so gemein sein, ein Mädchen zu verdächtigen, das wahrscheinlich schon tot ist! Was für ein Dummkopf war ich doch, Sie am Leben zu lassen. Sie verdienen nicht einmal, in diesem elenden Land zu leben!

Hier ist Ihr Wasser! sagte der Russe, und dabei setzte er die Schale selbst an den Mund und trank. Was übrig blieb, schüttete er hinunter. Dann wandte er sich um und überließ den Kranken seinem Schicksal.

Clayton legte die Arme über das Gesicht und gab den Kampf auf.

Am folgenden Tage entschloß sich Thuran, an der Küste entlang nordwärts zu gehen, weil er wußte, daß er dort zu zivilisierten Menschen kommen müsse. Schließlich konnte es ihm auf dem Marsch nicht schlechter ergehen als hier, und dazu kam, daß die Anfälle des sterbenden Engländers ihm aus die Nerven fielen.

So stahl er denn Claytons Speer und machte sich auf den Weg. Am liebsten hätte er dem Kranken vorher noch das Ende gegeben, aber er dachte, er würde ihm dadurch vielleicht noch einen Dienst erweisen, und so ließ er ihn am Leben, damit er ganz allein und verlassen umkommen möge.

Schon am ersten Tage kam er zu einer kleinen Hütte am Strand und faßte neue Hoffnung, da er überzeugt war, daß dies ein Vorposten einer nahen Ansiedlung sei. Hätte er gewußt, wem die Hütte gehörte und daß der Eigentümer nur wenige Meilen landeinwärts weilte, so hätte Nikolaus Rokoff diesen Platz wie die Pest geflohen. Aber er hatte keine Ahnung davon, und so blieb er einige Tage dort, da er in der Hütte sicher war und dort mancherlei Bequemlichkeiten genoß. Dann setzte er seine Wanderung in nördlicher Richtung fort.

*

In Lord Tenningtons Lager schickte man sich an, ein festes Unterkommen zu errichten und dann eine Expedition von einigen Mann nach Norden zu schicken, um Hilfe zu suchen.

Als die Tage verstrichen, ohne daß man eine Nachricht von der Außenwelt erhielt, begann die Hoffnung zu schwinden, daß Jane Porter, Clayton und Thurau gerettet worden seien. Niemand sprach mehr mit Professor Porter darüber, und dieser war zu seinem Glück in seinen wissenschaftlichen Träumereien so versunken, daß er gar nicht merkte, wie die Zeit verging.

Gelegentlich bemerkte er, in wenigen Tagen würde jedenfalls ein Dampfer an der Küste eintreffen und dann würden sie alle wieder glücklich vereint sein. Ein andermal sprach er von dem Eintreffen eines Zuges, falls dieser nicht durch einen Schneesturm aufgehalten würde.

Wenn ich den lieben alten Herrn nicht so gut kennte, sagte Lord Tennington zu Miß Strong, so würde ich glauben, es sei bei ihm nicht mehr ganz richtig im Kopfe.

Wenn es nicht so ernst wäre, so könnte man darüber lachen, antwortete Miß Strong. Ich habe ihn mein Lebenlang gekannt, und ich weiß, wie abgöttisch er Jane liebt, andere könnten aber glauben, er sei gleichgültig gegen ihr Schicksal. Er ist so unpraktisch, daß er gar nicht an die Möglichkeit ihres Todes zu glauben vermag, bis er einen wirklichen Beweis dafür vor sich hat.

Erraten Sie einmal, was mir gestern mit ihm widerfahren ist, fuhr Lord Tennington fort. Ich kam von einer kleinen Jagdstreife zurück, als ich ihn traf, wie er eilig dem Pfad, den die wilden Tiere durch das Dickicht getreten haben, folgte. Er hielt die Hände hinter seinen langen Rockschößen und schaute vor sich auf den Boden, während er vorwärts eilte. Er hätte einem Raubtier direkt in den Rachen laufen können. Wohin gehen Sie, Herr Professor? fragte ich ihn.

