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XI.

An der Theke lehnte ein kleiner wohlbeleibter Mann. Neben ihm auf einem Stuhl stand eine Art Aktentasche, aus der einige Flaschenhälse herauslugten.

»Sabest«, sagte er, »deinen Namen laßt du dir auf die Etiketten drucken.«

Sabest, eine Zigarette zwischen den Lippen, antwortete nicht.

Der Liqueurreisende fuhr fort: »Du laßt drauf drucken Theodor Sabest, Hotel und Handlung in Kuppron.«

Sabest rührte sich nicht.

Der Reisende, der jetzt aus seiner Tasche eine Musterflasche und ein Liqueurglas hervorgekramt hatte [, sagte]: »Ich trink auf dein Wohl, Sabest …«

»Ja«, sagte nun der Wirt, »aber ich hab' noch Flaschen vom vorigen Jahr … die Bauern brennen ihren Schnaps selber.«

Der Reisende ließ sich nicht beirren: »Dann kannst du die neuen Etiketten aufkleben … Unter-Kuppron ist noch eleganter als Kuppron allein.«

»Deshalb werden die Bauern ihn doch nicht kaufen.«

»Du hast ja auch feine Kundschaft«, sagte der Reisende mit einem Seitenblick auf mich, »brauchst ihn ja nicht gleich beziehen, vor Weihnachten, als Weihnachtsgeschenke, da bindest du ihnen Silberzweige um, das sieht sehr fein aus …«

»Bis Weihnachten«, sagte Sabest noch immer in Gedanken versunken, »bis Weihnachten …«

»Vier Wochen Ziel«, sagte der Reisende, »meinetwegen sechs Wochen, da brauchst ihn erst im Februar bezahlen …«

Sabest lachte kurz auf: »Wer weiß, wer da noch lebt.«

»Die Überlebenden brauchen Schnaps«, meinte der Reisende.

»Schreib' zehn Flaschen auf«, sagte der Wirt.

Ich grüßte und ging. Es war eine ganz gewöhnliche Szene, die ich da mitangehört hatte. Aber ich hatte den Marius und die Irmgard noch so frisch im Gedächtnis, daß mir seitdem alles, und auch dies, den Eindruck des Trancehaften machte. Vielleicht war es ein richtiger Eindruck, manches spricht sogar dafür, doch vielleicht war es mein eigener Zustand, der mich die Dinge so sehen ließ, denn ein einsamer Mensch, wie ich es bin, einer, der sich, so wie ich, aus manchen Bindungen des Lebens losgelöst hat, der kann schon durch einen geringen Anlaß ins Fremdeste gejagt [werden], in eine Fremde, die ferner ist als jede Fremde und ferner als jede Heimat, und in der nichts als die kühl wehende Luft des Todes vorhanden ist. Ja, das war durchaus möglich, so nüchtern und vernünftig ich mir auch vorkam, sowohl in meinem Denken, wie in meiner Arbeit, die die Dunkelheit der Krankheit bekämpft und die Angst des Kranken mit der Helligkeit des Wissens beschwichtigt, ja, es war trotzdem möglich, und manchmal schien es mir, als hätte ich die kleine Rosa bloß zu mir genommen, um mir in meiner Einsamkeit neue Bindungen zu schaffen.

Aber im Grunde ist dies gleichgültig, und beinahe ist es mir, als sei es unstatthaft darüber nachzudenken. Nicht etwa, weil ich den Unterschied zwischen Traum und Realität leugne und es gleichgültig fände, ob einer im Traum oder im Wachen durch die Welt schreite, sondern weil unser eigentliches Wissen mit alldem nichts zu schaffen hat und es ganz unabhängig ist, von diesen oder jenen Zuständen, in die wir uns versetzen oder versetzen lassen: unser Leben ist Träumen und Wachen zugleich, und wenn der kühle Wind des Traumes manchmal in jene Welt weht, die wir Realität nennen – und er tut es öfter, als wir annehmen –, so wird diese manchmal wundersam erhellt und tief wie eine Landschaft nach einem kühlen Regen oder wie eine Rede, die plötzlich nicht mehr nur aus bloßen Worten besteht und von Dingen erzählt, die sich irgendwo im Gestaltlosen zugetragen haben, sondern die vom Hauche einer höhern Realität getroffen worden und plötzlich befähigt ist, lebendig und warm, die Dinge darzustellen, wie sie sind. Doch nimmer könnten die beiden Sphären derart einander durchdringen und befruchten, wenn sie nicht beide ihr Licht aus einem Bereich empfangen, der unsere Ahnung und unser Wissen ist, eingesenkt in der Unauslotbarkeit unseres Herzens und unserer Seele.

Ich hörte noch die Stimme des Liqueurreisenden, als ich schon auf der Straße war:

»Willst du das Theodor Sabest ausgeschrieben, oder bloß Th. Sabest?«

»Ausgeschrieben«, antwortete die Stimme des Wirtes.

Es war ein heller und warmer Septembernachmittag, eingesenkt zwischen die Kühle des Morgens und des Abends, eine trockene Kühle, denn der Regen, mit dem der August geendet hatte, war rasch wieder abgeflaut und hatte bloß einen leichten grauen Dunst zurückgelassen, der in den Wärmestunden des Tages aufstieg, das Grün der Berge verdeckte, so daß bloß die sonnbeschienenen Felsen sichtbar blieben, ein Dunst, der bis zu den hochziehenden Wolken hinanreichte: wie ein kreisrunder Vorhang hing er um den Talkessel und schloß ihn von der übrigen Welt ab, man hätte meinen können, daß die überhaupt nicht mehr existiert und vielleicht niemals existiert hatte. Das war der Herbst, es war die Kühle des Herbstes und seine Wärme, es war eine herbstliche Trockenheit, des Herbstes Weichheit und sein Licht.

