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Numa »el adrea«

An demselben Tage, an dem Kadur ben Saden nach Süden ritt, brachte die Post aus dem Norden Tarzan einen Brief von d'Arnot, der ihm von Sidi bel Abbes nachgesandt worden war. Dieser Brief öffnete in seinem Herzen wieder eine alte Wunde, die er gern vergessen hätte, aber er war nicht traurig darüber, daß sein Freund ihm geschrieben, denn er hatte noch Interesse für alles, was dieser ihm mitteilte.

Der Brief lautete wie folgt:

Mein lieber Jean!

Seit ich Ihnen zuletzt geschrieben, war ich in einer geschäftlichen Angelegenheit nach London gereist. Ich blieb aber nur drei Tage dort. Schon am ersten Tage traf ich ganz unerwartet in der Henrietta-Straße einen alten Freund von Ihnen. Sie würden gewiß nicht erraten, wer es war. Kein anderer als Mr. Samuel T. Philander! Sie werden ungläubig dreinschauen und doch ist es wahr! Er bestand darauf, daß ich ihn ins Hotel begleitete, und dort fand ich die andern: Professor Archimedes Q. Porter, Miß Porter und das ungeheure schwarze Weib, Miß Porters Dienerin, Esmeralda, deren Sie sich gewiß erinnern. Während ich bei ihnen war, kam auch Clayton herein. Sie werden nun bald heiraten, wahrscheinlich sogar sehr bald, ja ich vermute, daß wir in den nächsten Tagen die Trauungsanzeige erhalten. Mit Rücksicht auf den erst vor Monaten stattgefundenen Tod seines Vaters wird die Hochzeit im Stillen gefeiert, und es werden nur die nächsten Verwandten daran teilnehmen.

Als ich mit Mr. Philander allein war, wurde der alte Herr gesprächiger. Er sagte, Miß Porter habe die Hochzeit dreimal hinausgeschoben. Es habe ihm geschienen, als sehne sie sich überhaupt nicht darnach, Clayton zu heiraten; diesmal scheine es aber ernst zu werden.

Alle haben nach Ihnen gefragt, aber ich habe Ihrem Wunsche gemäß nichts von Ihrer Abstammung gesagt und nur über Ihre jetzigen Geschäfte gesprochen.

Miß Porter interessierte sich für alles, was ich von Ihnen erzählte, und fragte auch mancherlei über Sie. Ich glaube, es war nicht ganz ritterlich von mir, ihr Ihren Entschluß, eventuell in Ihre Dschungel zurückzukehren, in so lebhaften Farben auszumalen. Hernach tat es mir leid, denn ich sah, daß sie sehr erschreckt war über die Gefahren, in die Sie sich wieder begeben wollten. Und doch – ich weiß nicht, sagte sie, es gibt hier mehr unglückliche Zufälle, als die furchtbare Dschungel sie bietet. Tarzan will ein freies Leben führen. Und dort gibt es am Tage eine so herrliche Ruhe und Ausblicke von so auserlesener Schönheit. Sie werden es sonderbar finden, daß ich das sage, wo ich doch in dem Walde so Schreckliches erlebt habe, und doch sehne ich mich zuweilen nach dort zurück, denn ich habe dort die glücklichsten Augenblicke meines Lebens verbracht.

Es lag ein unsäglich trauriger Ausdruck auf ihrem Gesichte, als sie so sprach, denn sie wußte offenbar, daß ich ihr Geheimnis kannte, und dies sollte der Weg sein, auf dem sie Ihnen die letzte zärtliche Botschaft Ihres Herzens sandte, das die Erinnerung an Sie treu bewahrt, obschon jetzt ein anderer darüber verfügt.

Clayton war jedesmal, wenn von Ihnen die Rede ging, nervös und ungehalten, doch sprach er sich in freundlichen Ausdrücken über Sie aus. Ich frage mich, ob er nicht die Wahrheit ahnt.

Tennington kam herein zu Clayton. Wie Sie wissen, sind die beiden sehr befreundet. Er steht im Begriffe, wieder eine jener endlosen Fahrten anzutreten, die er auf seiner Jacht zu unternehmen pflegt, und lud die ganze Gesellschaft ein, mit ihm zu fahren. Er versuchte, auch mich dafür zu kapern. Er will um ganz Afrika herumsegeln. Ich sagte ihm, er würde noch einmal mit seinem kostbaren Spielzeug mitsamt einigen seiner Freunde auf den Meeresgrund fahren, denn seine Jacht sei doch kein Ozeandampfer oder Kriegsschiff.