Ich gehe in die Stadt, Lord Tennington, sagte er ganz ernst, um mich bei dem Postmeister über die schlechte Postbestellung zu beklagen. Denken Sie, mein Herr, ich habe seit Wochen keine Postsachen bekommen! Es müssen doch einige Briefe von Jane für mich da sein. Da muß sofort eine Beschwerde nach Washington gerichtet werden!

Und glauben Sie, Miß Strong, fuhr Lord Tennington fort, ich hatte die größte Mühe, dem alten Mann begreiflich zu machen, daß es hier keine Postbestellung und keine Stadt gibt, und daß er weder auf demselben Festland noch auf derselben Halbkugel wie Washington ist.

Als ihm das endlich klar wurde, fing er an, sich wegen seiner Tochter zu ängstigen. Ich glaube, es war das erstemal, daß er einsah, in welcher Lage wir uns hier befinden, und daß seine Tochter vielleicht nicht gerettet worden ist.

Ich möchte gar nicht daran denken, sagte Miß Strong, und doch kann ich an nichts anderes denken, als an die abwesenden Mitglieder unserer Gesellschaft.

Wir wollen das Beste hoffen, meinte Lord Tennington. Sie selbst haben sich so wacker gezeigt, denn in einer Hinsicht haben Sie den größten Verlust erlitten.

Ja, antwortete sie. Ich hätte Jane Porter nicht mehr lieben können, wenn sie meine eigene Schwester gewesen wäre.

Lord Tennington war sehr erstaunt über diese Antwort, ließ sich aber nichts merken. Er hatte gar nicht auf ihre Freundschaft mit Jane Porter anspielen wollen.

Seit dem Untergang der »Lady Alice« war er viel mit Miß Strong zusammen gewesen und hatte allmählich bemerkt, daß er zu dieser feinen Tochter Marylands mehr Zuneigung fühlte, als es für seine Seelenruhe gut war, denn er erinnerte sich immer wieder daran, daß Thuran ihm seine heimliche Verlobung mit ihr mitgeteilt hatte. Er fragte sich aber, ob Thuran wirklich die Wahrheit gesagt habe, denn auf seiten der jungen Dame hatte er Thuran gegenüber nie mehr als einfache Freundschaft bemerkt.

Um der Sache auf den Grund zu kommen, fuhr er fort:

Und wenn die drei Personen verloren sind, so werden Sie einen besonders schweren Verlust in Mister Thuran erleiden.

Sie sah ihn lebhaft an.

Herr Thuran, sagte sie, war mir ein lieber Freund. Ich konnte ihn gut leiden, aber ich kannte ihn noch wenig.

Waren Sie denn nicht mit ihm verlobt?

Himmel, nein! rief sie. Das ist mir im Traum nicht eingefallen!

Nun hätte Lord Tennington Hazel Strong ein Geständnis ablegen sollen, aber so sehr es ihn auch drängte, so blieben ihm doch die Worte in der Kehle stecken.

Er ging einigemal auf und ab, wobei er ganz rot im Gesichte wurde, aber schließlich sagte er, er hoffe, die Hütten würden bis zum Beginn der Regenzeit fertig werden.

Hazel aber hatte, ohne daß er es merkte, seine wahre Absicht erraten, und das machte sie glücklich, ja glücklicher als sie je in ihrem Leben gewesen war.

Die weitere Unterredung wurde durch das Auftauchen einer sonderbaren, furchtbar aussehenden Gestalt gerade südlich vom Lager unterbrochen.

Lord Tennington und Miß Streng erblickten den Mann zu gleicher Zeit. Der Engländer griff nach seinem Revolver, aber als der halbnackte, bärtige Mensch seinen Namen laut herüberrief und herangelaufen kam, steckte er die Waffe wieder ein und ging ihm entgegen.