Schon ging der Pflug über die Felder.

Wenn es irgendwo ein objektives Kriterium für trance- und traumartige Zustände gibt, so liegt es wohl in der Eile, mit der einem Dinge, die man sucht, von selber zulaufen: seit dem Gespräch mit Irmgard hatte ich die Absicht gehabt ihren Vater zu treffen, und jetzt sah ich Miland bei der Schmiede; er war gerade daran, einen Pflug auf seinen Wagen zu laden.

Er und der Schmied sahen mich herankommen. Der Wagen polterte, als sie das Gerät darauf taten, und nun warteten sie auf mich mit grußbereiten Gesichtern.

Ich hatte mir eigentlich nicht zurechtgelegt, in welcher Form ich Miland von den Befürchtungen Irmgards und von der Gefahr, in der sie selber schwebte, unterrichten werde. Vor dem Schmied konnte ich dies noch weniger tun. Aber beinahe unverzüglich begann ich von dem Thema zu sprechen, das mir am Herzen lag: »Ihr seid schon beim Pflügen«, sagte ich, »im Oberdorf dreschen sie noch.«

»Ja«, sagte Miland, »die sind ja immer später daran.«

»Und der Marius ist noch immer oben.«

»Zum Pflügen kommt er schon herunter.«

»Ein Glück, daß Ihr noch keine Pflugmaschinen habt.«

Der Schmied lachte, aber Miland blieb ernst: »Er hat nicht so unrecht«, sagte er.

»Womit hat er nicht unrecht?« fragte ich, obwohl ich bereits wußte, worauf es hinauslief.

»Mit der Maschinarbeit.«

Es unterlag keinem Zweifel, daß er von Marius schon weitgehend angesteckt war. Ich schaute ihn besorgt an: »Geh weg, Miland, da müßt Ihr auch die Wasserleitung im Stall absperren und wieder das Wasser im Kübel tragen.«

»Vielleicht«, sagte er.

Aber nach einer kleinen Weile gab er die Begründung: »Die Maschinarbeit hat zu viel Leute brotlos gemacht.«

Es war mir klar, daß auch dies zu den Wanderpredigerargumenten des Marius gehörte, und sogar zu seinen billigsten, wahrscheinlich zu jenen, an die er nicht einmal selber glaubte, wohl wissend, daß der Mensch sich den Erzeugnissen seiner eigenen Erfindungskraft nicht entgegenstemmen kann. Wie also konnte ein so überlegter Mann, wie Miland es war, solches aussprechen? welcher Macht unterlag er dabei, welcher Macht gehorchte seine Zunge?

»Miland«, sagte ich, »Ihr seid doch sonst nicht einer, der ins Blinde hineinwirtschaftet.«

Er lächelte: »Man muß manchmal die Kalkulation beiseite lassen, Herr Doctor.«

Der Schmied sagte: »Nein, … mit der Fabriksware muß man sich abfinden … auch der Schmied wird über kurz oder lang überflüssig werden.«

Doch die Volkswirtschaftslehre des Marius hielt dem noch stand. Miland sagte: »Was hilft's, daß auf der Welt immer billiger und billiger produziert wird, wenn die Kaufkraft dabei sinkt … das muß eben anders werden, man muß eben umlernen …«

»Und da sollen gerade in Kuppron die Maschinen abgeschafft werden, Miland?«

»Nein«, antwortete er ganz vernünftig, »das kann nur an vielen Orten, vielleicht in der ganzen Welt zugleich geschehen, ein einziger Ort wäre zu schwach dazu, aber …«

»Aber?«

»Aber die Wahrheit kann nur von einem einzigen Ort aus ihren Ausgang nehmen, denn immer ist es nur ein einziger Mund, der sie verkündet. Wenn es einen einzigen Punkt auf der Welt gibt, wo die rechte Gesinnung herrscht …«

»Ein Gerechter in Sodom«, warf ich ein.

»Und dann ist's trotzdem noch immer keine Wahrheit«, bemerkte der Schmied.

»Nein«, gab Miland bereitwillig zu, »das ist erst die Folge der Wahrheit. Auf die Gesinnung kommt es an, dann geschieht das Richtige von selbst.«

Ich ahnte, daß die Wahrheit, die er meinte, mit Irmgard und mit dem Gerede über das Opfer zusammenhängen müsse, aber ich sagte: »Na, die Goldsucherei ist auch nicht eben das Wahre.«

Miland lächelte wieder sein entrücktes Lächeln: »Die Wahrheit ist in der Seele, nicht im Berg.«

»Ja«, sagte ich beinahe wütend, »aber das ganze Unterdorf ist schon drauf und dran, sie im Berg zu suchen … ich glaube, Ihr seht nicht, daß Euer Marius ein höchst zwiespältiges Spiel treibt … er hat zwei Wahrheiten, eine für den Lax und eine für Euch …«

Der Schmied lachte auf: »Die Burschen sollen bloß ihr Gold suchen.«

»Na, Schmied«, sagte ich, »gehörst du etwa auch schon zur Lax-Partei?«

Er legte mir die Hand auf die Schulter: »Das Gold ist das Feuer, Doctor, und wenn sie vom Gold reden die Leute, oder von der Wahrheit, so meinen sie das Feuer, das in der Erde ist … das müssen sie wieder lernen … auch der Marius muß das lernen …«

»Ja, ja«, sagte Miland, »du darfst es auch das Feuer nennen, Schmied, und ein Stück tiefer als das Gold ist es ja in der Erde …«

»Es ist am tiefsten«, sagte der Schmied, »und das Gold, das sie holen wollen und um das sie sich streiten, auch das Gold ist nichts anderes als Feuer … jedes Körnchen Gold, ein Funke vom großen Feuer …«

»Du hast ohnehin dein Feuer, Schmied«, sagte ich und deutete in die dunkle Schmiede hinein, wo das Feuer auf der Esse lag.

