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Die Lotterie des Todes

Jane Porter war im Rettungsboot die erste, die am Morgen nach dem Schiffbruch der »Lady Alice« erwachte. Die andern schliefen auf den Bänken oder auf dem Boden des Bootes.

Als Jane bemerkte, daß ihr kleines Fahrzeug von den andern Booten getrennt war, wurde sie sehr unruhig. Das Gefühl des Alleinseins und der Hilflosigkeit auf der ungeheuren Fläche des Ozeans drückte sie so nieder, daß sie keinen Hoffnungsschimmer mehr sah. Sie war überzeugt, daß sie alle verloren seien.

Jetzt wurde Clayton wach. Einige Minuten lang wußte er gar nicht, wie er dran sei, aber dann erinnerte er sich des Unglücks vom vorhergehenden Tage, und schließlich fiel sein verstörter Blick auf das junge Mädchen.

Jane! rief er. Gott sei Dank, daß wir noch beisammen sind!

Schau! sagte sie traurig, indem sie mit mutloser Gebärde auf den Horizont ringsum wies, wir sind allein!

Clayton schaute prüfend nach allen Richtungen über das Wasser.

Wo mögen die andern wohl sein? sagte er. Sie können nicht untergegangen sein, denn die See war ruhig, und ich habe gesehen, daß sie nach Untergang der Jacht alle in den Booten waren.

Er weckte die andern Insassen des Bootes und besprach mit ihnen die Lage.

Es ist ganz gut, sagte einer der Matrosen, daß die Boote auseinander getrieben worden sind. Sie sind alle mit Proviant versehen, so daß in der Hinsicht das eine nicht auf das andere angewiesen ist, und wenn ein Sturm entstände, so könnte das eine dem andern doch nicht helfen. Jetzt, wo sie über den Ozean zerstreut sind, ist die Aussicht größer, daß eines von ihnen von einem Schiff aufgefunden wird und daß man dann auch nach den andern sucht. Jetzt ist die Aussicht auf Rettung viermal so groß, als wenn wir beisammen wären.

Man sah die Richtigkeit dieser Erklärung ein und war darüber erfreut, aber das dauerte nicht lange, denn als man beschlossen hatte, unaufhaltsam nach Osten auf das Festland zuzurudern, bemerkte man erst, daß die beiden Matrosen, die die beiden einzigen Ruder in Händen hatten, in der Nacht offenbar eingeschlafen und ins Meer gefallen waren; es war nichts mehr von ihnen zu sehen.

Die Matrosen gerieten hierüber in eine so heftige Auseinandersetzung, daß es fast zu einer Prügelei kam. Schließlich gelang es Clayton, sie zu beruhigen, aber eine Weile darauf beschwor Herr Thuran einen andern Sturm herauf, indem er von der Dummheit der Engländer überhaupt und der englischen Matrosen im besonderen sprach.

Laßt nur, Kameraden, sagte Tompkins, einer der Matrosen, der bisher an den Auseinandersetzungen nicht teilgenommen hatte. Wenn wir über einander herfallen, so wird uns das nichts nützen. Spider sagte vorher, wir würden nur alle blutig geschlagen werden. Jedenfalls meine ich: Was kann das Streiten helfen? Wir wollen frühstücken, das ist gescheiter.

Das ist kein übler Gedanke, meinte Thuran, und sich an Wilson, den dritten Matrosen, wendend, sagte er:

Reichen Sie mir eine von den Blechbüchsen, lieber Mann! Holen Sie sich selbst eine, versetzte Wilson mürrisch. Ich nehme keinen Befehl von einem – Fremden an. Sie sind noch nicht Kapitän dieses Schiffes.

Das Ergebnis war, daß Clayton die Büchse holen mußte, aber gleich darauf erfolgte eine andere heftige Auseinandersetzung, als einer der Matrosen Clayton und Thuran beschuldigte, die Vorräte so zu verteilen, daß sie den Löwenanteil bekämen.

Einer muß den Befehl über das Boot führen, sagte Jane Porter, die über diese ärgerlichen Auseinandersetzungen sehr ungehalten war, zumal sie sah, daß dieses gezwungene Zusammenleben vielleicht Tage lang dauern würde. Es ist schrecklich genug, auf einem schwachen Boot allein auf dem Ozean zu sein, ohne daß man sich auch noch beständig zankt und bedroht. Ihr Männer möget einen Führer wählen, dann aber müßt ihr ihm auch in allen Dingen gehorchen. Hier ist eine strenge Unterordnung noch nötiger als auf einem regelrechten Schiffe.