Ich bin vorgestern nach Paris zurückgekehrt, und traf gestern den Grafen und die Gräfin de Coude bei den Pferderennen. Sie fragten nach Ihnen. De Coude scheint wirklich sehr von Ihnen eingenommen zu sein. Er wird Ihnen nicht mehr das Geringste nachtragen. Olga ist so schön wie noch je, aber sie scheint ein wenig niedergeschlagen zu sein. Ich denke, der Vorfall mit Ihnen war ihr eine Lehre für den ganzen Rest ihres Lebens. Es war ein Glück für sie und für den Grafen, daß Sie in das Abenteuer verwickelt waren und nicht ein weniger gewissenhafter Mensch.

Sie bat mich, Ihnen mitzuteilen, daß Nikolaus Frankreich verlassen hat. Sie bezahlte ihm zwanzigtausend Franken, damit er fortgehen und nie wiederkommen sollte. Sie war froh, daß er fortging, bevor er versuchte, die kürzlich ausgesprochene Drohung, er werde Sie bei der ersten Gelegenheit umbringen, auszuführen. Sie sagte, sie könnte gar nicht daran denken, daß Sie Ihre Hand mit dem Blute ihres Bruders beflecken sollten; denn sie ist wirklich gut auf Sie zu sprechen und verheimlicht das auch gar nicht vor ihrem Manne. Sie schien keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß ein Zusammenstoß zwischen Ihnen und Nikolaus einen blutigen Ausgang haben werde. Der Graf war auch dieser Meinung und sagte, es wäre ein ganzes Regiment Rokoffs erforderlich, um Sie zu töten. Er hat eine sehr heilsame Achtung vor Ihrer Tapferkeit.

Ich bin auf mein Schiff zurückbeordert worden. In zwei Tagen fährt es mit versiegeltem Befehl von Havre ab. Wenn Sie mir schreiben wollen, so wird der Brief mir wohl nachgesandt. Ich werde Ihnen schreiben, sobald sich wieder die Möglichkeit dazu bietet.

Ihr ergebener Freund
Paul d'Arnot.

Ich fürchte, sagte Tarzan halblaut, Olga hat ihre zwanzigtausend Franken weggeworfen.

Mehrmals las er den Teil des Briefes, der über die Unterredung mit Jane Porter berichtete. Er war dabei traurig und doch glücklich.

Die folgenden drei Wochen verliefen ruhig und ohne Zwischenfall. Verschiedene Male sah Tarzan den geheimnisvollen Araber. Er hatte auch hin und wieder ein paar Worte mit dem Leutnant Gernois gewechselt, aber nichts über ihn erfahren können, was auf Spionage oder auf Feindseligkeit gegen ihn hätte deuten können.

Seit dem Zwischenfall im Speisesaal des Hotels zu Aumale hatte Gernois, der ja ohnehin nie herzlich war, sich von Tarzan ferngehalten, und bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie notgedrungen mit einander in Berührung kamen, nahm er eine offensichtlich feindliche Haltung gegen ihn ein.

Da Tarzan sich als Jäger ausgegeben hatte, so ging er, um den Schein zu wahren, häufig in der Umgegend auf die Jagd. Ganze Tage wanderte er in dem Hügelgelände umher, aber jedesmal, wenn er nahe genug an eine der zierlichen Gazellen heran war, um schießen zu können, ließ er sie wieder entwischen. Er konnte kein Vergnügen daran finden, so harmlose und wehrlose Tiere zu erschießen.

In Wirklichkeit hatte er ja auch früher nie ein Tier zum Vergnügen getötet. Er hatte nur Freude am richtigen Kampfe und an einem wirklichen Sieg. In der kühnen Jagd auf Wildbret mußte er seine Gewandtheit und seine Kraft ebenfalls mit der Gewandtheit und der Kraft eines Tieres messen. Aber mit wohlgefülltem Magen aus der Stadt zu gehen, um eine sanftäugige hübsche Gazelle zu schießen, ach nein! Das schien ihm grausamer als die kaltblütige Ermordung eines Menschen. Davon wollte Tarzan nichts wissen, und deshalb ging er allein auf die Jagd, damit man nicht merken sollte, daß er kein Tier schießen wollte.