»Gewiß, das habe ich«, sagte er, »aber die Menschen wollen immer zum großen Feuer zurück, und deshalb suchen sie das Gold …«

Miland sagte nachdenklich: »Auch der Schmied will halt die Welt erlöst haben …«

»Oho«, sagte der Schmied.

»Willst du etwa nicht, daß die Wahrheit in die Welt kommt?«, fragte Miland in seiner sanften Art.

»Die Wahrheit«, sagte der Schmied und lachte sein gutes Lachen, das wie poliertes Holz ist, »ja, die Wahrheit …«

Die Sonne hatte sich den Bergen genähert, und in der veränderten Schräge ihres Lichtes wurden nun auch die bisher deutlich gewesenen Felswände des Kupprons flächig und kulissenhaft, wurden große graue Papierschnitte, leicht angeklebt an den Wolken, mattes Silberpapier im Dunste.

Dann sagte der Schmied: »Die Wahrheit ist, daß das alles …« und er wies mit seinem Hammer, der auf Milands Wagen gelegen hatte, zu den Bergen hinüber, »… daß das alles Rauch ist von dem Feuer unten … festgewordener Ruß, und die Funken, die stecken noch darin und sind das Gold …«

»Schmied«, sagte ich, »mit einer solchen Wahrheit läßt sich nicht viel anfangen … es mag stimmen, aber was soll es den Menschen helfen?«

»Achtung sollen sie davor haben«, sagte er. Und dann lachte er: »Auf die Gesinnung kommt es an!«

Wie er so dastand mit seinem Hammer und zum Kuppron hinüberschaute, hätte man meinen mögen, daß er den zum Felsgestein erstarrten Rauch noch flacher hämmern wollte.

Miland hatte sein Roß beim Halfter genommen und das Gespann dorfabwärts gewendet. Jetzt sagte er und schlug sich dabei auf die Brust: »Da drinnen ist die Wahrheit, Schmied.«

»Aber auch das Feuer«, antwortete der Schmied, »Grüß Gott, alle zwei.« Und er ging zu seiner Esse zurück.

»Grüß Gott auch, Schmied«, sagten wir.

Ich schloß mich Miland an. Er hatte die Zügel um das Wagengestänge geschlungen und ging neben mir einher. Beim Eingang der Kirchengasse zögerten die Pferde, wollten einbiegen, und erst auf den Zuruf Milands setzten sie ihren Weg fort. Es war erst halb fünf, und bis sieben konnte man gut bei der Feldarbeit bleiben; so lange war es noch licht.

»Nun«, sagte ich, »wie verhält sich das eigentlich mit der Wahrheit, von der da in einem fort herumgesprochen wird?«

Er war nachdenklich und es dauerte eine Weile, bis er antwortete: »Auf das Feuer, das unten brennt, kommt es nicht an … das ist die Wahrheit des Schmieds, aber nicht mehr.«

»Gewiß, Miland, aber Ihr sprecht unablässig von der Wahrheit, … welche meint Ihr also?«

Wieder ließ er, in Gedanken versunken, auf die Antwort warten. Doch dann sagte er: »Sie haben keine Frau, Herr Doctor, Sie sitzen dort ganz allein dort oben …«

»Gottlob«, sagte ich.

Er sah mich von der Seite an und lächelte: »Ja, ich weiß, daß Sie's gerne ins Spaßige ziehen … aber das häßliche Mädel vom Wetchy haben Sie doch zu sich genommen.«

»Ja, sicherlich … aber ich sehe nicht, was das mit der Wahrheit zu tun haben soll.«

»Sie müssen schon Geduld mit mir haben, Herr Doctor, ich bin nur ein einfacher Bauer, und wir Bauern denken langsam … ja, und es läßt sich auch nicht sagen, das ist die Wahrheit, um die es sich handelt … der Schmied hat seine Wahrheit, und die Augen haben ihre Wahrheit, und die Finger haben ihre Wahrheit, und für den Schmied ist es das Feuer in der Erde, und für die Augen sind's die grünen Bäume, und für die Finger ist es heiß oder kalt je nachdem … man kann nur immer sagen, das ist wahr und das ist nicht wahr, oder das ist gerecht und das nicht gerecht, aber die Wahrheit oder die Gerechtigkeit, das gibt es nicht.«

»Gut«, sagte ich und wartete auf die Fortsetzung.

Der Wagen neben uns knarrte, der Pflug darauf holperte und manchmal klirrte er metallisch, die großen Pferdegeschöpfe, atmende Ziehmaschinen, gingen ruhig vor dem Wagen. Jetzt waren wir am Ausgang des Dorfes.

Da sagte Miland: »Der Mensch, der allein ist, verliert die Wahrheit.«

»Welche?«, fragte ich, »die Wahrheit der Augen? die Wahrheit der Finger?«

»Vielleicht auch die«, meinte Miland, »vor allem aber verliert er die Wahrheit im Herz.«

Ich fühlte mich getroffen, natürlich, und nicht nur, weil er meine Einsamkeit erwähnt hatte. Ich sagte: »Meinen Sie mich, Miland?«

»Nein, mich … aber wenn Sie wollen, meine ich uns alle, denn wohl alle, die hier herumlaufen, sind in der Einsamkeit und haben die Wahrheit des Herzens verloren.«

»Miland, Sie haben doch Ihre Familie, Sie haben Ihre Kinder.«

Er blieb stehen, zog den großen, schrumpeligen Tabaksbeutel, den er unter dem Leibriemen geklemmt trug, hervor, einen gelben, vom Gebrauch teilweise schwarz gewordenen Beutel aus Hasenblase, bot ihn auch mir und stopfte seine Pfeife. »Höh«, rief er dem Gespann zu, das gleichmäßigen Schrittes weitergegangen war und daraufhin folgsam anhielt.

