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An Heinrich von Geymüller

Basel, 8. Mai 1891

Lieber Herr und Freund! Besten Dank für Ihren herzlichen Brief vom 1. dieses und für das nachfolgende Billett! Aber von einem Besuch von Paris, wozu Sie mich so freundlich auffordern, kann für mich längst keine Rede mehr sein; ich bin in einem Zustande, da ich mich auf alle Weise schonen und froh sein muß, gegen Ende Juli in Obernbaden unterkriechen zu können. Die Leute nehmen mich hier noch für gesund, weil ich herumgehe und fünfmal die Woche lese, aber die Maschine geht eben gerade noch zur Not und zeigt Defekte der verschiedensten Art. Das Hinscheiden hat für mich zwar nicht die Hoffnungen, womit Sie, lieber Herr und Freund, erfüllt sind, aber ich sehe demselben doch ohne Furcht und Grauen entgegen und hoffe auf das Unverdiente. In den Gebieten, welche uns beide insbesondere angehen, sah es zur Zeit, da Sie jung waren, vollends aber zu der Zeit, da ich jung war, ganz anders aus als jetzt; die ideale Schönheit als Ziel aller Kunst verstand sich noch von selbst, und der Wohllaut war noch eine Bedingung des Schaffens. Seither ist das Leben überhaupt unendlich viel großstädtischer geworden, und den früheren kleineren Wirkungsstätten ist der Geist entzogen. In den großen Städten aber werden Künstler, Musiker und Poeten nervös. Alles wird wilde, eilige Konkurrenz, und das Feuilleton spielt dazu auf. Die wirklich vorhandene Menge und Höhe der Begabungen ist außerordentlich groß, aber es kommt mir vor, mit Ausnahme des jeweiligen oft kleinen fanatischen Geleites freue sich niemand mehr recht an den einzelnen Werken.

Ich sehe dies freilich alles nur von ferne an und habe mich auf mehrfache Erfahrungen hin von der lebenden Kunst so gut wie vollständig zurückgezogen, so daß mich das große Vergangene um so mehr beschäftigen und beglücken kann. Zwar sucht sich auch auf diesem Gebiet die Nervosität einzunisten in Gestalt der heftigen kunsthistorischen Händel, namentlich über Attributionen, aber diesen gehe ich aus dem Wege und sage meistens, ich verstehe nichts davon. Noch heute denke ich wie mein alter längst verstorbener Freund Gioacchino Curti, welcher sagte: »Purchè la roba sia buona, non dimandar il nome dell'autore.«

Das Vordrängen des Naturalismus sieht unserem fin de siècle vollkommen ähnlich. Was aber die Kunst des 20. Jahrhunderts für Patrone und Mäzenaten haben wird? und ob sie nicht in einer großen allgemeinen Flut völlig untertaucht? Mir kommen bisweilen kuriose Gedanken über alles fragliche Wohlergehen in den Zeiten, welche im Anzug sind. – In Italien, wo ich vor vierzig bis fünfzig Jahren noch beinahe die Illusion eines altertümlichen Lebenszustandes genoß, drängt sich das ›Jetzige‹ auf schreckhafte Weise hervor; oben die Streber, unten eine allmählich furchtbar enttäuschte Nation.

Von Frankreich aus gesehen, in einem Hohlspiegel des Hasses reflektiert, mag sich Italien vollends übel ausnehmen, und, abgesehen von Spekulanten in alten Gemälden, studiert kaum mehr ein Franzose das alte Italien ... Und nun leben Sie wohl und bleiben eingedenk Ihres stets getreuen

J. Burckhardt


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