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Die Schiffbrüchigen

Clayton träumte, er tränke Wasser, reines, köstliches, frisches Wasser. Er machte eine Bewegung und erwachte. Da bemerkte er, daß er durchnäßt war vom strömenden Regen, der in endlosen Massen herniederrauschte. Ein schwerer Tropenschauer ging gerade nieder.

Er öffnete den Mund und trank.

Das erfrischte ihn so, daß er sich kräftiger fühlte und bald wieder imstande war, sich auf den Händen aufzurichten. Über seinen Beinen lag Thuran. Einige Fuß weiter lag Jane Porter wie ein Häuflein Elend auf dem Boden des Bootes zusammengekauert. Sie war ganz still. Clayton sagte sich, sie sei jedenfalls schon tot.

Mit unendlicher Mühe gelang es ihm, seine Beine unter Thurans Körper hervorzuziehen, und mit erneuten Anstrengungen kroch er bis zu Jane. Er hob ihren Kopf von den groben Brettern des Schiffsbodens.

Vielleicht war doch noch Leben in dieser armen, abgemagerten Gestalt? Er konnte noch nicht alle Hoffnung aufgeben, und so ergriff er ein mit Regen getränktes Tuch und drückte die kostbaren Tropfen zwischen ihre geschwollenen Lippen aus.

Eine Zeitlang machte sich kein Lebenszeichen bemerkbar, aber zuletzt wurden seine Bemühungen doch von Erfolg gekrönt: ein leises Zucken bewegte ihre halbgeschlossenen Lider. Er rieb ihre dünnen Hände und ließ noch einige Tropfen Wasser in ihre vertrocknete Kehle fallen.

Das Mädchen öffnete die Augen und schaute lange zu ihm empor, bevor sie sich ihrer Lage wieder bewußt wurde.

Wasser? flüsterte sie. Sind wir gerettet?

Es regnet, erklärte er ihr. Wir können jetzt wenigstens trinken. Es hat uns beide schon wieder belebt.

Was ist's mit Thuran? fragte sie. Er hat dich ja nicht getötet. Ist er tot?

Ich weiß es nicht, antwortete Clayton. Wenn er noch am Leben ist und der Regen ihn wieder stärkt –

Hier hielt er inne, denn er sagte sich – wenn auch zu spät – er dürfe die Schrecken, die das arme Mädchen erlitten, nicht noch weiter vermehren.

Aber sie erriet, was er hatte sagen wollen.

Wo ist er? fragte sie.

Clayton wies mit dem Kopfe nach der ausgestreckten Gestalt des Russen.

Eine Weile herrschte Schweigen.

Ich will sehen, ob ich ihn wieder beleben kann, sagte Clayton endlich.

Nein! flüsterte sie, ihre abgemagerte Hand nach ihm ausstreckend. Tue das nicht – er wird dich töten, wenn der Regen ihn wieder gestärkt hat. Wenn er am Sterben ist, so laß ihn sterben. Laß mich nicht allein in diesem Boot mit einer solchen Bestie.

Clayton zögerte. Seine Ehre verlangte, daß er Thuran zu beleben suchte, und dann war es ja auch möglich, daß der Russe sich menschlich zeigte. Man konnte das wenigstens annehmen.

Während Clayton im Innern mit sich kämpfte, schweiften seine Blicke über den Körper des Mannes hinweg und als sie nun über die See glitten, stürzte er mit einem leisen Freudenschrei schwankend zu Füßen seiner Braut hin.

Land, Jane! Gott sei Dank, Land! stießen seine Lippen hervor.

Das Mädchen schaute auf. In der Tat sah sie, nicht einmal hundert Meter entfernt, gelben Strand und dahinter die üppige Pflanzenwelt einer tropischen Dschungel.

Jetzt kannst du ihn wieder beleben, riet Jane Porter, denn sie hatte sich schon Gewissensbisse darüber gemacht, daß sie Clayton abgeraten hatte, etwas für ihren Genossen zu tun.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis es gelang, den Russen soweit wieder zur Besinnung zu bringen, daß er wenigstens die Augen öffnen konnte, und bald darauf konnte man ihm auch die glückliche Wendung ihres Schicksals begreiflich machen.