Einmal war er in Lebensgefahr und zwar wahrscheinlich, weil er allein ausgeritten war. Er war langsam durch eine kleine Schlucht geritten, als nahe bei ihm ein Schuß ertönte und eine Kugel durch seinen Korkhelm sauste. Er drehte sich sofort um und galoppierte auf die Spitze des Hügels, aber er konnte keinen Feind entdecken, und auch auf dem Rückweg nach Bu Saada konnte er nirgends ein menschliches Wesen ausfindig machen.

Ja, sagte er zu sich selbst, Olga hat ihre zwanzigtausend Franken umsonst ausgegeben.

An jenem Abend war er von dem Hauptmann Gerard zu einem kleinen Essen eingeladen.

Sie haben wohl nicht viel Glück auf der Jagd gehabt? fragte der Offizier.

Nein, erwiderte Tarzan, das kleine Wild hier herum ist recht scheu; es liegt mir auch nicht viel daran, Kleinwild zu schießen. Ich habe die Absicht, weiter nach Süden zu gehen, und es mit einigen Ihrer algerischen Löwen zu versuchen.

Gut, sagte der Hauptmann. Morgen werden wir nach Djelfa marschieren. Vielleicht schließen Sie sich der Truppe an. Leutnant Gernois und ich sind mit dreihundert Mann nach Süden beordert, um ein Gebiet abzusuchen, in dem Räuber Unruhen verursachen. Vielleicht haben wir das Vergnügen, zusammen auf die Löwenjagd zu gehen. Was meinen Sie dazu?

Tarzan war mit dem Vorschlag gern einverstanden und zögerte auch nicht mit seiner Zusage, aber der Hauptmann wäre verwundert gewesen, wenn er den wahren Grund von Tarzans Freude erfahren hätte. Gernois saß ihm gegenüber, und dieser schien über die Einladung des Hauptmanns nicht so erfreut zu sein.

Sie werden sehen, bemerkte der Hauptmann Gerard, daß die Löwenjagd aufregender und gefährlicher ist als die Gazellenjagd.

Auch diese hat ihre Gefahren, versetzte Tarzan, besonders wenn man allein ausgeht. Das habe ich heute erfahren. Ich habe auch gefunden, daß die Gazelle zwar das furchtsamste, aber noch lange nicht das feigste Tier ist.

Dabei begnügte er sich, einen flüchtigen Blick auf Gernois zu werfen, weil er weiter keinen Argwohn bei diesem erregen wollte. Er wollte ihm aber doch zu verstehen geben, daß ihm der Zusammenhang mit gewissen Ereignissen bekannt sei. Gernois wurde denn auch rot, aber Tarzan tat, als sehe er es nicht. Er hatte seine Absicht erreicht und nahm ein anderes Gespräch auf.

Am nächsten Morgen war die Kolonne marschfertig zum Ritt nach Süden. Merkwürdigerweise befand sich ein Dutzend Araber im Nachtrab.

Auf Tarzans Frage antwortete Gerard: Diese Leute gehören nicht zum Kommando. Sie schließen sich uns nur an.

Tarzan hatte seit seiner Ankunft in Algerien den Charakter der Araber genügend kennen gelernt, um zu wissen, daß das nicht der wirkliche Grund sein könne; denn der Araber hält durchaus nichts von der Gesellschaft mit Fremden und insbesondere mit französischen Soldaten. So wurde Tarzans Mißtrauen wach, er war entschlossen, ein wachsames Auge auf den kleinen Trupp zu haben, der in einer Entfernung von etwa einer Viertelmeile der Kolonne folgte. Sie kamen aber auch an den Raststellen nicht so nahe heran, daß Tarzan sie hätte näher beobachten können.

Er war längst überzeugt, daß es gedungene Mörder seien, und zweifelte auch nicht daran, daß Rokoff hinter der Verschwörung stand. Er war sich allerdings nicht klar darüber, ob der Russe sich für die erlittenen Demütigungen rächen wollte oder ob er mit Gernois in einer Spionagesache in Verbindung stand. Wenn dies letztere der Fall war – und das erschien ihm sehr wahrscheinlich, seitdem Gernois erkannt hatte, daß er ihn als verdächtig beobachtete – so hatte er mit zwei starken Feinden zu rechnen, die in der Wildnis Algeriens mancherlei Möglichkeiten hatten, ihn in aller Ruhe und ohne Verdacht zu erregen, zu beseitigen.

