Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zurück in den Urwald

Als Tarzan ins Wasser stürzte, war seine erste Regung, vom Schiffe wegzuschwimmen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, von den Schrauben erfaßt zu werden. Er wußte, wem er seine gegenwärtige Lage zu verdanken hatte, und war hauptsächlich deswegen mit sich unzufrieden, daß er sich so leicht von Rokoff hatte überwältigen lassen.

Er lag einige Zeit auf dem Wasser und starrte den schnell sich entfernenden und verschwindenden Lichtern des Dampfers nach, ohne daß es ihm auch nur in den Sinn kam, um Hilfe zu rufen. Noch nie in seinem Leben hatte er Hilfe herbeigerufen und so dachte er auch jetzt nicht daran. Er hatte sich noch immer auf seine eigene Kraft verlassen.

Tarzan sagte sich zwar, daß die Aussicht, von einem fremden Schiff aufgenommen zu werden, für ihn außerordentlich gering sei und er noch weniger mit der Möglichkeit rechnen könne, das Land zu erreichen, aber er entschloß sich, immerhin den Versuch zu unternehmen. Er wollte auf die Küste zu halten, denn es war doch vielleicht möglich, daß das Schiff sich näher der Küste gehalten hatte, als er glaubte.

Mit langen, leichten Stößen schwamm er weiter; so konnte er stundenlang schwimmen, ehe seine riesigen Muskeln versagten. Als er seine Richtung nach Osten nahm, wobei er sich von den Sternen leiten ließ, empfand er das Gewicht seiner Schuhe als lästig und entledigte sich ihrer. Dann kam seine Hose an die Reihe, und er hätte auch seinen Rock ausgezogen, wenn er nicht die wertvollen Papiere in der Tasche gehabt hätte. Um sich zu vergewissern, daß er sie noch hatte, fuhr er mit der Hand in die Tasche, aber zu seiner Bestürzung fand er sie nicht mehr vor.

Jetzt wußte er, daß noch etwas anderes als die Rache Rokoff veranlaßt hatte, ihn über Bord zu werfen. Der Russe hatte sich die Papiere wieder angeeignet, die Tarzan ihm in Bu Saada abgenommen hatte. Der Affenmensch stieß einen leisen Schrei aus und zog Rock und Hemd aus, die er dem Ozean überließ. Alles übrige hatte er schon vorher schwimmen lassen, und so konnte er leicht und unbehindert nach Osten schwimmen.

Das erste Zeichen des kommenden Tages war das Erbleichen der Sterne. In der Richtung, in der Tarzan sich bewegte, sah er die undeutlichen Umrisse einer dunklen Masse. Ein paar starke Stöße brachten ihn heran und nun sah er, daß es ein gestrandeter Schiffsrumpf war. Tarzan kletterte hinauf. Er wollte aber nur so lange bleiben, bis der helle Tag da war. Er hatte nicht die Absicht, untätig darauf sitzen zu bleiben, bis er vor Hunger und Durst umkäme. Wenn er zum Tode verurteilt war, so wollte er wenigstens noch den ernsten Versuch machen, sein Leben zu retten.

Die See war ruhig, so daß das Wrack nur eine leise schwingende Bewegung machte. Das war für Tarzan, der seit zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, so verlockend, daß er sich auf das schlammige Holz niederlegte und alsbald einschlief.

Der warme Sonnenschein weckte ihn am Vormittag. Seine erste Empfindung war ein heftiges Durstgefühl, und dieses nahm um so mehr zu, je genauer er sich jetzt über seine Lage klar wurde. Aber schon einen Augenblick später war es vor lauter Freude über zwei neue Entdeckungen vergessen. Das erste, was er sah, war eine Menge Trümmer, die neben dem Wrack schwammen, und mitten dazwischen ein mit dem Boden nach oben gekehrtes Rettungsboot. Und weiter sah er, allerdings noch weit im Osten verschwimmend, die schwache Linie eines Küstenlandes.