Niemand hätte in dieser schmutzigen, abgemagerten Gestalt in diesem seltsamen Häuteanzug den eleganten Thuran wiedererkannt, den man zuletzt an Bord der »Lady Alice« gesehen hatte.

Bevor die andern Mitglieder der kleinen Gemeinschaft von seiner Ankunft benachrichtigt wurden, befragten Lord Tennington und Miß Strong ihn über das Schicksal seiner Leidensgefährten.

Sie sind alle tot, erwiderte Thuran. Die drei Matrosen starben, bevor wir ans Land kamen. Miß Porter wurde von irgendeinem Raubtier in die Dschungel fortgeschleppt, als ich im Fieber-Delirium darniederlag. Clayton ist vor ein paar Tagen am Fieber gestorben. Und wenn ich bedenke, daß wir all diese Zeit nur wenige Meilen von einander entfernt waren, – kaum einen Tagemarsch – es ist schrecklich!

*

Jane Porter wußte nicht, wie lange sie im dunkeln Gewölbe unter dem Tempel der alten Stadt Opar gelegen hatte. Eine Zeitlang hatte sie Fieber gehabt, aber als dieses vorübergezogen war, kam sie allmählich wieder zu Kräften.

Jeden Tag gab die Frau, die ihr das Essen brachte, ihr durch Zeichen zu verstehen, sie solle aufstehen, aber tagelang konnte Jane nur den Kopf schütteln, um ihr anzudeuten, daß sie dazu zu schwach sei.

Erst allmählich konnte sie sich wieder auf den Beinen halten, und dann versuchte sie einige Schritte zu machen, indem sie sich mit der Hand an der Mauer festhielt.

Die Wilden betrachteten sie jetzt mit zunehmendem Interesse. Ihr Opfer gewann wieder Kraft, und der Tag nahte.

Endlich war er da. Ein junges Weib, das Jane Porter zuvor noch nie gesehen, kam mit einigen anderen Frauen in ihr Verließ. Sie führten einige Zeremonien aus, die offenbar religiöser Natur waren.

Sie faßte deshalb wieder Zuversicht und freute sich, wenigstens in die Hände eines Volkes gefallen zu sein, auf das die Religion einen verfeinernden und besänftigenden Einfluß ausübte. Sie durfte deshalb wohl annehmen, daß sie menschlich behandelt würde.

Als man sie nun aus ihrem Kerker holte und durch lange, dunkle Gänge und über eine Treppe in einen glänzenden Hof führte, folgte sie willig, beinahe glücklich. Sie war ja unter Gottesdienern. Mochten sie auch von dem höchsten Wesen eine andere Vorstellung haben als sie selbst, so genügte ihr doch die Tatsache, daß die Leute an einen Gott glaubten, um anzunehmen, sie seien menschlich und gütig. Als sie aber in der Mitte des Hofes einen steinernen Altar erblickte und dunkelbraune Flecken auf dem Boden, wurde sie stutzig und fing an zu zweifeln.

Als man sich vollends über sie beugte und ihr die Füße und Hände fesselte, da ergriff sie eine namenlose Angst.

Einen Augenblick später wurde sie emporgehoben und mit dem Rücken quer über den Altar gelegt.

Nun war all ihre Hoffnung geschwunden, und sie zitterte in Todesangst.

Während des grotesken Priestertanzes, der nun folgte, lag sie vor Schrecken gelähmt da. Sie wagte nicht mehr, das scharfe Messer anzusehen, das die Hohepriesterin über ihr gezückt hielt, um ihr ihr Schicksal anzudeuten.

Als die Hand anfing, sich zu senken, schloß Jane Porter die Augen und sandte ein stilles Gebet zu ihrem Schöpfer, dem sie nun bald gegenübertreten sollte. Dann erlagen ihre Nerven der ungeheuren Aufregung, und sie wurde ohnmächtig.

*

Tag und Nacht war Tarzan durch den Urwald gewandert, um nach der Stadt der Ruinen zu gelangen, denn er war überzeugt, daß seine Geliebte dort gefangen gehalten werde, wenn sie nicht schon tot war.