Inzwischen war das Boot langsam auf sandigen Boden getrieben. Clayton war durch das erfrischende Wasser, das er getrunken, und durch den neu erwachten Mut so gestärkt, daß er durch das seichte Wasser bis zum Strande waten konnte. Dabei zog er ein am Boote festgebundenes Seil mit sich, das er an einem Baum des Ufers befestigte. Es war gerade Hochwasser, und er fürchtete, sobald Ebbe einträte, könnte das Boot wieder vom Land abgetrieben werden, zumal er ziemlich sicher war, daß er vor Verlauf einiger Stunden nicht stark genug wäre, um Jane Porter zu holen.

Das Nächste, was er tat, war, nach der nahen Dschungel, wo er eine Menge tropischer Früchte bemerkt hatte, zu kriechen, denn er konnte sich noch nicht auf den Beinen halten. Bei seinem früheren Aufenthalt in der Dschungel hatte er von Tarzan erfahren, was dort alles eßbar ist. Nach einem fast einstündigen Aufenthalt kehrte er mit einem Arm voll Früchten nach dem Strand zurück.

Der Regen hatte aufgehört, und die heiße Sonne schien so drückend, daß Jane Porter darauf drang, einen Versuch zu machen, ans Land zu gelangen.

Auch Thuran wurde durch die Früchte soweit gestärkt, daß alle drei glaubten, sie wären imstande, bis zu dem kleinen Baum zu gelangen, an dem das Boot festgebunden war.

Der Versuch gelang, und da alle drei völlig erschöpft waren, legten sie sich in den Schatten des Baumes und schliefen bis in die Nacht hinein.

*

Einen Monat lang lebten die drei Schiffbrüchigen auf dem flachen Strande verhältnismäßig sicher.

Sowie sie wieder zu Kräften kamen, erbauten die beiden Männer ein einfaches Obdach in den Ästen eines Baumes, und zwar in genügender Höhe, damit sie vor den Angriffen auch großer Raubtiere sicher sein konnten.

Tagsüber sammelten sie Früchte und kleine Tiere; in der Nacht kauerten sie sich unter ihr Schutzdach, während die wilden Bewohner der Dschungel ihr häßliches Geheul hören ließen.

Sie schliefen auf einem Lager von Dschungelgras. Jane Porter hatte nur den alten Überzieher als Decke, den Clayton seinerzeit auf der denkwürdigen Fahrt durch Wisconsins Wälder auf der Eisenbahnstation beinahe hatte liegen lassen. Clayton hatte eine schwache Scheidewand aus Ästen in ihrem Obdach angebracht, so daß der Raum in zwei Hälften geteilt war, von denen die eine für das Mädchen, die andere für ihn und Thuran bestimmt war.

Schon bald hatte der Russe seinen wahren Charakter gezeigt: Selbstsucht, Grobheit, Anmaßung, Feigheit und zügellose Begehrlichkeit. Schon zweimal war Clayton wegen Thurans Benehmen gegen das Mädchen handgreiflich geworden. Er wagte es nicht, ihn auch nur einen Augenblick mit Jane allein zu lassen. So lebten der Engländer und seine Braut in fortwährender Aufregung, aber sie hofften immer noch auf Befreiung.

Jane Porters Gedanken kehrten oft zu ihrem früheren Leben an der wilden Küste zurück. Ach, wenn der unüberwindliche Waldgott, dessen Tod sie so sehr betrauerte, bei ihnen hätte sein können! Dann hätte sie keine Furcht mehr vor den Raubtieren und dem furchtbaren Russen zu haben brauchen. Clayton beschützte sie nur mit knapper Not, aber wie anders wäre Tarzan aufgetreten, wenn er nur einen Augenblick dem düstern, drohenden Thuran gegenübergestanden hätte!

Einmal, als Clayton nur bis zu dem kleinen Wasserlauf gegangen war und Thuran wieder unverschämt gegen sie gewesen war, verriet sie ihre Gedanken.

Sie können von Glück sagen, Herr Thuran, sagte sie, daß der arme Herr Tarzan, der von Ihrem Schiff abstürzte, jetzt nicht hier ist.