Hinter der vorgehaltenen Hand, wie es alle Raucher tun, auch bei Windstille, zündeten wir unsere Pfeifen. Das kleine Leben des brennenden Zündholzes in der hohlen Hand, sagte ich: »Das Feuer ist das Leben, Miland, der Schmied hat recht, es ist die einzige Wahrheit.«

Vor uns lagen die weicheren Hügelhänge der Ostseite; langsam zum Wald hinansteigend, waren auch sie oben schon vom leisen Dunst des Herbstes verhangen. Es war still, die Stille des Herbstes, eine herbe Milde, der Feuchtigkeit harrend, die erst kommen soll; sogar der Dunst um die Höhen schien trocken zu sein, er war wie trockener Rauch, stillhaltend vor dem Kommenden. Aus unseren Pfeifen stiegen graue Rauchsäulchen empor und mischten sich in die Stille.

Hätte Miland jetzt nicht weiter gesprochen, ich hätte nicht weiter gefragt. Es war zu friedlich; die Welt brauchte nicht erlöst zu werden. Man war einsam in dieser Welt, aber der Friede war ringsum. Und als er nun doch zu sprechen anhob, vorsichtig an seiner Pfeife ziehend, da klang es gleichfalls friedlich. Er sagte: »Wenn man die eine Hand seinen Eltern gibt, die andere seinen Kindern, dann möchte man meinen, daß es keine Einsamkeit gibt.«

»Ja«, sagte ich, »ganz einsam kann kein Mensch sein, denn Eltern muß er gehabt haben, selbst wenn er sie nicht gekannt hätte.«

»Aber«, fuhr er fort, »das ist alles nur Schein.«

»So?« sagte ich und stimmte ihm innerlich bei.

Wir waren bei dem wartenden Gespann angekommen, das beim Nahen unserer Schritte, ohne einen Zuruf abzuwarten, seinen Weg wieder aufnahm. Die Straße wendet sich hier in einer großen Kurve nach Norden und senkt sich zum Talausgang hin, den der Kuppronbach zwischen zwei Steilhängen eingeschnitten hat. »Höh«, sagte jetzt wieder Miland, und die Pferde bogen rechts in den Feldweg ein, der zu den Milandschen Feldern am Hang hinaufführt.

»Immerhin«, sagte ich, »eine Hand den Eltern, eine den Kindern, und eine dritte der Frau, mit der man die Kinder gemacht hat, das ist schon immerhin etwas und könnte auch die Wahrheit des Herzens sein.«

Wir gingen am Wegrand auf der Wiese. Die ersten Herbstzeitlosen standen im kurzgeschorenen Grün, sie hatten bloß die letzte Mahd abgewartet, um herauszukommen, und nun warteten sie noch auf den Nebel, in dem sie sich auflösen werden, nebelfarben sie selber schon. Sie litten unter der hellen Nachmittagssonne, die mit einem leisen, wie schwimmenden Licht über sie hinwegstrich, hügelaufwärts zu dem schüttern Birkenhain dort oben, ein Wiesenhain, nicht mehr Wiese, noch nicht Wald, und sein helles Grün schien von dem hellen Licht emporgehoben zu werden, wehend wie ein Klang, der im All erstirbt.

Miland sagte ruhig: »Es gibt keinen Anfang, und es gibt kein Ende, nur in uns ist der Anfang und das Ende, nur so lange wir leben … Abraham war bereit, den Isaak zu opfern, und er hätte das tote Kind mehr noch geliebt als das lebende; nur wenn wir mit unseren Toten reden, überspringen wir Anfang und Ende, das Lebende läßt uns in der Einsamkeit …«

Ich merkte auf; denn nun war das Wort vom Opfern auch von seiner Seite gefallen.

Er nickte mir zu: »Nur den Toten reichen wir wirklich die Hand.«

»Na, werden Sie vielleicht deshalb alle Ihre Kinder umbringen? wo bleibt Ihre Wahrheit des Herzens, Miland?«

Erst schwieg er, als wäre er von meinem Einwand berührt worden, doch dann schüttelte er den Kopf: »Sie mißverstehen mich, Herr Doctor … wir können bloß vom Lebenden nichts erhoffen, es läßt uns in der Einsamkeit …«

»Auch der Marius lebt«, sagte ich beinahe schroff, »und dem reichen Sie die Hand. Sie sind auf einem Irrweg, Miland.«

»Nein«, sagte er ebenso ruhig und sicher wie vorher, »er lebt weniger als wir alle, und noch weniger als ich … er kommt aus der Einsamkeit und geht in die Einsamkeit, auch wenn er hier bleibt, er ist der Wanderer …« und dann fügte er hinzu, »… und weil er einsamer ist als alle anderen, weil ihn nichts Lebendes mehr bindet, wie die anderen, darum ist er fähig, sie aus ihrer Einsamkeit zu führen und in die Wahrheit des Herzens … das fühlen sie, und deshalb laufen sie ihm nach …«

»Also doch die Erlösung der Welt«, sagte ich.

»Ja«, sagte er, »es genügt nicht, daß die Menschen übereinstimmen in der Wahrheit ihrer Augen und in der Wahrheit ihrer Finger, daß sie sich verstehen, wenn der eine grün meint und der andere heiß, oder wenn zweimal zwei vier ist, das genügt nicht, denn wenn sie sich nicht auch wieder in der Wahrheit des Herzens verstehen, werden sie die anderen auch verlieren … und dann wird nicht einmal die Wahrheit der Augen des einen die gleiche wie die des andern sein …«

»Ihr macht es Euch zu leicht, Miland«, sagte ich.