Bevor Jane diese Ansicht aussprach, hatte sie gedacht, es würde für sie nicht notwendig sein, sich selbst mit solchen Dingen zu befassen, denn sie glaubte, Clayton wäre imstande, für alle Fälle die nötigen Maßregeln anzuordnen; sie hatte nicht geahnt, daß ein Matrose in solcher Lage so ungefällig sein könne, nicht einmal eine Konservenbüchse herüber reichen zu wollen.

Die Worte des jungen Mädchens beruhigten einstweilen die Leute, und endlich wurde beschlossen, die zwei Wasserfäßchen und die vier Konservenbüchsen in zwei Hälften zu teilen, von denen die eine den drei Matrosen, die andere den drei Passagieren zugeteilt werden sollte.

So war also die kleine Gesellschaft in zwei Lager geteilt, und als jedes seinen Teil der Vorräte erhalten hatte, ging man gleich daran, die Konservenbüchsen und die Wasserfäßchen zu öffnen, um den Inhalt zu verteilen.

Die Matrosen öffneten zuerst eine ihrer Konservenbüchsen, und dabei zeigten sie sich so enttäuscht, ja gerieten in eine solche Wut, daß Clayton sie fragte, warum sie einen solchen Lärm machten.

Lärm! schrie Spider, Lärm! Das ist schlimmer als Lärm, das ist der Tod! Diese Büchse ist voll Benzin!

Hastig öffneten nun Clayton und Thuran auch eine ihrer Büchsen, um zu sehen, was darin sei, aber zu ihrer großen Enttäuschung sahen sie, daß sie ebenfalls Benzin enthielt. Jetzt wurden auch die andern Büchsen geöffnet, aber auch hier erfuhr man dieselbe Enttäuschung. Es war also nicht ein Gramm eines Lebensmittels an Bord!

Gott sei Dank, daß es wenigstens nicht das Wasser ist, rief Tompkins. Man kann es ohne Essen noch länger aushalten als ohne Wasser. Wenn es nicht anders ist, dann verzehren wir unsere Schuhe, aber trinken kann man sie nicht.

Während er sprach, hatte Wilson angefangen, ein Loch in eines der Wasserfäßchen zu bohren, und Spider hielt einen Becher darunter, um das kostbare Naß aufzufangen. Aber es kam kein Tropfen Wasser heraus, sondern ein dünner Strom kleiner schwärzlicher Körnchen.

Mit einem Fluch ließ Wilson das Fäßchen fallen und starrte sprachlos vor Schrecken in den Becher.

Die Fäßchen sind mit Pulver gefüllt, teilte Spider in dumpfem Ton mit.

Er holte nun das andere und bohrte es ebenfalls an. Aber auch darin war kein Wasser, sondern Pulver.

Benzin und Pulver, rief Thuran aus, Donnerwetter, das nenne ich Nahrung für Schiffbrüchige!

Seitdem man wußte, daß nichts Eßbares und nichts Trinkbares an Bord war, machten sich Hunger und Durst noch mehr bemerkbar, und so fing schon am ersten Tage nach dem tragischen Abenteuer das Leiden mit grimmigem Ernst an, und nun kam der ganze Schrecken der Schiffbrüchigen über die Unglücklichen.

Als weitere Tage vergingen, wurden die Verhältnisse immer schrecklicher. Mit leidenden Augen suchten die Insassen des Bootes Tag und Nacht den Horizont ab, bis sie müde und erschöpft auf den Boden des Schiffes sanken und sich in von Träumen gestörtem Schlummer wenigstens etwas von den Schrecken der Wirklichkeit erholten.

Vor lauter Hungerqualen hatten die Matrosen ihre ledernen Riemen, ihre Schuhe und die Schweißleder ihrer Mützen zerschnitten und aufgegessen, obschon Clayton und Thuran sich alle Mühe gegeben hatten, sie davon abzuhalten, da dies nur ihre Qualen vermehren würde.

Schwach und hoffnungslos lagen alle in der Glut der tropischen Sonne mit vertrockneten Lippen und geschwollenen Zungen, und warteten auf den Tod, den sie herbeisehnten.

Die Leiden der ersten Tage hatten die drei Passagiere, die nichts gegessen hatten, abgestumpft, aber der Todeskampf der Matrosen war schrecklich, als ihr schwacher Magen versuchte, die Lederstücke, mit denen er gefüllt war, zu verdauen.