Sie kennen also das Schwein? fragte Thuran.

Ich kenne den Herrn, erwiderte sie. Er ist der einzige wirkliche Mann, den ich bisher gekannt habe.

Im Ton ihrer Stimme lag etwas, was in dem Russen die Meinung erweckte, sie müsse für seinen Feind wohl etwas mehr als Freundschaft hegen, und deshalb machte es ihm Freude, sein Andenken zu beschmutzen.

Er war schlimmer als ein Schwein! schrie er. Er war ein gemeiner Feigling! Um sich dem gerechten Zorn des Mannes einer von ihm belästigten Frau zu entziehen, war er so ehrlos, die Frau allein zu belasten. Da ihm das nicht gelang, floh er aus Frankreich, um einem Duell mit dem Ehemann zu entgehen. Deshalb war er auf dem Schiffe, auf dem Miß Strong und ich nach Kapstadt fuhren. Ich weiß, was ich sage, denn die Frau, um die es sich handelt, ist meine Schwester. Und ich kann Ihnen noch etwas verraten, was ich bisher niemand gesagt habe: Ihr braver Herr Tarzan sprang aus Todesangst über Bord, als ich ihn wiedererkannte und darauf bestand, daß er mir am nächsten Morgen Genugtuung leisten sollte: wir wollten in meiner Kabine eine Herausforderung auskämpfen.

Jane Porter lachte.

Sie werden sich doch nicht einen Augenblick einbilden, daß jemand, der Herrn Tarzan und Sie kennt, eine so unmögliche Geschichte glauben wird?

Weshalb reiste er denn unter falschem Namen? fragte Thuran.

Ich glaube Ihnen nicht! rief Jane voll Ärger.

Immerhin war die Saat des Mißtrauens ausgesät, denn Jane wußte von Hazel, daß ihr Waldgott unter dem Namen John Caldwell aus London gereist war.

*

Kaum fünf Meilen nördlich von der Stelle, wo Jane mit Clayton und Thuran lebte, lag die hübsche kleine Hütte Tarzans, aber wenn die Entfernung auch nicht groß war, so wußte doch niemand von ihnen etwas davon, und so war es genau so, als wenn sie tausende von Meilen davon entfernt gewesen wären.

Weiter an der Küste hinauf, einige Meilen von der Hütte, in einfachen, aber wohlgebauten Schutzhütten, lebte eine Gesellschaft von achtzehn Personen. Es waren die früheren Insassen der drei Boote von der »Lady Alice«, von denen Claytons Boot getrennt worden war.

In weniger als drei Tagen waren sie über das ruhige Meer nach dem Festland gerudert. Sie hatten weiter nichts von den Schrecken des Schiffbruchs erfahren, und wenn sie auch von dem Mißgeschick der Jacht schmerzlich berührt waren und unter den ungewohnten Härten ihres neuen Daseins zu leiden hatten, so war ihnen doch weiter kein Ungemach geschehen.

Alle waren der festen Hoffnung, daß das vierte Boot aufgelesen worden sei und bald eine genaue Nachforschung nach den Insassen der restlichen drei Boote erfolgen würde.

Da genügend Feuerwaffen nebst Munition in Lord Tenningtons Boot gebracht worden waren, so war die Gesellschaft zur Verteidigung wohl gerüstet und konnte auch große Tiere erlegen.

Professor Archimedes Q. Porter bildete ihre einzige unmittelbare Sorge. Er war überzeugt, daß seine Tochter von einem vorüberfahrenden Dampfer aufgenommen worden sei. Er war deshalb über ihr Schicksal gar nicht sehr besorgt und wandte seinen ganzen Scharfsinn wieder den wissenschaftlichen Problemen zu, die nach seiner Ansicht einen Mann von seiner Bildung allein beschäftigen sollten. Sein Geist war allen äußeren Angelegenheiten unzugänglich.

