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An Joseph Viktor Widmann

Basel, 14. Mai 1865

Hochgeehrter Herr! Ihre »Iphigenie in Delphi« habe ich aufmerksam gelesen und das schöne Talent, die viele Bildung und die Tiefe des Gedankens mit großer Freude anerkannt, vermag es aber doch nicht, Ihnen, da Sie mein Urteil wünschen, einige Bedenken zu verbergen.

Als sich Goethe, nach Vollendung seiner zweiten Bearbeitung der Iphigenie auf Tauris, in Italien mit einer Iphigenie in Delphi beschäftigte, muß er irgendeine sehr große Schwierigkeit in dem Sujet gefunden haben, da später, soviel ich weiß, nirgends mehr bei ihm davon die Rede ist.

Ich muß glauben, daß dies die Unverträglichkeit des furchtbar herben, mythischen Stoffes mit derjenigen dramatischen Entfaltung der Seele gewesen sei, an welche er, hauptsächlich durch seine Iphigenie auf Tauris, sich und die Nation gewöhnt hatte.

Er würde zwar ohne Zweifel die Absicht Elektras, die Iphigenie zu blenden, mit der Absicht auf Tötung vertauscht haben, allein auch so muß ihm der Stoff zuletzt undankbar erschienen sein.

Ferner mag er gefühlt haben, daß er sein Bild der Iphigenie nur einmal zeigen dürfe; in Delphi hätte nämlich Iphigenie höchstens dasselbe sittliche Wunder noch einmal vollbringen können, welches sie auf Tauris vollbracht hatte, – und noch dazu unter viel zweifelhaftern Umständen, nämlich gegenüber der Elektra, deren Gestalt wohl zu Hause in Argos erträglich ist, während die Atridengreuel noch in frischem Gange sind, kaum aber, nachdem unsere ganze Voraussetzung über die endliche Sühnung schon durch Goethes eigene Iphigenie auf Tauris festgestellt ist.

Und nun vollends wir armen Nachgeborenen, welche das Bild der Priesterin gar nicht mehr los werden und nur höchstens in dessen Sinn weiterschreiben können! Diese reine, konfliktlose Seele ist ohnehin dramatisch von zweifelhaftem Werte, während wir sie freilich in unserer deutschen Poesie als Gestalt um keinen Preis mehr entbehren möchten.

Ferner: Es ist an sich erlaubt, zwei entgegenstehende Weltanschauungen in zwei dramatischen Charakteren zu verkörpern, aber man läuft dabei Gefahr, gerade die Verkörperung, die nur durch Handlung zu vollenden ist, durch Reflexion zu ersetzen.

Endlich habe ich eine ganz spezielle Einwendung gegen den Schluß des vierten Aktes, wo Sie mir das wahre Motiv ohne Not scheinen aus der Hand gegeben zu haben, nachdem Sie dasselbe ganz selbständig und schön herbeigeführt hatten: bei der Meldung, daß Orests Schatten bei Iphigenie weile, muß Elektra zusammenbrechen und die vermeintliche Zauberin mit jammervollem Flehen angehen, ihr nur auch den Schatten des Bruders zu zeigen! Dann kann auch die Axt ganz aus der Sache bleiben.

Dieses sind ein paar Bemerkungen, die ich am Anfang eines mühevollen Semesters nur so rasch hinschreiben kann; mögen Sie das Beste davon denken.

Ich habe aber auch meine Gedanken über die spezifische Natur Ihrer Begabung und möchte Ihnen einstweilen, bei der großen Produktionskraft, die in Ihnen ist, als Thema vorschlagen:

Tagebuchblätter, etwa in Trochäen oder, wenn Sie wollen, in Jamben, aber reimlos. Zwischen Ihr vermutliches sonstiges Treiben hinein eine Reihe von Kontemplationen, ausgehend von irgend etwas Äußerlichem in Natur, Leben oder Studium, sich nach innen vertiefend und wieder mit Anknüpfung an das Äußerliche schließend.

Wenn Sie je Abende in Basel haben, so essen Sie einmal bei mir zu Abend, und das Weitere besprechen wir bei einem Glas Wein. Mit Ausnahme von Samstag und Sonntag ist mir jeder Abend recht. Hochachtungsvoll

J. Burckhardt


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