Tompkins war der erste, der seinen Qualen erlag. Gerade eine Woche nach dem Untergang der »Lady Alice« starb der Matrose unter furchtbaren Zuckungen.

Stundenlang lag die Leiche mit dem scheußlich entstellten Gesicht hinten im Boot, bis Jane Porter den Anblick nicht länger ertragen konnte.

Können Sie den Leichnam nicht über Bord werfen, William? fragte sie.

Clayton stand auf und schwankte nach der Leiche hin. Die beiden noch lebenden Matrosen betrachteten ihn mit merkwürdigen drohenden Blicken aus ihren tiefliegenden Augen. Der Engländer versuchte den Leichnam bis an den Rand des Bootes zu heben, aber er war dazu schon zu schwach.

Bitte helfen Sie mir ein wenig, sagte er zu Wilson, der am nächsten bei ihm lag.

Was wollen Sie denn eigentlich? fragte der Matrose in ärgerlichem Tone.

Ich bin zu schwach, um den Körper allein aufzuheben und über Bord zu werfen. Wir können ihn hier nicht in der brennenden Sonne liegen lassen.

Lassen Sie ihn nur! knurrte Wilson. Wir brauchen ihn morgen.

Nur langsam erfaßte Clayton den Sinn dieser Worte. Die beiden Matrosen wollten nicht, daß man ihren Kameraden ins Meer warf, sie wollten ihn also ...

Nein, es war zu schauderhaft, er konnte es nicht glauben.

O Gott, flüsterte er in ängstlichem Ton, Sie wollen doch nicht ...?

Weshalb nicht? knurrte Wilson. Wovon sollen wir denn leben? Der da ist tot. Dem macht's nichts mehr aus.

Kommen Sie her, Thuran, sagte Clayton, indem er sich an den Russen wandte. Wir werden noch etwas Schlimmeres als den Tod erleben, wenn wir diese Leiche nicht vor Einbruch der Nacht über Bord werfen.

Wilson versuchte sich zu erheben, um sie daran zu verhindern, aber als er sah, daß sein Kamerad Spider auf seiten Claytons und Thurans trat, gab er sein Vorhaben auf, und begnügte sich, mit hungrigen Augen dem Leichnam nachzuschauen, den die drei Männer unter Aufbietung aller Kräfte über Bord warfen.

Den Rest des Tages saß Wilson da, immer wieder auf Clayton stierend. Seine Augen waren wie die eines Wahnsinnigen.

Gegen Abend, als die Sonne im Meere unterging, fing er an undeutlich mit sich selbst zu sprechen, aber seine Augen ließen nicht von Clayton ab.

Auch nachdem es finster geworden war, fühlte Clayton, daß die furchtbaren Augen noch immer auf ihn gerichtet waren. Er wagte es nicht, zu schlafen, und doch war er so matt, daß er sich beständig anstrengen mußte, um bei Bewußtsein zu bleiben. Nach einer ihm endlos vorkommenden Leidenszeit sank sein Kopf auf ein Brett und er schlief ein.

Wie lange er bewußtlos da gelegen hatte, wußte er nicht, aber plötzlich wurde er durch das Geräusch schwankender Tritte in seiner Nähe wach. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und als Clayton erschrocken seine Augen öffnete, sah er, wie Wilson heimlich an ihn heranschlich; aus dem offenen Munde hing die geschwollene Zunge heraus.

Durch das Geräusch war auch Jane Porter wach geworden. Als sie die häßliche Szene sah, stieß sie einen schrillen Hilferuf aus, und im selben Augenblick fiel der Matrose über Clayton her. Wie ein wildes Tier suchte er den Überfallenen in die Gurgel zu beißen, aber so schwach Clayton auch war, so gelang es ihm doch, die Bisse des Wütenden von sich abzuhalten.

Durch Jane Porters Schrei waren auch Thuran und Spider geweckt worden. Als sie sahen, was da vorging, bemühten sie sich, Clayton zu Hilfe zu kommen, und den vereinten Anstrengungen der drei gelang es, Wilson zu überwältigen und ihn auf den Boden des Bootes niederzuwerfen.

Einige Minuten lag er hier, mit sich selbst redend und lachend, und dann sprang er mit einem schrecklichen Fluche auf und stürzte sich über Bord, ehe noch einer der andern ihn hatte zurückhalten können.

