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Nachwort

Als ich diese Aufzeichnungen begann, war es Winter, und nun will es bald Sommer werden: sommerlich ist der Wind, der an dem geöffneten Fenster vorbeistreicht, sommerlich ist der dahinziehende Himmel mit Wolken geschwängert, sommerlich rauscht und wärmt der Wald, und die Dahlien unten in meinem Garten sind aufgeblüht. Aber sie sind beiweitem nicht so schön wie die des Pfarrers. Der Klee auf den Feldern des Unterdorfs duftet bereits, die Felder stehen grün und hoch, und wenn man durch die Wiesen geht, so machen die Schritte eine Gasse, die sich nur langsam schließt; die Mahd wird bald beginnen. Und der Bub der Agathe ist nun bald ein halbes Jahr alt; dies ist mir eigentlich das Sommerlichste in all dem Gedeihen ringsum, und ein wenig wundere ich mich darüber, denn unter meinen Händen sind schon viele Kinder zu dieser Welt gelangt, und wenn ich durchs Dorf gehe, dann sehe ich sie wachsen und gedeihen, nicht anders wie Agathens Kind. Und so wundere ich mich manchmal darüber.

Und doch gibt es da nichts zu wundern. Denn wenn andere Kinder einfach in diese Welt gelangen, indem sie jene Grenze überschreiten, die wir beim Eingang als Geburt, beim Ausgang als Tod bezeichnen, so scheint es mir, als ob diese Grenze bei Agathens Kind und bei Mutter Gissons Tod ein wenig verschoben worden wäre, als hätte Agathens Kind schon ein wenig früher zu leben begonnen, als hätte Mutter Gisson ein wenig später zu leben aufgehört, als dies durch die eigentliche Grenze bestimmt gewesen wäre, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird dies meine Überzeugung, und es bringt die beiden Fälle in einen tieferen und näheren Zusammenhang, als sie es durch die Verhältnisse ohnehin schon miteinander hatten, und es bettet sie tiefer und eindringlicher in die »Natur« ein, die ja nur beim Menschen eine so scharfe Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben zieht, zwischen Vorher und Nachher, und ihn so vor all ihren anderen Geschöpfen auszeichnet, vielleicht auch nur mit der Sehnsucht auszeichnet, die verliehene Grenze aufzuheben und dennoch Mensch zu bleiben. Und dies will mir als eine Frömmigkeit erscheinen, die nur der Mensch kennt.

Mutter Gisson ist gestorben, und Agathe hat ihr Kind. Mir tut es leid, die Feder wegzulegen, denn was soll ich alternder Mann an den langen Abenden beginnen, wenn nicht die Ereignisse meines Lebens aufzuzeichnen. Doch soll ich aufschreiben, daß der Marius noch immer im Gemeinderat sitzt? für wen soll ich dies aufschreiben, da ich doch selber lieber gar nicht daran denken will? Und wenn auch trotz seines närrischen Geredes und Getues so ziemlich alles im alten Gleis geblieben ist, und wenn auch der Bauer alltäglich aufs Feld hinaus fährt und die Kühe alltäglich gemolken werden, und wenn sogar auch im heurigen Jahr mit der Dreschmaschine gearbeitet werden wird, wenn also auch der Gesamtaspekt der Welt sich kaum geändert hat und kaum ändern wird, und die Gehöfte, Häuser und Kotten genau so friedlich daliegen wie ehedem und ihren Rauch zum Himmel hinaufschicken, so kann ich doch weder Irmgards Schicksal vergessen, noch das Unrecht, das dem armen Wetchy zugefügt worden ist. Ja, es will mir sogar scheinen, als ob dieses schwerwiegender sei als Irmgards Tod, der ja wie ein natürliches Ende ihres Seins gewesen ist: aber Unrecht ist Vergewaltigung der Menschheit und des Göttlichen im Menschen, und in ihm ist die Quelle des Grauens, in dem auch Irmgard untergegangen ist. Welche Verzauberung! Welcher Irrweg, um zur Natur zurückzukehren! wie wird die Natur sich dafür noch rächen! Denn die Natur ist es, die den vergewaltigten Geist rächt, denn Geist und Natur sind eins, und für den Menschen gibt es bloß einen Weg zur Natur und zu ihrer Unendlichkeit, und dies ist der Geist, Gnade des Menschen und seine göttliche Auszeichnung.

Mutter Gisson ist gestorben, und Agathe hat ihr Kind. Dies war wichtig, dies ist wichtig, weil auch im Sterben und Gebären der Geist wirken kann, ja, vielleicht mehr als anderswo. Und so verblaßt daneben, daß die Zwergengrube von der Bergbehörde gesperrt worden ist, es verblaßt daneben, daß der Marius dagegen Einspruch erhoben und vielerlei städtische Einrichtungen wie Advokaten und Ingenieure hierfür herangezogen hat, es verblaßt dagegen, daß der Krimuß dies alles bezahlt und der Lax schließlich doch noch das Krimußsche Anwesen in die Hand bekommen wird. Dies alles verblaßt daneben. Mutter Gisson ist gestorben, und die Agathe hat ihr Kind. Und es will mir scheinen, als ob mit dem Kind der Agathe eher die neue Zeit kommen wird als mit den Reden des Marius, es will mir scheinen, als ob sich in Agathens Geist die neue Frömmigkeit vorbereitet, die die Welt braucht und die sie will, und daß Agathens Kind dies einst wird verwirklichen können. Und vielleicht bin ich bei dieser Geburt dabei gewesen.

 

Hermann Brochs Kommentare

[Aus Gründen des Urheberrechts gelöscht. Re. für Gutenberg.]

 


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