Tarzan ließ sich ins Wasser zurückgleiten und schwamm um das Wrack zu dem Boot. Der kalte Ozean erfrischte ihn mehr als es ein Trunk Wasser getan hätte. So konnte er neu gestärkt das schmale Boot heranholen und es mit Aufwendung aller Kräfte auf die Schiffstrümmer hinaufziehen. Hier wandte er es um und untersuchte es: das Boot war noch heil und einen Augenblick später schwamm es aufgerichtet neben dem Wrack. Nun suchte Tarzan unter den Trümmern einige Stücke Holz, die ihm als Ruder dienen konnten. Dann stieg er in das Boot und suchte möglichst schnell nach der fernen Küste zu gelangen.

Es war schon spät am Nachmittag, als er nahe genug herankam, um die Gegenstände am Land und die Linien des Ufers erkennen zu können. Was er vor sich sah, war eine kleine Bucht, die aussah wie der Eingang zu einem Hafen. Die waldbedeckte Landzunge nach Norden kam ihm merkwürdig bekannt vor.

War es wirklich möglich, daß das Schicksal ihn an die Schwelle seiner eigenen lieben Dschungel getrieben hatte? Aber als sein Boot in den Hafen einlief, schwand der letzte Zweifel, denn im Schatten des Urwaldes sah er seine eigene Hütte stehen, die einst vor seiner Geburt sein nun längst verstorbener Vater John Clayton, Lord Greystoke, errichtet hatte.

Mit starken Ruderschlägen trieb Tarzan das kleine Fahrzeug in die Bucht hinein. Kaum hatte das Boot das Ufer berührt, als der Affenmensch auf das Land sprang. Sein Herz schlug gewaltig vor Freude und Entzücken, als seine Augen ringsum all die vertrauten Erscheinungen wieder sahen: die Hütte, den Strand, den kleinen Bach, die dichte Dschungel, den schwarzen, undurchdringlichen Wald, die unzähligen Vögel mit ihrem glänzenden Gefieder, die prachtvollen tropischen Blumen auf den Laubgewinden, die von den Riesenbäumen herunterhingen.

Tarzan war wieder in seinem früheren Reich, und damit alle Welt es wissen sollte, bog er seinen jungen Kopf zurück und stieß den wilden Kampfruf seines Stammes aus. Einen Augenblick war es still in der Dschungel, dann aber kam eine dumpfe, unheimliche Antwort, das Gebrüll Numas, des Löwen, und aus weiter Ferne die schreckliche Stimme eines mächtigen Affen.

Zuerst ging Tarzan zum Bach und stillte seinen Durst. Dann näherte er sich seiner Hütte. Die Tür war noch geschlossen und eingeklinkt, wie er und d'Arnot sie verlassen hatten. Er öffnete sie und ging hinein. Alles war noch an seinem Platze: der Tisch, das Bett und die kleine Wiege, die sein Vater angefertigt hatte, die Regale und die Schränke, gerade so, wie sie vor mehr als dreiundzwanzig Jahren dort gestanden, und gerade so, wie er sie vor nahezu drei Jahren verlassen hatte.

Als Tarzans Augen sich satt gesehen hatten, begann sich sein Magen zu melden. Er mußte sich unbedingt etwas zum Essen verschaffen. In der Hütte war nichts, und er hatte auch keine Waffen. An der Wand hing allerdings noch einer seiner alten Grasstricke, aber er war schon mehrfach gerissen und geflickt und deshalb als unnütz beiseite gelegt worden. Tarzan wünschte ein Messer zu haben, aber er hoffte bestimmt, ehe die Sonne nochmals unterging, sich sowohl Messer wie Speer, einen Bogen und Pfeile verschaffen zu können. Einstweilen mußte ihm der Strick genügen, um eine Beute zu erjagen. Er besserte ihn aus, wickelte ihn sorgfältig zusammen, hing ihn über die Schulter und ging hinaus, die Tür hinter sich sorgfältig verschließend.