Nie, sagte der erschöpfte Samuel T. Philander zu Lord Tennington, nie war Herr Professor Porter so schwierig zu behandeln; es ist ganz unmöglich, mit ihm fertig zu werden. Denken Sie sich, heute morgen, als ich ihn kaum eine halbe Stunde allein lassen mußte, war er bei meiner Rückkehr verschwunden. Und wo glauben Sie wohl, daß ich ihn entdeckte? Eine halbe Meile draußen auf dem Ozean in einem der Rettungsboote, wo er nach Herzenslust am Rudern war. Ich weiß nicht, wie er es überhaupt fertig brachte, so weit auf das Wasser hinaus zu gelangen, denn er hatte nur ein Ruder, mit dem er glückselig im Kreise herumfuhr.

Als mich nun einer der Matrosen in einem andern Boot hinausbrachte, war der Professor ganz entrüstet darüber, daß ich ihm zuwinkte, ans Land zurückzukehren.

Wie, Mr. Philander, sagte er, ich bin überrascht, daß Sie, ein Mann von Bildung, die Kühnheit besitzen, so den Fortschritt der Wissenschaft unterbrechen zu wollen. Aus gewissen astronomischen Erscheinungen, die ich in den letzten tropischen Nächten beobachtete, habe ich eine völlig neue Nebelfleck-Hypothese aufgestellt, mit der ich die wissenschaftliche Welt überraschen will. Ich will nur noch eine vorzügliche Monographie über Laplaces Hypothese, die sich in einer privaten Büchersammlung New Yorks befindet, einsehen. Ich wollte eben dahin rudern, um mir die Broschüre zu holen, und jetzt kommen Sie, Mr. Philander, und stören mich bei meinem Vorhaben.

Nur mit größter Mühe gelang es mir, ihn zur Rückkehr nach der Küste zu bewegen; sonst hätte ich Gewalt anwenden müssen. – So schloß Mr. Philander seine bewegliche Klage.

Miß Strong und ihre Mutter verhielten sich trotz der ständigen Angst vor den Angriffen wilder Tiere sehr wacker. Sie waren allerdings nicht so leicht davon zu überzeugen, daß Jane, Clayton und Thuran von einem Dampfer aufgenommen worden seien.

Jane Porters Dienerin Esmeralda schmälte ohne Unterlaß über das grausame Schicksal, das sie von ihrem »armen kleinen Herzchen« getrennt hatte.

Lord Tennington war immer noch derselbe vornehme, großherzige Mensch, dessen Charakter sich in keiner Weise verändert hatte. Heiter, wie immer, bemühte er sich auch jetzt noch, alles für die Bequemlichkeit und Unterhaltung seiner Gäste zu tun, was er nur konnte. Der Mannschaft seiner Jacht gegenüber war er immer noch derselbe gerechte, aber feste Befehlshaber. In der Dschungel gab er ebensowenig von seiner Autorität ab, als er es auf der »Lady Alice« getan hatte, wo er über alle wichtigen Fragen zu entscheiden hatte; in allen Lagen bewies er dieselben kühlen, klugen Führereigenschaften.

Wenn diese gutorganisierte und verhältnismäßig sichere Gesellschaft von Schiffbrüchigen einige Meilen südlich das abgerissene ängstliche Trio gesehen hätte, so würde sie darin wohl kaum die früher so tadellosen Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Tage auf der »Lady Alice« in sorgloser Heiterkeit verbrachte, wiedererkannt haben.

Clayton und Thuran waren fast nackt, so sehr waren ihre Kleider durch die Dornbüsche und Schlingpflanzen zerrissen, durch die sie sich immer wieder hindurchwinden mußten, als die Beschaffung von Nahrung für sie schwieriger wurde.

Jane Porter hatte zwar an diesen mühevollen Expeditionen nicht teilgenommen, aber ihr Äußeres war doch auch in einem recht betrübenden Zustand.

Clayton hatte aus Mangel an besserer Beschäftigung die Häute der von ihm erlegten Tiere sorgfältig bearbeitet und aufbewahrt. Er hatte sie über Baumstämme ausgespannt und fleißig abgekratzt. So waren sie in tadellosem Zustand geblieben, und da jetzt seine Hose so zerrissen war, daß sie seine Blöße nicht mehr bedecken konnte, machte er sich aus den Häuten ein einfaches Gewand, wobei er einen starken Dorn als Nadel und zähe Grassträhnen und Tiersehnen als Nähfaden benützte.