Er dachte wieder nach, dann sagte er: »Immer habe ich gesucht, Herr Doctor, schon als ganz junger Mensch. Und dann habe ich mir die Gisson Ernestine von oben heruntergeholt …« (es war ein wenig Stolz in seiner Stimme, als er das sagte) »… ja, und vielleicht habe ich es getan, weil sie ihrer Mutter so ähnlich war, und das wird wohl ein Fehler gewesen sein … vielleicht wäre sie ihrer Mutter ähnlicher geblieben, wenn ich sie nur ihrethalben genommen und an keine Ähnlichkeit gedacht hätte …«

Ich verstand ihn, und ich sagte: »Was habt Ihr denn erhofft, Miland?«

»Das Gemeinsame«, sagte er, »nicht nur die Liebe.«

Und dann fuhr er fort: »Es ist nicht geworden … es ist kein Geheimnis, Sie sehen es ja selber, daß es nicht geworden ist … es mag sein, weil wir anders denken, wir herunten und die vom Oberdorf, aber das ist nicht alles … und wir machen unsere Arbeit, ich die meine, sie die ihre … sehen Sie, Herr Doctor, und wenn ich es nicht im Griffe hätte, was ich zu tun habe, vom Vater schon her, ich hätte am Morgen nicht die Kraft, aufs Feld zu gehen oder in den Stall … so sehr allein sind wir geworden, daß wir nicht mehr wissen, was wir mit unsern Händen anfangen sollen …«

»Ja«, sagte ich.

»Und dann ist er gekommen … einer, der nicht anders ist als ich, einer, der mein Bruder sein könnte, einer, der vor sich hingeht mit seinen Füßen, weil er den Sinn nicht mehr gehabt hat, mit diesen Füßen zu einer Arbeit zu gehen … da ist er gewandert … aber er, er hat es ausgesprochen, ich, ich habe es nicht einmal denken können …«

»Und wohin ich auch schaue, es ist überall das Nämliche … die Leute machen ihre Arbeit, ja, das tun sie, aber sie tun's aus bloßer Einsamkeit, und sie hassen einander ob ihrer Einsamkeit … sie können nicht einmal mehr zueinander wollen, sie können nur mehr hassen wollen …«

»Miland«, sagte ich, »Ihr möchtet gerne fromm sein … das ist es.«

Er sah mich an: »Ja … wenn Sie wollen, Herr Doctor, das ist es.«

»Und was Ihr da sagt, das klingt sehr nach christlicher Nächstenliebe.«

»Es ist mehr als Liebe, es ist Gemeinsamkeit.«

»Aber in die Kirche geht Ihr jeden Sonntag …«

»Ja, ich gehe zur Kirche, und auch mein Weib tut es … sie alle tun es ja … aber das nützt uns nichts, selbst wenn wir es verstehen wollten, wir verstünden es nicht, denn Gott hätte es nicht zulassen dürfen, er hätte unsere Einsamkeit und unsern Haß nicht zulassen dürfen … und wenn der Pfarrer predigt, daß wir von Gott abgefallen sind, warum hat Gott den Abfall zugelassen? wir haben nichts dazu getan, wir sind unseren Pflichten treu, wir wollen fromm sein … Gott läßt es nicht zu? gibt es ihn, so spielt er mit uns und spielt mit unserem Leid … aber weil er das nicht tun kann, so gibt es ihn nicht …«

»Und da soll der Marius das Heil bringen? … bedenken Sie Miland, auf der einen Seite die Kirche in ihrer ganzen Größe, auf der andern der kleine Marius …«

»Der Marius ist ein Mensch wie wir, Herr Doctor, ebenso einsam und mit genau dem gleichen Haß in sich, er ist genau wie wir, er spricht nur aus, was wir denken, den verstehen wir … die christliche Liebe, die verstehen wir nicht mehr, so gerne wir sie verstehen würden, aber wir verstehen, daß das Oberdorf und das Unterdorf an einem Strang ziehen müßten, statt nach links und rechts zu zerren, und wir verstehen, daß die Maschinen schlecht und die Erde gut ist …«

Ich ging neben ihm, auch ich in meiner Einsamkeit, auch ich in der Einsamkeit meines Traumes, auch ich verloren und irrend auf einem Weg, von dem wir nur wissen, daß er aus der Dunkelheit des Mutterschoßes in die Dunkelheit der Erde zurückführen wird, auch ich in der Einsamkeit einer Willensfreiheit, die vielleicht das einzig Bezeichnende für diese weltliche Wegstrecke ist: oder haben wir vorher eine größere Freiheit gehabt? gehen wir zu einer größern Freiheit ein? Doch auch in der Einsamkeit meiner Freiheit, dieser träumenden Freiheit, vermischte sich mir das Gute und das Böse, und ich wußte nicht mehr, ob von dem Marius ein Führen oder Verführen zu erwarten sei.

Miland aber sagte: »Wenn der Mensch verloren gegangen ist, dann braucht er die Hand, die ihn leitet, die ihn von Stein zu Stein führt, er braucht den irdischen Bruder …«

Doch da konnte ich endlich sagen: »Allzuirdisch vielleicht.«

Er blieb einen Augenblick stehen: »Warum?«

»Miland«, sagte ich, »Ihr habt gemeint, daß man mit der Wahrheit des Schmieds nichts Rechtes anfangen könne … Ihr habt recht gehabt, denn es ist eine irdische Wahrheit wie so viele andere auch … der Marius will mit seiner Wahrheit, die auch eine irdische Wahrheit ist, zu viel anfangen … er will aus dem Irdischen, er will aus der Erde etwas Göttliches machen.«

Wir waren bald bei seinen Feldern, beinahe unwillig hielt er das Gespann noch einmal an, man merkte, daß es ihm wichtig war, das vorher noch zu erledigen.