Nahe bei der Hütte begann die Dschungel. Vorsichtig und geräuschlos betrat er sie, wie ein wildes Tier, das auf Raub ausgeht. Eine Zeitlang blieb er auf dem Boden, aber als er keine Spur von etwas Eßbarem fand, stieg er auf einen Baum hinauf und setzte von dort aus seine Wanderung in der Höhe fort, wie er es früher so lange Jahre getan hatte. Bei den ersten kühnen Sprüngen von Baum zu Baum erwachte wieder die alte Lebenslust in ihm. Kummer und Gram waren vergessen. Der ganze Mensch lebte auf, denn jetzt genoß er wieder das Glück wirklicher Freiheit. Es würde ihm nicht mehr einfallen, in die dumpfen lasterhaften Städte der zivilisierten Menschen zurückzukehren, da ihm das weite Reich der Dschungel wieder Frieden und Freiheit bot.

Während es noch hell war, kam Tarzan an die Tränke eines Dschungelflusses. Dort befand sich eine Furt, und seit undenkbaren Zeiten kamen die Tiere des Waldes an diese Stelle, um ihren Durst zu löschen. Hier würde er schon einmal in der Nacht Sabor oder Numa treffen, wenn sie unter dem dichten Laubwerk auf eine Antilope oder einen Wasserbock lauerten. Dorthin kam ja auch Horta, der Eber, und jetzt war er, Tarzan, da, um ein Wild zu erlegen, denn er war tüchtig hungrig.

Er hockte auf niedrigem Ast und wartete eine Stunde lang, ob nicht ein Tier herankäme. Es wurde immer dunkler. Im dichtesten Dickicht neben der Furt hörte er den leisen Tritt eines Tieres, ein schwerer Körper bewegte sich durch Gras und Schlinggewächse. Kein anderer als Tarzan hätte das Geräusch vernommen, aber er wußte sofort, daß es Numa, der Löwe war, der ebenfalls eine Beute suchte. Da mußte der Affenmensch lächeln.

Jetzt hörte er ein anderes Tier, das sich vorsichtig auf der Fährte dem Tränkplatz näherte. Einen Augenblick später kam es in Sicht. Es war Horta, der Eber. Das war kostbares Fleisch, und Tarzan lief das Wasser im Munde zusammen. Das Gras, in dem Numa lag, stand jetzt ganz still, verdächtig still. Horta trottete unter dem Ast, auf dem Tarzan hockte, hinweg. Noch ein paar Schritte, und er mußte in Numas Sprungbereich sein! Tarzan sagte sich: Wie werden jetzt die Augen des alten Numa glänzen, nun er sich anschickt, das furchtbare Gebrüll auszustoßen, durch das er seine Beute betäuben will, um dann auf sie loszuspringen und seine furchtbaren Fänge in die krachenden Knochen einzuhauen.

Als aber Numa den Eber erblickte, flog schon ein Strick vom unteren Ast eines nahen Baumes durch die Luft. Eine Schlinge legte sich um Hortas Hals. Es war ein grausiges Grunzen, das man hörte, und dann sah Numa seine Beute fortgerissen, und als er auf sie lossprang, wurde Horta bereits in die Höhe gezogen und verschwand in einem Baum, von dem ein spöttisches Gesicht herunterschaute.

Jetzt brüllte Numa wirklich. Es war das beängstigende, drohende Brüllen eines hungrigen Raubtiers, das sich gegen den lachenden Affenmenschen wandte. Numa war stehen geblieben, reckte sich auf seinen Hinterfüßen am Baume auf, von dem sein Feind so höhnisch heruntersah, schlug seine scharfen Krallen in die Rinde ein und riß ganze Fetzen der Baumrinde heraus.

Inzwischen hatte Tarzan den sich sträubenden Eber auf den Ast neben sich heraufgezogen und seine nervigen Finger vollendeten das Werk, das die Schlinge begonnen hatte. Der Affenmensch besaß zwar kein Messer, aber die Natur hatte ihn mit den Mitteln ausgerüstet, seine Nahrung auch so aus der Flanke seiner Beute zu fassen, und so bissen seine glänzenden Zähne in das saftige Fleisch, indes der wütende Löwe unten zusah, wie ein anderer sich an der Mahlzeit erfreute, die er für sich erwartet hatte.