Das Ergebnis war ein ärmelloses Gewand, das ihm fast bis an die Knie ging. Da es aus zahlreichen kleinen Häuten zusammengesetzt war und deshalb einen sehr merkwürdigen Anblick bot und da es zudem einen äußerst widerlichen Geruch verbreitete, so war es nicht gerade eine sehr angenehme Ergänzung seines Kleiderbestandes. Aber die Zeit kam, wo er es aus Anstandsgründen anziehen mußte. Als Jane Porter ihn zum erstenmal darin sah, konnte sie sich trotz ihrer elenden Lage nicht enthalten, herzhaft zu lachen.

Später war auch Thuran gezwungen, sich eine solche primitive Bekleidung anzufertigen, und so sahen die beiden mit ihren nackten Beinen und ihrem reichlich gewachsenen Vollbart wie zwei vorgeschichtliche Menschen aus. Besonders Thuran stand die Rolle ganz gut.

So waren fast zwei Monate ihres neuen Daseins vergangen, als sie ein neues großes Unglück traf. Voraus ging ein Ereignis, das zweien von ihnen beinahe ganz plötzlich ein Ende bereitet hätte.

Thuran lag an einem Fieberanfall darnieder. Clayton war auf der Nahrungssuche einige hundert Meter weit in die Dschungel hineingedrungen. Als er wiederkam, war Jane Porter ihm entgegengegangen. Hinter ihm schlich ein alter, zerzauster Löwe. Seit drei Tagen waren seine alten Sehnen nicht mehr imstande gewesen, ihm die nötigen Dienste zu leisten, und sein Magen war deshalb leer. Seit Monaten schon hatte die Zahl seiner Mahlzeiten abgenommen, und er hatte sein bisheriges Jagdgebiet immer weiter überschreiten müssen, um eine leichter zu erlegende Beute zu finden, denn bei seinen schwachen Kräften war er nicht mehr imstande, sich an solche Tiere heranzuwagen, die er früher mit leichter Mühe erlegt hatte. Nun hatte er wenigstens einen Menschen gefunden, der das schwächste Geschöpf der Natur ist und sich am wenigsten verteidigen kann. So hoffte der alte Numa, sich in wenigen Augenblicken sättigen zu können.

Clayton ahnte gar nicht, daß der Tod hinter ihm herschritt. Er kam gerade aus dem Dickicht und ging auf Jane zu. Kaum war er hundert Schritte aus dem Gestrüpp und nahe an sie herangekommen, als sie an seiner Schulter vorbei den braungelben Kopf und die drohenden gelben Augen aus dem Grase herausleuchten sah.

Beim Anblick des wilden Tieres erfaßte sie ein solches Entsetzen, daß sie nicht imstande war, einen Ton hervorzubringen, aber ihre starren, weit geöffneten Augen sprachen deutlicher als Worte. Clayton warf einen Blick hinter sich und erkannte die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage.

Der Löwe war kaum dreißig Schritte von ihnen, und so weit waren sie auch noch von ihrem Schutzplatz entfernt. Clayton war mit einem starken Knüttel bewaffnet, aber er wußte, daß gegen einen hungrigen Löwen eine solche Waffe ebenso wirkungslos war wie es eine Knallbüchse mit einem Pfropfen gewesen wäre.

Der heißhungrige Löwe hatte seit langem erfahren, daß das Brüllen auf der Suche nach einer Beute keinen Zweck habe, aber jetzt, wo er so sicher war, bald mit seinen einst so starken Pranken in die Beute einhauen zu können, riß er seinen weiten Rachen auf und machte seiner langverhaltenen Wut in einem wiederholten tiefen Gebrüll Luft.

Lauf, Jane! rief Clayton, schnell auf den Baum!

Aber ihre Muskeln waren gelähmt, und sie stand stumm und starr, voll Entsetzen auf den heranschleichenden Tod wartend.