Nachdem die Kolonne zwei Tage in Djelfa gelagert hatte, ritt sie dem Südwesten zu, woher die Meldung über das Auftreten der Plünderer gekommen war, die die Stämme am Fuße der Berge heimsuchten.

Der kleine Arabertrupp, der seit Bu Saada gefolgt war, war plötzlich verschwunden und zwar in derselben Nacht, in der der Befehl zum Abmarsch von Djelfa für den nächsten Morgen erteilt wurde. Tarzan erkundigte sich scheinbar zufällig bei den Leuten, aber keiner konnte ihm sagen, wo der Trupp geblieben oder wohin er abgezogen sei. Die Geschichte war ihm verdächtig vorgekommen, zumal er eine halbe Stunde, bevor der Hauptmann Gerard die Anweisung zum Abmarsch erteilte, Gernois in Unterredung mit einem der Araber gesehen hatte. Nur Gernois und Tarzan kannten die Richtung des einzuschlagenden neuen Marsches. Das einzige, was die Soldaten wußten, war, daß sie sich bereit halten müßten, früh am nächsten Morgen das Lager abzubrechen. Tarzan fragte sich, ob Gernois den Arabern nicht das Reiseziel verraten habe.

Spät am Nachmittag lagerte man in einer kleinen Oase, um die sich die Weideplätze eines Scheiks breiteten, dessen Herden gestohlen und dessen Hirten getötet worden waren. Die Araber kamen aus ihren Ziegenfell-Zelten herzu und umringten die Soldaten, sie mit Fragen bestürmend, denn die Soldaten waren ebenfalls Eingeborene. Tarzan, der inzwischen mit Hilfe Abduls einige Worte Arabisch gelernt hatte, fragte einen der jungen Männer aus, die den Scheik bei seiner Begrüßung des Hauptmanns Gerard begleitet hatten.

Nein, er hatte keinen Trupp von zwölf Reitern aus der Richtung von Djelfa kommen sehen. Es lägen noch andere Oasen in der Gegend zerstreut, vielleicht seien sie nach einer von diesen gezogen. Dann gäbe es auch Räuber in den Bergen ringsum; diese streiften oft in kleinen Trupps nördlich nach Bu Saada und sogar bis Aumale und Buira. Vielleicht habe es sich auch um einzelne Räuber gehandelt, die von einem Vergnügungsritt nach einer dieser Städte zu ihrer Bande zurückkehrten.

Früh am nächsten Morgen teilte der Hauptmann Gerard seine Kolonne in zwei Teile, indem er dem Leutnant Gernois das Kommando über den einen Teil übertrug, während er das über den andern behielt. Sie wollten die Berge jenseits der Ebene säubern.

Und mit welcher Abteilung will Herr Tarzan reiten? fragte der Hauptmann. Oder liegt dem Herrn vielleicht nichts daran, mit auf die Räuberjagd zu gehen?

O doch, sehr viel, antwortete Tarzan hastig. Er fragte sich, welche Entschuldigung er vorbringen könnte, um nicht Gernois begleiten zu müssen. Seine Verlegenheit dauerte aber nicht lange, denn Gernois selbst sagte:

Falls Herr Hauptmann für diesmal auf die Gesellschaft des Herrn Tarzan verzichten können, so würde ich es als eine Ehre betrachten, wenn Herr Tarzan sich mir anschlöße.

Dies klang so freundschaftlich, daß Tarzan nicht widersprechen durfte. So kam es, daß beide sich etwas gesucht beeilten, ihre Zufriedenheit über diese Vereinbarung zu beteuern.

Leutnant Gernois und Tarzan ritten also Seite an Seite an der Spitze der kleinen Abteilung Spahis. Gernois' Freundlichkeit dauerte nicht lange. Sobald sie so weit voran waren, daß Hauptmann Gerard und seine Leute sie nicht mehr sehen konnten, verfiel er wieder in seine frühere Schweigsamkeit. Das Gelände wurde immer unebener. Dann stieg es gegen die Berge an, in die man durch eine enge Schlucht einrückte, die gegen Süden geschlossen war. Am Rande eines Bächleins lies Gernois zum Mittagessen absitzen. Die Mannschaften bereiteten hier ihr einfaches Mahl.

Nach einer Stunde Rast rückten sie weiter in die Schlucht vor. Schließlich kamen sie in ein kleines Tal, in das verschiedene Felsschluchten mündeten. Hier hielten sie abermals, während Gernois minutenlang die sie einschließenden Höhen mit dem Auge absuchte.

