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An Friedrich Nietzsche

Basel, 13. September 1882

Verehrtester Herr und Freund, vor drei Tagen langte Ihre ›Fröhliche Wissenschaft‹ bei mir an, und Sie können denken, in welches neue Erstaunen das Buch mich versetzt hat. Zunächst der ungewohnte, heitere Goethesche Lautenklang in Reimen, dessengleichen man gar nicht von Ihnen erwartet – und dann das ganze Buch und am Ende der Sanctus Januarius! Täusche ich mich oder ist dieser letzte Abschnitt ein spezielles Denkmal, das Sie einem der letzten Winter im Süden gesetzt haben? er hat eben sehr Einen Zug. Was mir aber immer von neuem zu schaffen gibt, ist die Frage: was es wohl absetzen würde, wenn Sie Geschichte dozierten? Im Grunde wohl lehren Sie immer Geschichte und haben in diesem Buche manche erstaunliche historische Perspektive eröffnet, ich meine aber: wenn Sie ganz ex professo die Weltgeschichte mit Ihrer Art von Lichtern und unter den Ihnen gemäßen Beleuchtungswinkeln erhellen wollten? Wie hübsch vieles käme – im Gegensatz zum jetzigen Consensus populorum – auf den Kopf zu stehen! Wie froh bin ich, daß ich seit längerer Zeit die landesüblichen Wünschbarkeiten mehr und mehr dahinten gelassen und mich damit begnügt habe, das Geschehene ohne gar zu viele Komplimente oder Klagen zu berichten. – Im übrigen geht gar vieles (und ich fürchte, das Vorzüglichste), was Sie schreiben, über meinen alten Kopf weit hinaus; – wo ich aber mitkommen kann, habe ich das erfrischende Gefühl der Bewunderung dieses ungeheuren, gleichsam komprimierten Reichtums und mache mir es klar, wie gut man es in unserer Wissenschaft haben könnte, wenn man vermöchte, mit Ihrem Blicke zu schauen. Leider muß ich in meinen Jahren froh sein, wenn ich neuen Stoff sammle, ohne den alten zu vergessen, und wenn ich als betagter Fuhrmann die gewohnten Straßen ohne Malheur weiter befahre, bis es einmal heißen wird: spann aus.

Es wird nun seine Zeit dauern, bis ich vom eiligen Durchkosten bis zum allmählichen Lesen des Buches vordringe, so wie es von jeher sich mit Ihren Schriften verhalten hat. Eine Anlage eventueller Tyrannei, welche Sie S. 234 § 325 verraten, soll mich nicht irre machen. Mit herzlichem Gruß

Ihr stets ergebener
J. Burckhardt


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