Infolge der furchtbaren Aufregung zitterten die Überlebenden. Alle waren völlig niedergeschlagen. Spider brach zusammen und weinte. Jane Porter betete, Clayton sprach leise vor sich hin, Thuran aber saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und dachte nach.

Am nächsten Morgen gab der Russe das Ergebnis seines Nachdenkens bekannt. Er sagte nämlich zu Clayton und Spider:

Sie sehen, welches Schicksal uns alle erreichen wird, wenn wir nicht heute oder morgen von einem Schiff aufgelesen werden. Dafür aber besteht nur wenig Hoffnung, da wir all die Tage, während wir umhergetrieben, weder ein Segel noch eine Spur von Rauch am Horizont gesehen haben.

Es ginge noch, wenn wir Lebensmittel hätten, aber ohne Lebensmittel ist keine Aussicht mehr. Da bleiben für uns nur zwei Möglichkeiten und wir müssen uns für eine derselben entscheiden. Entweder müssen wir alle in den nächsten Tagen sterben, oder einer von uns muß aufgeopfert werden, damit die andern am Leben bleiben. Verstehen Sie, was ich meine?

Jane Porter, die zugehört hatte, war entsetzt. Wenn der arme, ungebildete Matrose den Vorschlag gemacht hätte, so hätte man sich nicht so sehr darüber zu wundern brauchen, aber daß er von einem Manne, der sich als gebildet ausgab und der ein Gentleman sein wollte, kam, das war ihr ganz unbegreiflich.

Dann ist es besser, wir sterben alle zusammen, sagte Clayton.

Es ist an der Mehrheit, zu entscheiden, erwiderte Thuran. Wir wollen darüber abstimmen, ob einer von uns dreien aufgeopfert werden soll. Miß Porter braucht sich nicht daran zu beteiligen, da sie nicht in Gefahr ist.

Wie sollen wir aber erfahren, wer der erste sein wird? fragte Spider.

Das soll durch das Los entschieden werden, antwortete Thuran. Ich habe hier in meiner Tasche eine Anzahl Frankenstücke. Wir können eine gewisse Jahreszahl auf diesen Münzen auswählen. Wer unter einem Tuch das erste Geldstück mit dieser Jahreszahl herausgreift, der soll der erste sein, der geopfert wird.

Mit einem solchen teuflischen Plan will ich nichts zu tun haben, erklärte Clayton. Da warte ich noch lieber, bis wir Land sichten oder ein Schiff erscheint.

Sie haben zu tun, was die Mehrheit beschließt oder Sie werden eben der erste sein, ohne daß ein Los gezogen wird, erwiderte Thuran ihm in drohendem Tone. Wir wollen über den Plan also abstimmen. Ich bin dafür. Und Sie, Spider? Ich auch, erwiderte der Matrose.

Es ist also der Wille der Mehrheit, verkündete Thuran, und jetzt wollen wir mit dem Losziehen seine Zeit verlieren. Es handelt sich um den einen wie um den andern. Damit drei noch am Leben bleiben können, muß einer von uns vielleicht ein paar Stunden früher sterben als sonst.

Er begann dann mit den Vorbereitungen für die Todeslotterte, während Jane Porter entsetzt mit weit geöffneten Augen dasaß und an das Unsagbare dachte.

Thuran breitete seinen Rock auf dem Boden des Bootes aus, und dann nahm er aus einer Handvoll Hartgeld sechs Frankenstücke. Die beiden anderen Männer beugten sich über ihn, um aufzupassen. Schließlich gab er Clayton die Geldstücke.

Sehen Sie sich sie sorgfältig an, sagte er. Das älteste Stück ist von 1875, und nur eines ist darunter von diesem Jahr.

Clayton und der Matrose sahen jedes einzelne Frankenstück an. Es schien ihnen mit Ausnahme der Jahreszahl nicht der geringste Unterschied zwischen den einzelnen Stücken zu bestehen. In dieser Hinsicht waren sie also beruhigt. Hätten sie allerdings gewußt, daß Thuran als ein Gauner im Kartenspiel seinen Tastsinn durch Erfahrungen so verfeinert hatte, daß er Karten durch bloßes Anfühlen unterscheiden konnte, so hätten sie sein Verfahren wohl kaum als einwandfrei angesehen. Das Frankenstück von 1875 war um ein Haar dünner als die andern, aber weder Clayton noch Spider hätten das ohne Hilfe eines Mikrometers bemerken können.