Hier müssen wir uns zerstreuen, entschied er; jeder reitet einzeln durch eine dieser Schluchten.

Dann fing er an, die einzelnen Mannschaften zu verteilen und ihnen seine Befehle zu geben. Dann wandte er sich an Tarzan:

Sie werden so gut sein, bis zu unserer Rückkehr hier zu bleiben.

Tarzan erhob dagegen Einwendungen, aber der Offizier fertigte ihn kurz ab:

Die Abteilungen können in einen Kampf geraten und dabei dürfen Zivilisten, die nicht kämpfen, sie nicht behindern.

Aber, mein lieber Leutnant, erwiderte Tarzan, ich bin ja ganz gerne bereit, mich unter Ihren Befehl oder den eines Ihrer Sergeanten oder Korporale zu stellen und ebenso wie sie zu kämpfen. Zu dem Zweck bin ich ja mitgekommen.

Das glaube ich wohl, erwiderte Gernois im höhnischen Ton, aus dem der Ärger deutlich zu erkennen war. Aber Sie stehen unter meinem Befehl und dieser lautet, daß Sie hier zu warten haben, bis wir zurückkehren. Damit ist die Sache erledigt.

Mit diesen Worten wandte er sich um und setzte sich an die Spitze seiner Leute.

Einen Augenblick später war Tarzan mitten in der öden Bergwildnis allein.

Die Sonne schien heiß, und deshalb suchte er den Schatten eines nahen Baumes aus. Dort band er sein Pferd an und setzte sich rauchend auf den Boden. Er war ärgerlich über den Streich, den Gernois ihm gespielt hatte. Das ist seine Rache, dachte er, aber dann sagte er sich, der Mann wäre doch nicht so dumm, sich seine Feindschaft durch ein so kleinliches Verhalten zuzuziehen. Da mußte noch ein anderer Grund vorhanden sein. Er nahm deshalb sein Gewehr und sah nach, ob es auch gut geladen sei und überprüfte seinen Patronenvorrat. Auch seinen Revolver untersuchte er. Als er sicher war, daß seine beiden Waffen in Ordnung waren, nahm er die umliegenden Höhen und die Mündungen der verschiedenen Schluchten scharf ins Auge. Er war entschlossen, sich nicht überraschen zu lassen.

Schon sank die Sonne immer tiefer, und noch war keine Spur von den rückkehrenden Spahis zu sehen. Bald war das Tal in Schatten gehüllt. Tarzan war zu vorsichtig, als daß er sich wieder auf den Weg nach dem Lager aufgemacht hätte, bevor er den Abteilungen genügend Zeit gelassen, in das Tal zurückzukehren, wo sie sich auf jeden Fall wieder zusammenfinden sollten. Je dunkler es wurde, desto sicherer fühlte er sich vor einem Angriff, denn in der Dunkelheit fühlte er sich zu Hause. Er wußte, daß niemand sich auch noch so vorsichtig ihm nähern konnte, ohne daß sein feines Gehör es wahrnahm. Zudem sahen auch seine scharfen Augen gut in der Dunkelheit und sein oft bewährter Geruchssinn verriet ihm das Herannahen eines Feindes schon auf weite Strecken.

So war er ruhig in dem sicheren Gefühl, daß ihn keine große Gefahr überraschen könnte. Ja, er war so sicher, daß er sich, mit dem Rücken an den Baum gelehnt, dem Schlaf hingab.

Er mußte bereits einige Stunden geschlafen haben, denn als er plötzlich durch das Schnauben und Auskeilen seines Pferdes geweckt wurde, schien der Mond hell über das kleine Tal, und sofort erkannte er – nicht zehn Schritte vor sich –, was sein Pferd so erregt machte.

Numa el adrea, der dunkelmähnige Löwe, stand vor ihm, prachtvoll, majestätisch, seinen Schweif hin- und herwerfend und beide glühende Augen auf seine Brust gerichtet. Ein freudiges Zucken ging durch Tarzans Glieder. Es war ihm, als ob er nach jahrelanger Trennung einen alten Freund wiedersähe. Einen Augenblick noch blieb er starr vor Staunen über diesen König der Wildnis stehen.