»Herr Doctor«, sagte er, »ein Leben lang hat man uns lehren wollen, Gott zu lieben, wir haben uns bemüht, es ist uns nicht gelungen, er hat es uns zu schwierig gemacht … sollen wir nicht statt dessen die Erde lieben? … man hat uns die Wunder der Heiligen zum Verehren gegeben … sollen wir nicht lieber das Wunder verehren, das jedes Jahr mit der Ernte da ist? … was soll es uns bedeuten, wenn man uns sagt, daß Gott das Erntewunder schafft! erst wenn wir dieses Wunder selber wirklich erfassen und verehren, dann werden wir vielleicht wieder zu dem kommen, das man uns Gott genannt hat …« Er lächelte ein wenig und fügte hinzu: »Eines nach dem andern.«

»Und so sagt das der Marius?«

»Nein, er sagt gar nichts, er tut es.«

Er war von einer beinahe ansteckenden Überzeugtheit.

Trotzdem sagte ich: »Da stimmt etwas nicht, Miland, Ihr wollt Gott nicht, aber den Marius macht Ihr zum Gottgesandten.«

Er legte die Hand auf meine Schulter, eine schmale und doch derbe Bauernhand: »Ob ihn Gott geschickt hat, das kann ich ebensowenig sagen, wie daß Gott die Ernten macht … vielleicht ist es die Erde, die ihn schickt, genau so, wie sie Ernten hervorbringt … aber ohne Grund ist er nicht gekommen … Gott ist da bloß ein Name …«

»Schicksal also?«

»Vielleicht Schicksal … wenn alles bloßer Zufall wäre, man müßte verzweifeln.«

»Auch Schicksal ist bloß ein Name, Miland … besonders wenn das Schicksal Marius heißen soll.«

Er schüttelte den Kopf: »Zufall oder Schicksal, Herr Doctor … wenn der Zufall in Menschengestalt an uns herantritt, dann ist es kein Zufall mehr … ob ein Mensch so oder so heißt, das mag ein Zufall sein, daß er aber da ist, daß er zu einer bestimmten Stunde gekommen ist, das ist jenseits von Zufall und Namen … das ist eben das Schicksal.«

Irmgard hatte um ihren Vater Angst. Er war mit all den Dingen auf eine wunderlich lose und unlösbare Art verstrickt, so vernünftig er sie auch betrachtete. Meinte sie diese Verstrickung? Aber sie selbst war ihnen noch in viel engerer Verstrickung verbunden! Wollte sie durch die Opferung, von der da immerzu gefaselt worden war, den Vater lösen? Wie ein großer gemeinsamer Traum aller Schlafenden, aller Lebenden erschien mir die Welt, wie ein ungemein fein verästelter Traum, der all die Schläfer umfaßt, die sich am Leben wähnen, und in dem dennoch auch alle Träume der Verstorbenen und Längstverstorbenen eingeflochten sind. Einer wirft dem anderen den Faden des Traums zu, daß er ihn aufnehme, und es entsteht das Gewebe des Lebens. Ist dies Gottes Traum, in dem wir schlafen?

»Wenn es nichts Vorbestimmtes gäbe, wären meine Kinder auch nur Zufall«, sagte er.

Da fragte ich, der ich ihm kaum mehr etwas zu entgegnen hatte, schier ohne meinen Willen: »Und die Irmgard?«

Er schaute mich überrascht an, dann sagte er langsam: »Die Irmgard ist mein Kind.«

»Ja, Miland, und wenn sie dem Marius folgt, dann kann es für sie gefährlich werden … Ihr sagt, daß er vom Schicksal gesandt ist … es gibt auch vom Schicksal gesandte Narren.«

Er zuckte die Achseln: »Mag es ein Narr sein, mag es ein Irrsinn sein … wenn alle an den Irrsinn einmal glauben werden, dann wird der Irrsinn zur Vernunft … aber mit der alten Vernunft geht es eben nimmer weiter … und irgend etwas in uns muß eben Ja sagen, dann wird es schon von selber vernünftig.«

In alldem steckte etwas Gefährliches, aber auch Richtiges, steckte das Vertrauen zu einem Instinkt der Menschheit, die, von der eigenen Vernunft irregeleitet und in schwerste Bedrängnis gebracht, nun nach einer neuen Vernunft tastet. Waren es nicht auch die gleichen Motive, die mich von meiner wissenschaftlichen Arbeitsstätte vertrieben hatten, mich in die Einsamkeit getrieben hatten und mich nun auf ein unsicheres Wissen horchen und warten ließen?

»Gefährlich oder nicht«, sagte er, »wenn es keinen Zufall gibt, wenn es vorherbestimmt war und sie mein Kind ist, dann ist ihr Weg der nämliche wie der meine, dann werden wir einander treffen, und …« er stockte, »… und es wird sich doch noch erfüllen, was ich einmal gehofft habe …«

Jetzt begriff ich: »Die Tochter soll Euch das werden, was Euch die Mutter schuldig geblieben ist? so soll Euch der Weg über den Marius doch noch zur Mutter Gisson zurückführen?«

Er zog an seiner Pfeife: »Das ist mir zu umständlich, was Ihr da sagt, Herr Doctor, darauf ist mein Kopf nicht eingerichtet … Sie sagen aber auch, daß ich fromm werden will, ja, das ist meine Absicht, und wenn auch die Irmgard fromm wird, so werden ich und sie das Gemeinsame haben …«

»Vorausgesetzt, daß wir das Gemeinsame nicht nur mit unseren Toten haben, wie Ihr behauptet habt …«

»So ist es jetzt noch: aber nach der Wiedergeburt wird die Gemeinsamkeit unter den Lebenden herrschen.«

»Die Wiedergeburt«, sagte ich, seltsam berührt von diesem magischesten aller Worte, die die Menschheit sich geschaffen hat.

Er war noch immer mit seiner Pfeife beschäftigt, als hätte er bloß vom Winteranbau gesprochen; aber seine Augen schienen von einer dunklen Flamme durchleuchtet.