In einem Tag und einer Nacht legte er dieselbe Entfernung zurück, für die die fünfzig gräßlichen Männer fast eine Woche gebraucht hatten, denn Tarzan schlug den Weg in halber Baumhöhe ein, weit über dem Gestrüpp und Gerank, das das Fortkommen so erschwerte.

Aus der Geschichte, die der junge Affe ihm erzählt hatte, war es ihm klar geworden, daß das »Weibchen« Jane Porter sein müsse, denn sie war die einzige Weiße in der ganzen Dschungel. Die Männer waren nach der Beschreibung zu urteilen offenbar die Bewohner der Ruinen von Opar.

Das Schicksal des Mädchens konnte er sich aus eigener Erfahrung vorstellen. Man würde jedenfalls den schwachen Körper auf den Altar legen, aber wann, – das konnte er nicht wissen.

Auf alle Fälle tat Eile dringend not. Der Weg schien ihm endlos lang, aber schließlich erreichte er die Felsen, die sich vor dem trostlosen Tal auftürmten, und vor ihm lagen die gespensterhaften Ruinen der Stadt Opar.

In schnellem Trabe eilte er über den staubigen, steinigen Grund nach dem Ziel seiner Wünsche.

Würde er noch rechtzeitig kommen? Er hoffte es. Zum mindesten aber konnte er sich rächen, und in seiner Wut glaubte er imstande zu sein, die ganze Bevölkerung dieser schrecklichen Stadt zu erschlagen.

Es war beinahe Mittag, als er auf den großen Felsen gelangte, auf dessen Spitze der geheime Durchgang nach der Stadt endete. Wie eine Katze kletterte er dort hinauf, und alsbald eilte er durch den langen, geraden, dunkeln Gang, der zu dem Schatzgewölbe führte. Sobald er dieses durchschritten hatte, kam er sehr bald zu dem brunnenartigen Schacht nahe an dem Verließ, aus dem er durch die Mauer ausgebrochen war.

Plötzlich glaubte er von oben merkwürdige Töne zu hören. Er hielt einen Augenblick an und lauschte: es waren die Klänge des Totentanzes, die das Opfer einleiten, und der Singsang der Hohepriesterin. Er konnte sogar deren Stimme erkennen.

Sollte die Zeremonie, die er verhindern wollte, schon so weit sein? Schrecken erfaßte ihn. Vielleicht kam er nur um eine Minute zu spät!

Wie ein gehetztes Tier sprang er über den Abgrund, der sich vor ihm auftat. An der Stelle, wo er die Mauer durchbrochen hatte, räumte er die Steine nur so weit weg, daß er sich mit seinen mächtigen Schultern mit knapper Not hindurchzwängen konnte. Hinter ihm stürzten die losen Steine polternd herab.

Mit einem Satze war er an der Tür, die zum Glück nicht verschlossen war. Offenbar hatte La vor lauter Schrecken, als sie ihn nicht vorfand, vergessen, die Türe wieder abzuschließen.

Nun gelangte er auf dem ihm bekannten Wege in den Binnenhof, aber dieser war leer. Im Opferhof hörte er aber die Stimme Las.

Der Tanz hatte aufgehört. Jetzt mußte das Messer sich senken. Schneller als dieser Gedanke rannte er nach der Seite, von wo die Stimme der Priesterin kam.

Er fand auch gleich die richtige Tür. Zwischen ihm und dem Altar standen die langen Reihen der Priester und Priesterinnen und warteten mit ihren goldenen Bechern.

Las Hand senkte sich soeben langsam auf den Busen des schwachen Geschöpfes, das ruhig auf dem harten Stein ausgestreckt lag.

Ein Stöhnen entrang sich Tarzans Brust, als er sah, daß es das geliebte Mädchen war, das da lag. Und dann färbte sich die Narbe auf seiner Stirn wie flammendes Scharlach, es wurde ihm rot vor den Augen, und mit dem entsetzlichen Brüllen eines wütenden Riesenaffen sprang er wie ein gewaltiger Löwe unter die Priester.