Aber jetzt duckte Numa sich, um zum Sprunge auszuholen. Schnell ergriff Tarzan das Gewehr. Noch nie in seinem Leben hatte er ein großes Tier geschossen. Immer hatte er nur seinen Speer, seine vergifteten Pfeile, seine Schlinge, sein Messer oder seine bloßen Hände dazu gebraucht. Instinktiv wünschte er seine Pfeile und sein Messer wieder zur Hand zu haben – er wäre damit seiner Sache sicherer gewesen.

Jetzt duckte sich Numa ganz flach auf den Boden, so daß Tarzan nur mehr das mächtige Haupt sah. Er hätte lieber etwas von der Seite gefeuert, denn er wußte, wie furchtbar ein Löwe seinem Gegner sein kann, wenn er zwei Minuten oder auch nur eine Minute, nachdem er getroffen worden ist, noch lebt. Das Pferd stand zitternd hinter Tarzan. Der Affenmensch tat vorsichtig einen Schritt nach der Seite –

Numa folgte ihm mit den Augen. Tarzan machte noch einen Schritt und dann noch einen. Numa bewegte sich nicht. Jetzt konnte Tarzan zwischen Auge und Ohr zielen.

Sein Finger drückte den Hahn ab, und im gleichen Augenblick schnellte der Löwe auf, und das Pferd machte einen letzten verzweifelten Versuch, zu fliehen; es riß seine Fessel los und stürmte durch die Schlucht in vollem Galopp in die Wüste hinein.

Ein gewöhnlicher Mensch wäre den furchtbaren Pranken Numas bei solch kurzer Entfernung nicht entgangen, aber Tarzan war kein gewöhnlicher Mensch. Seit seiner frühesten Jugend waren seine Muskeln an die größte Schnelligkeit gewöhnt. So behend auch el adrea war, Tarzan war noch flinker, und so prallte das gewaltige Tier gegen einen Baum, während es geglaubt hatte, seine Zähne in das Fleisch eines Menschen einschlagen zu können. Inzwischen feuerte Tarzan ihm eine zweite Kugel in den Leib, und der Löwe sank jetzt kratzend und brüllend neben ihm nieder.

Noch zweimal feuerte Tarzan auf ihn, dann lag el adrea still und seine furchtbare Stimme war verstummt. Jetzt war es nicht mehr Herr Jean Tarzan, der dastand, sondern der Affen-Tarzan, der ein Wild erlegt hatte. Seinen Fuß stellte er auf die Beute, und indem er hinauf zum silbernen Vollmond schaute, erhob er seine mächtige Stimme zu dem gewaltigen, furchtbaren Kampfruf seiner Affensippe. Ein mächtiges Tier war hier getötet. Und die wilden Tiere in den Bergen stockten und zitterten beim Klange dieser neuen, schrecklichen Stimme. Unten in der Wüste strömten die Söhne der Wildnis aus ihren Zelten hervor und schauten hinauf zu den Bergen. Sorgenvoll fragten sie sich, welche neue Plage in der Wildnis aufgetaucht sei, um ihre Herden zu vernichten.

Eine halbe Meile von dem Tale, in dem Tarzan stand, war eine Anzahl weiß gekleideter, mit Gewehren ausgerüsteter Gestalten halten geblieben, als sie in der Ferne jenes Brüllen vernahmen. Sie schauten sich mit fragenden Augen an, aber als sie nichts mehr hörten, unterbrachen sie ihr Schweigen und ritten weiter dem Tal entgegen.

Tarzan war jetzt überzeugt, daß Gernois nicht die Absicht hatte, zurückzukehren, aber er konnte nicht recht verstehen, weshalb der Offizier ihn allein gelassen hatte. Jetzt stand es ihm natürlich frei, in das Lager zurückzukehren. Nachdem sein Pferd durchgebrannt war, wäre es Wahnsinn von ihm gewesen, länger in den Bergen zu bleiben. So machte er sich denn zu Fuß nach der Wüste auf.

Er war eben am Ende der Schlucht angelangt, als die ersten der weißen Gestalten auf der anderen Seite des Tales auftauchten. Einen Augenblick überflogen ihre Augen den Einschnitt, als sie aber kein lebendes Wesen entdeckten, wagten sie sich hinein. Beim Baum fanden sie den toten Löwen. Voll Bewunderung betrachteten sie ihn. Dann zogen sie weiter durch die Schlucht, die Tarzan eben erst verlassen hatte. Sie bewegten sich vorsichtig und schweigend, wie Menschen, die einen Überfall planen.


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