Ich sagte zögernd: »Die Wiedergeburt ist wohl das Opfer?«

»Ja«, sagte er ruhig, doch den flammenden Blick zu mir gewendet, »es ist nicht zu erwarten, daß wir die Wiedergeburt umsonst haben werden.«

Ein unerwartetes Bedürfnis stieg in mir auf, gleichfalls teilzuhaben an dieser Wiedergeburt, an die ich doch nicht glaubte und die mir nur widersinnig und gefährlich erschien, es war, als hätte sich die Stille um uns in ein Sonnengewitter schweigenden Donners voll verwandelt, und ich sagte: »Die Wiedergeburt ist der Tod.«

»Ja«, sagte er, »dann ist der Tod die Wiedergeburt; ob Keim oder Ernte, beides ist der Tod und beides ist das Leben.«

Ich hätte ihm manches erwidern können, ich hätte sagen können, daß Gleichnisse noch keine Erkenntnisse seien, ich hätte sagen können, daß unser Tod stärker ist als jedes Gleichnis und daß unser Wissen über das Gleichnis hinausgehen müsse, unter das Gleichnis dringen, damit unser Tod zu der Realität werde, der er ist, unser Sterben zu dem wirklichen Sterben, das wir erstreben, das wir erhoffen; dies alles hätte ich sagen können und noch viel mehr, aber stärker als mein Denken war mein Hingezogensein zu dem dunklen Tor der Wiedergeburt, zu dem irdischen Tod in der irdischen Wiedergeburt, und hätte der Schoß der Erde sich jetzt aufgetan, auf daß ich hinabsteige in ihre Dunkelheit, in der das Feuer ist oder das Gold, auf daß ich durch die Dunkelheit ginge zum Tode oder wieder aufzuerstehen zum wiedergeborenen Licht, ich hätte es getan. Und während ich, ein wenig fassungslos gewiß, mich dessen bewußt wurde, traf mich unvermutet seine Frage: »Glauben denn Sie an Gott, Herr Doctor?«

»Ich weiß es nicht …« sagte ich, »ich weiß es jetzt nicht.«

»Doch«, sagte er, »Sie wissen es.«

»Ich weiß nur, daß ich an das Wunder meiner Einsamkeit glaube, an jenes Wunder, das tief in mich eingesenkt ist und das mich schauen läßt und erkennen macht … doch wer es in mich eingesenkt hat, das vermag ich nicht zu ahnen, ich weiß bloß, daß es in mir ist, daß es da ist, heiße es Seele oder sonstwie, daß seine schauende Wunderkraft größer ist als alles Erschaute, größer als das Wunder des irdischen Reifens und Erntens, und daß es, eingesenkt in mich, da ich geboren wurde, wieder aufsteigen kann aus mir, dorthin, von wo es hergekommen ist … wohin, weiß ich nicht …«

»Ja«, sagte er befriedigt, »es ist das Saatkorn eingesenkt und es steht auf zur Wiedergeburt in seiner Reife … es ist das Gleiche …« Und befriedigt sagte er zu seinen Rössern »Hüh«, der Wagen rasselte und knarrte, wir gingen schweigend hinterdrein, und nach wenigen Minuten waren wir bei seinem Feld.

Ich hätte nun wohl sofort umkehren können, doch da ich nun einmal da war, mußte ich wohl auch die Bäuerin begrüßen. Sie hatte wahrscheinlich mit dem Vespermachen bloß auf den Bauer gewartet, denn jetzt, da wir ankamen, stellten sie ihre Arbeit ein – es war noch eine Fuhr Hafer aufzuladen gewesen – und lagerten sich auf der kleinen Wiesenböschung, die, gesäumt von einer Reihe dichten Gesträuchs, das Feld auf der einen Seite begrenzte. Es waren die Bäuerin und der Knecht Andreas, und von den Kindern der ältere Sohn und Zäzilie.

Während ich die Frau begrüßte und mich zu ihr setzte, hob der Bauer mit Hilfe des Knechts den Pflug vom Wagen, dann hob er die Querdeichseln aus den Haken, und ohne die Pferde abzusträngen, führte er sie vor den Pflug, in dessen Gestell er die Deichseln wieder einhakte. Und nachdem dies geschehen war, kamen beide zu uns, um ihr Vesperbrot zu erhalten.

Die Milandin saß da wie ein Mann, die Beine ausgestreckt und ein wenig gegrätscht, so daß der blaue Kattunkittel dazwischen einsackte, die groben schwarzen Schuhe zeigten die Nagelsohlen. Scharf rechtwinklig im Sitz abgebogen, hielt sie sich bocksteif, und ihre knöcherne Steifheit wurde durch nichts gemildert, auch nicht dadurch, daß ihre Bluse der Arbeit wegen ein wenig geöffnet war. Man hatte stets den Eindruck, als würde sich diese Frau ihrem Mann zutrotz absichtlich möglichst unweiblich machen. Als in ihrem starken schönen Gebiß, dessen Ähnlichkeit mit dem Mutter Gissons auffallend ist, ein Zahn schadhaft wurde, kostete es mich alle Mühe, sie zu einer Reparatur und einer Goldkrone zu bewegen; sie wollte durchaus, daß ich ihn reiße –, auf eine Zahnlücke käme es ihr nicht an.

Miland hatte sich in gewohnter Weise Zäziliens bemächtigt; er stand vor uns, hielt das Kind an sich gepreßt und teilte sein Vesperbrot mit ihm. Der Knecht Andreas hockte neben uns und schnitt sein Brot zwischen den Knieen.