In welcher Reihenfolge wollen wir losen? fragte Thuran, denn er wußte, daß bei einer Ziehung, bei der es sich um etwas Unangenehmes handelt, die meisten Menschen es vorziehen, zuletzt zu ziehen; sie glauben dann immer, vielleicht würde der, der vor ihnen zieht, das Pech haben. Thuran hatte aber seine guten Gründe, als erster zu ziehen.

Als nun Spider zuletzt ziehen wollte, erklärte Thuran sich freundlich bereit, den Anfang zu machen. Er hielt die Hand nur einen Augenblick unter den Rock, aber seine gewandten Finger befühlten jedes Stück und er hatte sehr schnell den verhängnisvollen Franken wieder ausgeschieden. Als er die Hand hervorzog, enthielt sie einen Franken von 1888.

Dann kam die Reihe an Clayton. Jane Porter war aufs höchste gespannt und ihr Gesicht verriet eine fürchterliche Angst, als ihr zukünftiger Mann unter den Rock griff. Jetzt zog er die Hand zurück, aber er wagte es nicht, das darin liegende Frankenstück zu betrachten. Thuran aber, der sich herabbeugte, um die Jahreszahl zu sehen, sagte, er sei gerettet.

Zitternd sank Jane Porter auf die Seite des Bootes. Es war ihr ganz schwindelig geworden. Und jetzt, wenn Spider nicht den Franken von 1875 zog, mußte sie den ganzen Schrecken nochmals erleben!

Der Matrose hielt die Hand bereits unter dem Rock. Große Schweißtropfen liefen ihm über die Stirne. Er zitterte wie in einem Anfall von Fieberfrost. Laut verfluchte er sich selbst, daß er so dumm gewesen, als letzter ziehen zu wollen, weil jetzt seine Aussicht wesentlich schlechter war.

Der Russe zeigte sich ganz geduldig und drängte den Matrosen in keiner Weise, denn er wußte genau, daß ihm selbst keine Gefahr drohte, mochte Spider jetzt den Franken von 1875 ziehen oder nicht.

Als nun der Matrose die Hand herauszog und das Geldstück ansah, fiel er ohnmächtig in das Boot. Clayton und Thuran beeilten sich, das Stück anzusehen, das dem Manne aus der Hand gefallen war und neben ihm lag. Es war aber nicht von 1875. Die ängstliche Aufregung, in der Spider sich befand, war so groß, daß sie auf ihn genau dieselbe Wirkung ausübte, als wenn er das verhängnisvolle Geldstück ausgewählt hätte.

Nun mußte also das ganze Verfahren von neuem beginnen. Der Russe hatte wiederum Glück. Jane Porter schloß die Augen, als Clayton unter den Rock griff. Spider bückte sich mit weit aufgerissenen Augen über die Hand, die sein Schicksal entscheiden würde, denn wenn Clayton Glück hatte, so war er selbst verloren.

Nun zog Clayton die Hand heraus, aber er hielt sie fest verschlossen und schaute auf Jane Porter. Er wagte es nicht, die Hand zu öffnen ...

Schnell! drängte Spider. Mein Gott, lasten Sie doch sehen!

Clayton öffnete die Finger. Spider war der erste, der die Jahreszahl erkannte, und ehe noch jemand wußte, was er vor hatte, war er aufgesprungen, hatte sich über den Bord des Bootes gestürzt und war in der grünen Tiefe des Meeres verschwunden.

Claytons Franken war nicht das Stück von 1875.

Die Aufregung der Ueberlebenden war so groß, daß sie den Rest des Tages erschöpft und halb bewußtlos liegen blieben. Nun vergingen noch mehrere Tage, ohne daß von der Loseziehung wieder die Rede ging. Es waren schreckliche Tage, in denen die Erschöpfung und die Mutlosigkeit stetig zunahmen.

Zuletzt kroch Thuran zu Clayton heran.

Wir müssen nochmals losen, bevor wir zu schwach sind, um überhaupt noch essen zu können, flüsterte er.

Clayton war in einem solchen Zustand, daß er kaum noch eines Gedankens oder eines Entschlusses fähig war. Jane Porter hatte schon seit drei Tagen kein Wort mehr gesprochen. Clayton sah, daß es mit ihr zu Ende ging. So schrecklich ihm auch der Gedanke war, so hoffte er doch, daß das Opfer, das Thuran oder er bringen müßte, ihr die Mittel geben würde, wieder zu Kräften zu gelangen, und so war er mit dem Vorschlage des Russen einverstanden.