Dem ersten besten entriß er die Keule und schlug um sich wie ein Teufel, während er schnell auf den Altar zustrebte.

Beim ersten Lärm der Unterbrechung hatte Las Hand innegehalten. Als sie den Urheber dieser Störung erblickte, erblaßte sie. Sie hatte nie ahnen können, wie es dem rätselhaften weißen Manne gelungen war, aus dem Verließ, in das sie ihn eingeschlossen hatte, herauszukommen. Sie hatte nicht gedacht, daß er je wieder Opar verlassen würde, denn sie hatte auf seine riesige Gestalt und sein schönes Gesicht mit den Augen eines Weibes, nicht einer Priesterin, geschaut.

In ihrem klugen Kopfe hatte sie sich schon einen Plan zurechtgelegt. Sie wollte ihren Gläubigen erzählen, der Feuergott selbst habe sich ihr enthüllt und ihr den Befehl erteilt, diesen weißen Fremden als seinen eigenen Gesandten bei seinem Volk auf der Erde aufzunehmen. Sie wußte, daß das Volk von Opar das glauben würde, und sicher würde auch der Mann lieber als ihr Gatte bei ihr bleiben, als auf den Opferaltar zurückzukehren.

Als sie aber zu ihm ging, um ihm diesen Plan auseinanderzusetzen, war er verschwunden, obschon die Türe noch genau so verschlossen war, wie sie selbst sie verriegelt hatte. Und jetzt war er wieder da! Sein Geist hatte also wieder Körpergestalt angenommen, und nun erschlug er ihre Priester wie Schafe!

Einen Augenblick vergaß sie ihr Opfer, und ehe sie sich vor Überraschung wieder fassen konnte, stand der große Mann vor ihr und hielt das Weib, das auf dem Altar lag, in seinen Armen.

Zur Seite, La! rief er. Sie haben mich einmal gerettet, und deshalb will ich Ihnen nichts zu leide tun, aber rühren Sie sich nicht und versuchen sie nicht, uns zu folgen, sonst muß ich auch Sie töten!

Während er so sprach, schritt er mit Jane auf den Armen an ihr vorbei.

Wer ist sie? fragte die Hohepriesterin, indem sie auf das ohnmächtige Mädchen zeigte.

Sie ist mein! antwortete Tarzan.

Einen Augenblick stand die Jungfrau von Opar mit weitgeöffneten Augen da und starrte ins Leere. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust, und Tränen traten ihr in die Augen. Mit einem Schrei sank sie auf den kalten Boden, indes die Menge der Männer an ihr vorbeistürmte, um den Eindringling zu verfolgen.

Tarzan war durch denselben dunklen Gang geeilt, durch den La ihn das erstemal geführt hatte, und er war schnell in dem Gemach verschwunden, wo er wußte, daß man ihn nicht suchen würde. Da die Männer von Opar den geheimen Weg nicht kannten, den er gekommen war, so konnten sie gar nicht annehmen, daß er nach dieser Seite geflüchtet war.

Allerdings hörte er Lärm in dem großen Gebäude: offenbar suchte man nach ihm, und jedenfalls würde man wieder eine ganze Bande zu seiner Verfolgung aussenden. Aber nachdem es ihm geglückt war, seine Geliebte vor dem Opfertode zu retten, mußte er auch weiterhin auf seine Stärke und seine Klugheit vertrauen, um sie in Sicherheit zu bringen.

Er war sogar fest überzeugt, daß ihm dies gelingen würde. Als er daher die Mauer durch den geheimen Durchgang durchquert hatte, legte er Jane, die noch immer bewußtlos war, draußen auf den Boden und fügte die Steine wieder in die Mauer, damit man den geheimen Durchgang nicht finden sollte, und auch die Schatzkammer geheim bliebe. Nachdem er Jane wieder aufgehoben, trabte er durch die Gänge, kam durch die erste Tür und das Schatzgewölbe, dann durch die zweite Tür und betrat wieder den langen geraden Gang, der zu dem hochgelegenen heimlichen Ausgang in die Stadt führte.