Es war völlig dunkel, als Tarzan sich gesättigt hatte. Ach, war das köstlich gewesen! Nie hatte er sich an das verdorbene Fleisch gewöhnen können, das die zivilisierten Menschen ihm vorgesetzt hatten, und im Grunde seines wilden Herzens hatte er sich immer nach dem warmen Fleisch des frisch erlegten Tieres und dem rohen, roten Blute gesehnt.

Seine blutigen Hände wischte er an dem Laub eines Astes ab, nahm den Rest des Tieres auf die Schulter und wanderte auf halber Höhe der Bäume zur Hütte weiter.

Hinter Tarzan trottete Numa, der Löwe, einher, und wenn der Affenmensch einmal hinunterschaute, so konnte et die leuchtenden grünen Augen sehen, die ihn in der Dunkelheit verfolgten. Numa brüllte nicht mehr; er bewegte sich vielmehr still, wie der Schatten einer großen Katze, aber die feinen Ohren des Affenmenschen hörten doch jeden seiner Tritte.

Tarzan fragte sich, ob Numa ihm wohl bis zu seiner Hütte folgen werde. Er hoffte, daß dies nicht der Fall sein würde, denn dann war er gezwungen, eine Nacht in der Astgabelung eines Baumes zuzubringen, und er wollte doch lieber auf dem Grasbett seiner Hütte schlafen. Er wußte aber noch genau, wo der Baum stand, auf dem er sich für jene Zeit ein behagliches Lager eingerichtet hatte, da er seine Hütte nicht benützen konnte. Hundertmal war in der Vergangenheit irgend eine große Dschungelkatze ihm heimwärts gefolgt und hatte ihn gezwungen, auf diesem Baume Schutz zu suchen, bis es dem Tier gefiel, sich zu entfernen oder es vor der aufgehenden Sonne davonzog.

Jetzt gab Numa die Verfolgung aber auf, und mit einer Reihe blutdurstiger Schreie wandte er sich ärgerlich, um ein anderes, leichter zu erlangendes Mahl zu suchen. So kam Tarzan ohne weiteren Angriff zu seiner Hütte, und schon einige Minuten später lag er ausgestreckt auf den modrigen Resten des ehemaligen Grasbettes. So leicht hatte Herr Jean C. Tarzan die dünne Kulturschicht abgestreift. Zufrieden und glücklich versank er in den tiefen Schlaf des gesättigten wilden Tieres. Und doch hätte einmal das »Ja« eines Weibes genügt, ihn für immer an das andere Leben zu binden und ihm den Gedanken an dieses wilde Dasein widerwärtig zu machen.

Tarzan schlief bis spät in den folgenden Morgen, denn er war von den Anstrengungen der letzten Tage wirklich sehr müde gewesen, da seine Muskeln seit beinahe drei Jahren nicht mehr daran gewöhnt waren.

Als er erwachte, eilte er zuerst zum Bache, um zu trinken. Dann stürzte er sich ins Meer und schwamm eine Viertelstunde lang darin herum.

In seine Hütte zurückgekehrt, frühstückte er von dem Fleische Hortas, und darauf vergrub er den Rest im weichen Boden außerhalb der Hütte für den Abend.

Wieder nahm er seinen Strick und wanderte in die Dschungel. Diesmal ging er auf eine andere Beute aus und zwar wollte er Ausschau nach Menschen halten. Wenn man ihn nach einem edleren Wild befragt hätte, so hätte er sicher ein Dutzend anderer Bewohner der Dschungel genannt, die in seinen Augen höher standen als die Schwarzen. Aber er mußte sich jetzt Waffen verschaffen, und da fragte er sich, ob die Weiber und Kinder seinerzeit im Dorf geblieben seien, nachdem die Expedition des französischen Kreuzers alle Krieger zur Strafe für d'Arnots vermeintliche Ermordung beseitigt hatte. Er hoffte, dort wieder Krieger zu finden, denn er wußte nicht, wie weit er noch suchen mußte, falls er das Dorf verlassen fände.