Sie zogen wieder unter denselben Verhältnissen wie früher, aber jetzt konnte es nur mehr ein Ergebnis sein: Clayton zog den Franken von 1875.

Wann soll es sein? fragte er Thuran.

Der Russe hatte schon sein Taschenmesser herausgezogen und war im Begriff, es zu öffnen.

Jetzt! knurrte er, und seine begierigen Augen stierten den Engländer an.

Können Sie nicht warten, bis es dunkel ist? fragte Clayton. Miß Porter braucht es doch nicht zu sehen. Wie Sie wissen, sollten wir uns heiraten.

Die Enttäuschung malte sich auf Thurans Gesicht.

Gut, antwortete er zögernd. Es ist ja nicht mehr lange bis zur Nacht. Ich habe Tage lang gewartet – nun kann ich auch noch ein paar Stunden warten.

Ich danke Ihnen, mein Freund, murmelte Clayton. Jetzt will ich zu ihr gehen und bei ihr bleiben, so lange es geht. Ich möchte noch ein oder zwei Stunden bei ihr bleiben, bevor ich sterbe.

Als Clayton an die Seite seiner Braut gelangt war, lag sie bewußtlos da. Er sah, daß sie am Sterben war, und er war glücklich, daß sie die furchtbare Tragödie, die sich so bald abspielen sollte, nicht mehr sehen würde. Er nahm ihre Hand und führte sie an seine gerissenen und geschwollenen Lippen. Lange Zeit liebkoste er das abgemagerte Ding, das einst die schöne, tadellos weiße Hand der jungen Baltimorer Dame gewesen war.

Inzwischen wurde es dunkel, ohne daß er darauf achtete, aber er wurde durch eine Stimme daran gemahnt.

Es war der Russe, der ihn an sein Schicksal erinnerte.

Ich komme, Herr Thuran! antwortete er.

Dreimal versuchte er auf Händen und Füßen weiter zu kommen, um dem Tode entgegenzuschleichen, aber in den wenigen Stunden, die er neben Jane gelegen hatte, war er zu schwach geworden, um zu Thuran zurückzukehren.

Sie müssen schon zu mir kommen, Herr Thuran, sagte er mit schwacher Stimme. Ich habe nicht mehr Kraft genug, um meine Hände und meine Knie zu benützen.

Donnerwetter! fluchte Thuran. Sie wollen wohl versuchen, mich um meinen Gewinn zu bringen.

Clayton hörte, wie der Mann sich auf dem Boden des Bootes abmühte, weiter zu gelangen. Schließlich hörte er nur mehr ein verzweifeltes Knurren. Ich kann nicht mehr weiter, hörte er den Russen jammern. Es ist zu spät. Du hast mich betrogen, gemeiner englischer Hund!

Ich habe Sie nicht betrogen! erwiderte Clayton. Ich habe alles versucht, um aufzustehen, aber ich will es nochmals versuchen und wenn Sie es auch tun wollen, so kann jeder den halben Weg weit kriechen, und dann sollen Sie Ihren »Gewinn« haben.

Wieder versuchte Clayton, seine letzten Kräfte bis aufs äußerste anzustrengen, und er hörte, daß auch Thuran das gleiche tat. Aber erst nach einer Stunde ungefähr gelang es dem Engländer, sich auf Händen und Knien aufzurichten, doch bei der ersten Bewegung nach vorwärts fiel er wieder auf das Gesicht.

Einen Augenblick später hörte er den Russen erleichtert sagen: Ich komme.

Wieder versuchte Clayton seinem Schicksal entgegenzugehen, aber wieder stürzte er seiner ganzen Länge nach auf den Boden, und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht mehr, sich zu erheben. Durch seine letzte Bewegung kam er auf den Rücken zu liegen, und so lag er nun da, nach den Sternen hinaufschauend, während er hinter sich das immer näherkommende Stöhnen und Schnaufen des Russen hörte.

Er mußte wohl schon eine Stunde lang dagelegen und auf das Herannahen des Mannes gewartet haben, der seinem Elend ein Ende bereiten sollte. Er war jetzt ganz nahe, aber die Pausen zwischen seinen Anstrengungen, um vorwärts zu kommen, wurden immer länger, und es schien dem Engländer, als ob die Vorwärtsbewegungen kaum noch merkbar wären.

Schließlich merkte er, daß Thuran ganz nahe bei ihm war. Er hörte ein Gekicher und fühlte, daß sein Gesicht berührt wurde, dann verlor er das Bewußtsein.


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