Auf dem Felsgipfel hielt er inne, um seinen Blick auf die Stadt zurückzuwerfen. Da sah er in der Ebene einen Trupp der Männer von Opar. Einen Augenblick zögerte er. Sollte er nun hinuntergehen und zu den entfernten Gipfeln zu gelangen suchen ober sollte er sich hier verstecken, bis es dunkel wurde? Er brauchte nur einen Blick auf das bleiche Gesicht des Mädchens zu werfen, und schon war sein Entschluß gefaßt. Er konnte sie nicht hier lassen, und anderseits mußte er mit der Möglichkeit rechnen, daß Feinde ihm auch durch den Gang, den er gekommen war, folgen würden. Wenn er aber Feinde vor sich und im Rücken hatte, so ging er einer sicheren Gefangenschaft entgegen, denn mit dem bewußtlosen Mädchen beladen konnte er seinen Weg nicht durch den Feind erkämpfen.

Es war nicht möglich, den steilen Felsabhang mit Jane Porter auf den Armen hinunterzuklettern, und so mußte er sich entschließen, sie mit dem Grasseil, das er mitgenommen hatte, auf dem Rücken festzubinden. So gelang ihm der Abstieg, und da er der Stadt abgewandt war, so merkten die Männer von Opar nichts von ihm. Sie wußten ja auch nicht, daß der Gesuchte ihnen so nahe war.

Ein kleiner Hügel erhob sich zwischen ihm und seinen Verfolgern, und so gelang es Tarzan, beinahe eine Meile zurückzulegen, ehe die Männer von Opar um den Granitberg herumkamen und die Fliehenden vor sich erkannten.

Sie stießen ein wildes Freudengeschrei aus und fingen an wie verrückt zu laufen. Jedenfalls dachten sie, den mit dem Mädchen beladenen Fremden bald einholen zu können, doch sie unterschätzten die Schnelligkeit und die Kraft des Affenmenschen, während sie ihre eigenen, kurzen, krummen Beine überschätzten.

Tarzan lief immer im selben Tempo weiter, und infolgedessen blieb auch die Entfernung zwischen ihm und seinen Verfolgern immer dieselbe.

Von Zeit zu Zeit warf er einen Stick auf das Gesicht des Mädchens, das er jetzt wieder auf den Armen trug. Das arme müde Gesicht war so weiß und so verzerrt, daß, wenn er nicht den schwachen Schlag ihres Herzens gespürt hätte, er bezweifeln mußte, ob sie überhaupt noch lebte.

Nun gelangte er zu dem flachen Bergkegel und zu den Felsenspitzen. Während der letzten Meile war Tarzan wie ein Reh gelaufen, um reichlich Zeit zu haben, den Abhang hinunterzugelangen, bevor die Männer von Opar den Gipfel erreichten und ihm Felsstücke nachschleudern konnten. So war er schon eine halbe Meile weit den Abhang hinunter, als die wilden Menschen keuchend auf der Höhe anlangten.

Vor Wut und Enttäuschung schrien sie laut auf und schlugen mit den Knüppeln um sich. Sie blieben aber auf der Höhe, denn diesmal wollten sie die Verfolgung nicht über die Grenze ihres eigenen Gebiets hinaus fortsetzen. Vielleicht erinnerten sie sich ihres früheren, langen und vergeblichen Suchens, vielleicht auch gaben sie die Hoffnung auf, nachdem sie gesehen, welche Schnelligkeit der Affenmensch zu entwickeln vermochte.

Als Tarzan den Wald erreichte, der am Fuße der Hügel begann, machten die Wilden kehrt und schlugen den Rückweg nach Opar ein.


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