Der Affenmensch wanderte schnell durch den Wald und kam gegen Mittag in die Nähe des Dorfes. Aber wie groß war seine Enttäuschung, als er sah, daß die Dschungel die einst bebauten Felder überwuchert hatte und die strohbedeckten Hütten verfallen waren. Da lebten offenbar keine Menschen mehr. Er suchte eine halbe Stunde lang in den Ruinen umher, weil er hoffte, vielleicht irgend eine vergessene Waffe zu finden, aber sein Suchen war erfolglos, und so gab er es auf. Er folgte nun dem Fluß, der aus südöstlicher Richtung kam, denn er sagte sich, in der Nähe eines frischen Wassers werde er am ehesten eine andere Niederlassung finden.

Während er so dahinzog, machte er Jagd auf alles, was eßbar war, gerade wie er es früher bei den Affen getan hatte, als Kala ihn angeleitet hatte. Jedes verwitterte Stück Holz drehte er um, ob nicht ein schmackhafter Wurm darunter wäre, oder er kletterte auf Bäume hinauf, um ein Vogelnest auszunehmen, oder er erschlug behend wie eine Katze ein kleines Nagetier. Allerdings aß er auch noch andere Dinge, aber die Affen hatten ihre eigene Nahrung, die ihnen zusagte, und Tarzan war jetzt wieder ein Affe, derselbe wilde, rohe Menschenaffe, zu dem Kala ihn erzogen hatte, und der er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens gewesen war.

Zuweilen lächelte er, wenn er daran dachte, daß dieser oder jener Freund vielleicht im gleichen Augenblick ruhig und tadellos angezogen in einem der eleganten Pariser Klubs saß, ebenso wie er selbst noch vor wenigen Monaten dort gesessen hatte. Und dann blieb er plötzlich stehen, wenn ein leises Lüftchen seiner seinen Nase die Witterung von irgendeiner neuen Beute oder einem furchtbaren Feinde zutrug.

In dieser Nacht schlief er weit von seiner Hütte im Innern des Landes in den sicheren Ästen eines riesigen Baumes, hundert Fuß über der Erde. Er hatte wieder herzhaft gegessen und zwar diesmal von dem Fleische Varas, des Hirschen, der seiner Schlinge zum Opfer gefallen war.

Am nächsten Morgen setzte er seine Wanderung in aller Frühe fort, stets dem Laufe des Flusses folgend. Drei Tage lang suchte er umher, bis er in einen Teil der Dschungel kam, in dem er noch nie zuvor gewesen war. Zuweilen fand er den Wald in den höheren Lagen etwas dünner, und dann konnte er zwischen den Bäumen hindurch in weiter Ferne Ketten mächtiger Berge erkennen. In den vorgelagerten Ebenen gab es anderes Wild: unzählige Antilopen und ganze Herden von Zebras. Tarzan war entzückt. Diese neue Welt wollte er häufiger aufsuchen.

Am Morgen des vierten Tages witterte er einen schwachen neuen Geruch. Es war der Geruch eines Menschen, der aber noch weit entfernt sein mußte. Beim Affenmenschen zuckte alles vor Freude. Er strengte alle seine Sinne an, als er schnell durch die Baumkronen eilte und der Richtung folgte, aus der die Witterung kam. Bald hatte er den Mann erreicht; es war ein einzelner Krieger, der langsam durch die Dschungel schritt.

Tarzan folgte ihm möglichst nahe; er wollte warten, bis er auf eine lichtere Stelle kam, wo er seinen Strick benutzen konnte. Als er dem Schwarzen, der ihn noch nicht bemerkt hatte, folgte, kamen ihm neue Gedanken, die ihren Ursprung in den Feinheiten der Zivilisation und ihrer Grausamkeit hatten. Er sagte sich, ein zivilisierter Mensch erschlage wohl nie oder selten einen anderen ohne irgend einen Grund oder Vorwand. Es galt also einen Vorwand zu finden. Allerdings wollte Tarzan sich der Waffen und der Schmucksachen des Mannes bemächtigen. Aber war es denn nötig, ihn dafür zu töten?

Je länger er darüber nachdachte, desto widerwärtiger erschien ihm der Gedanke, ein Menschenleben nutzlos zu opfern. Und während er noch darüber nachdachte, was er tun sollte, war er an eine kleine Lichtung gelangt, an deren Rande ein von einem Zaun umfriedigtes Dorf mit bienenkorbähnlichen Hütten lag.