Als Thuran das schreckliche Brüllen hörte, war er an die Öffnung ihrer Baumhütte getreten, und als er die Szene sah, die sich ihm jetzt darbot, sprang er vor Erregung auf und rief ihnen auf russisch zu:

Lauft, lauft, sonst bleibe ich allein an diesem schrecklichen Ort!

Dann brach er zusammen und fing an zu weinen.

Einen Augenblick lang lenkte diese neue Stimme die Aufmerksamkeit des Löwen ab, der stehen blieb und nach dem Baume starrte.

Clayton konnte die Aufregung nicht länger ertragen. Indem er dem Löwen den Rücken drehte, vergrub er seinen Kopf in die Arme und wartete.

Das Mädchen sah ihn entsetzt an. Weshalb tat er nichts? Wenn er sterben mußte, weshalb nicht tapfer wie ein Mann? Er konnte doch wenigstens mit seinem dicken Stock aus das Tier losschlagen. Das hätte Tarzan sicher getan, er wäre wenigstens heldenmütig gestorben.

Jetzt bereitete sich der Löwe zum Sprunge vor, der ihr junges Leben in seinen grausamen gelben Fängen ein Ende machen muhte. Jane Porter sank auf ihre Knie und betete; sie schloß die Augen, um den letzten häßlichen Augenblick nicht sehen zu müssen. Thuran, durch das Fieber geschwächt, war ohnmächtig geworden.

Die Sekunden wurden zu Minuten, endlos langen Minuten, und noch kam das Tier nicht gesprungen. Clayton war durch die verlängerte Todesangst fast bewußtlos, seine Knie zitterten und er brach beinahe zusammen.

Jane Porter konnte das nicht länger aushalten. Sie öffnete die Augen. Doch, was war das? Träumte sie?

William, flüsterte sie, schau!

Clayton strengte sich an, um den Kopf zu erheben und ihn nach dem Löwen zu wenden. Ein Ausruf der Überraschung kam aus seinem Munde.

Vor ihren Füßen lag das Tier in Todeszuckungen. Ein schwerer Kriegerspeer stak in seinem braungelben Fell. Er war auf der rechten Schulter eingedrungen, durch den ganzen Körper gegangen und hatte das Herz durchbohrt.

Jane Porter war wieder aufgestanden, und als Clayton sich wieder zu ihr wandte, schwankte sie vor Schwäche.

Er ergriff sie am Arm, um sie festzuhalten, und indem er näher an sie herankam, drückte er ihren Kopf an seine Schulter und wollte sie küssen.

Sie aber wies ihn sanft ab.

Laß das, William, sagte sie. In den wenigen kurzen Augenblicken habe ich tausend Jahre erlebt. Ich will dich nicht mehr verletzen als es nötig ist, aber ich kann das Leben nicht länger ertragen in der unmöglichen Stellung, in die ich durch die falsche Auslegung eines dir unüberlegt gegebenen Versprechens geraten bin.

Die letzten wenigen Sekunden meines Lebens haben mir gezeigt, daß es häßlich von mir wäre, weiterhin mich selbst und dich zu täuschen oder auch nur einen Augenblick länger an die Möglichkeit zu denken, daß ich deine Frau werden könnte, wenn wir wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren. Wie, Jane, rief er, was willst du damit sagen? Was hat unsere Errettung durch die Vorsehung mit der Änderung deiner Gefühle gegen mich zu tun? Du bist abgespannt, – morgen wirst du wieder wie früher sein.

Ich bin jetzt meiner selbst mehr bewußt, als damals vor einem Jahr, erwiderte sie. Was wir jetzt erlebt haben, hat mir lebhafter als je in die Erinnerung gerufen, daß der tapferste Mann, der je gelebt hat, mir seine Liebe schenkte. Ich glaubte nicht, daß ich sie erwidern würde, und so wies ich ihn ab. Jetzt ist er tot, und deshalb will ich überhaupt nicht mehr heiraten. Ich könnte keinen andern, wenn auch noch so wackeren Mann heiraten, ohne immer ein gewisses Gefühl der Verachtung für ihn zu haben. Verstehen Sie mich?

Ja! antwortete er mit gesenktem Kopfe, das Gesicht mit Schamröte bedeckt.

Am folgenden Tage kam das große Unglück.


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