Als der Krieger aus dem Wald trat, bemerkte Tarzan den drohenden Blick eines Feindes, der im Dschungelgras lauerte: Numas, des Löwen. Auch dieser wollte den Schwarzen überfallen. In demselben Augenblick, wo Tarzan die Bedrohung des Eingeborenen erkannte, änderte sich seine Haltung vollständig: jetzt war der Schwarze für ihn ein Mitmensch, der von einem gemeinsamen Feinde bedroht wurde.

Numa stand vor dem Sprunge. Da war für Tarzan keine Zeit, die verschiedenen Verfahren, die er anwenden konnte, zu vergleichen und die möglichen Ergebnisse jedes einzelnen abzuwägen. Und so nahmen die Ereignisse schnell ihren Lauf. Der Löwe sprang aus dem Hinterhalt auf den heimstrebenden Schwarzen. Tarzan rief ihm eine Warnung zu, und wie der Schwarze sich umdrehte, sah er gerade, wie Numa von einem Strick erfaßt wurde, dessen Schlinge dem Tier um den Hals gefallen war.

Der Affenmensch hatte so schnell gehandelt, daß es ihm nicht möglich war, sich den nötigen Halt zu verschaffen, um dem Zug des Strickes bei dem schweren Gewicht des Tieres zu widerstehen, und so kam es, daß der Löwe zwar angehalten wurde, ehe er noch seine Krallen in den Körper des Schwarzen einhauen konnte, daß aber Tarzan selbst das Gleichgewicht verlor und hinuntergerissen wurde – keine sechs Schritte von dem wütenden Tiere entfernt. Mit Blitzesschnelle wandte Numa sich nun gegen den neuen Feind, und da Tarzan keinerlei Waffen hatte, befand er sich dem Tode so nahe wie noch nie. Der Schwarze rettete ihn aber. Im Nu hatte er erraten, daß er dem fremden weißen Manne sein Leben zu verdanken hatte und daß nur ein Wunder seinen Retter vor den Pranken des wilden Tieres bewahren konnte, die ihn selbst bedroht hatten.

Eilig ergriff er seinen Speer und schleuderte ihn mit der ganzen Wucht seiner sehnigen Muskeln auf den Löwen, den er in die rechte Weiche traf. Vor Wut und Schmerz brüllend, wandte das Tier sich nun wieder gegen den Schwarzen. Es hatte eben ein Dutzend Schritte gemacht, als Tarzans Strick es wieder zum Halten brachte. Da richtete der Löwe sich abermals gegen den Affenmenschen auf, obschon ihm im selben Augenblick ein mit Widerhaken versehener Pfeil traf und bis zur Hälfte in den Leib eindrang. Wieder hielt er an und inzwischen konnte Tarzan seinen Strick zweimal um den Stamm eines großen Baumes winden und das Ende daran befestigen.

Der Schwarze erriet den Kniff und grinste. Tarzan aber wußte, daß Numa noch den letzten Schlag erhalten müsse, damit seine mächtigen Zähne den Strick, der ihn festhielt, nicht mehr zerreißen könnten. In einem Nu war Tarzan an der Seite des Schwarzen und zog dessen langes Messer aus der Scheide. Dann gab er dem Krieger das Zeichen, er möchte fortfahren, weitere Pfeile auf das große Tier zu schießen, und inzwischen rückte er ihm selbst mit dem Messer auf den Leib. So ward Numa von zwei Seiten angegriffen. Wütend brüllte er und richtete sich auf den Hinterpfoten auf, indem er bald den einen, bald den andern seiner Angreifer zu packen suchte.

Auf einmal erspähte der gewandte Affenmensch eine günstige Gelegenheit: er sprang auf die linke Schulter des Tieres, umfaßte dessen Hals mit seinem gewaltigen Arm und stieß ihm das lange Messer in das Herz.

Dann stand Tarzan wieder auf. Der Schwarze und der Weiße schauten sich über der Leiche des Löwen in die Augen ... Der Schwarze machte das Zeichen des Friedens und der Freundschaft, und Tarzan antwortete ihm auf die gleiche Weise.


 << zurück weiter >>