Dann sagte der Knecht Andreas: »Herr Doctor, dem Wetchy droben, Ihrem Nachbar, soll jetzt das Haus gekündigt werden.«

Das war mir neu. »Mir ist nichts davon bekannt«, sagte ich, »was ist denn das schon wieder für eine Geschichte?« Ich schaute Miland fragend an: »Kündigen kann doch bloß die Gemeinde, und im Gemeinderat ist meines Wissens noch kein solcher Antrag eingebracht worden.«

Miland war sichtlich unangenehm berührt: »Ja, angeblich soll der Krimuß nächstens den Antrag einbringen … das hat ihm der Wenzel eingeredet. Ich halte es nicht für ernst.«

Ich fuhr auf: »Und dahinter steht der Marius.«

Miland schüttelte den Kopf: »Er weiß genau, daß Sie und ich und das ganze Oberdorf dagegen stimmen, bleibt nur der Lax, der Krimuß und der Selbander, und selbst wenn auch der Bürgermeister dafür stimmte, ginge es nicht durch.«

Natürlich würde ich dagegen stimmen, und der Miland auch. Aber plötzlich mußte ich mir die Frage vorlegen, ob ich es wirklich tun würde. Eine absurde Frage, gewiß, und um sie zurückzudrängen, sagte ich: »Ist das die Wahrheit des Herzens, in der sich das Oberdorf und das Unterdorf wieder finden sollen?«

Und Miland, der meine Gedanken zu erraten schien oder einfach die gleichen hatte, zuckte die Achseln: »So ein Handelsagent hat ja eigentlich in einem Bauerndorf nichts zu schaffen.«

Jeder Bauer verachtet den unproduktiven Handelsmann. Aber daß es jetzt so deutlich ausgesprochen werden konnte, das stammte vom Marius her. Meine Vermutung, daß er ein kommunistischer Propagandist sein könnte, der den Haß gegen die verächtliche unproduktive Arbeit schürt, gewann wieder an Boden, und erstaunlich war bloß, daß ich diese Verachtung zu teilen begann. Doch das wollte ich nicht wahrhaben, und ich sagte daher: »Jedenfalls wird er im Dorf an allen Ecken und Enden verwendet.«

»Tut er es umsonst?« fragte die Milandin mit ihrer ganzen Unliebenswürdigkeit.

Ich ärgerte mich: »Soll er gar umsonst arbeiten, Milandin? Wie er Euch das Radio eingerichtet hat, da war alle Welt sehr zufrieden, und Ihr auch.«

»Hat auch ein hübsches Stück Geld gekostet.«

Miland jedoch, der das Kind an sich geschmiegt hielt und vielleicht daran dachte, daß ich die kleine Rosa bei mir hatte, meinte begütigend: »Im Grunde ist er ja ein ganz braver Mensch.«

»Himmelherrgott, warum läßt es dann Euer Marius zu, daß der Wenzel das ganze Dorf gegen den armen Kerl da oben in Aufruhr bringt? … tut doch etwas dagegen!«

»Wo nicht schon Aufruhr ist, kann keiner hineingetragen werden«, antwortete Miland mit großer Bestimmtheit. Und dann trat er auf mich zu: »Herr Doctor, aufrichtig gesprochen … lieben Sie den Wetchy?«

»Das steht doch nicht zur Frage … wohl aber, daß seine Frau ihn liebt und daß er sie und seine Kinder liebt … und daß man niemandem das Leben unnütz schwerer machen darf, als es ohnehin schon ist … oder wollen Sie es jedem entgelten lassen, den Sie nicht lieben?«

Er legte wieder die Hand auf meinen Arm: »Sie haben das Mädel vom Wetchy zu sich genommen, obschon Sie ihn nicht lieben, Herr Doctor, und ich würde, wenn's darauf ankommt, wahrscheinlich das gleiche tun … aber wenn sein Bub gestorben wär', so hätten Sie ihn nicht davor bewahren können … man kann dem Nebenmenschen helfen, sein Schicksal kann man ihm nicht abnehmen …«

»Ist jetzt der Wenzel auch schon Schicksal, Miland? wenn ich schon den Wetchy nicht liebe, den Wenzel liebe ich noch weniger …« Ich mußte lachen.

»Nein«, stellte Miland mit einem bessern Wissen, dem ich recht geben mußte, fest, »in Wirklichkeit mögen Sie den Wenzel lieber.«

Da ließ der Andreas sich vernehmen: »Wenn man's recht betrachtet, ist so etwas gar keine Arbeit; da läuft so ein Agent herum und schwatzt den Leuten was auf.«

Nein, da war nichts zu machen. Das Spiel war schon zu fest gefügt. Sogar der alte Andreas war von den Spielregeln erfaßt worden, und die Burschen hörten auf das Kommando des Wenzels. Und ich selber? war ich nicht auch schon erfaßt? war ich nicht auch schon in die Verstrickung dieses Traums geraten? Gewiß, es war nur eine neue Schlaflage, in die sich diese kleine Welt hier begeben hatte. Aber bestehen nicht die meisten Revolutionen darin, daß der schlafende Mensch sich von der rechten auf die linke Seite kollert, oder umgekehrt, daß er zwei- oder dreimal aufatmet oder auch seufzt, und dann seinen Traum vom Erwachen weiterträumt? Und selbst das Wissen um den Traum ist Traum, ist Schlaf und Traum, an dessen Anfang und Ende das Wissen steht und der doch ohne Anfang und Ende ist.

Mit seinem boshaften Greisenmeckern sagte Andreas: »Ist nur gerecht, wenn sie ihm kündigen.«

Die Milandin lachte. Bei solchen Gelegenheiten konnte sie lachen; und wenn es mir auch eine Genugtuung bereitete, daß da mein Werk, die Goldkrone in ihrem Mund, sichtbar wurde, es waren böse Gelegenheiten: daß die Leute sich so vergeblich bemühen, zu einer Erkenntnis zu gelangen, daß sie bei irgend einem Gedanken hängen bleiben, nicht loskommen, daran zerren und schließlich aus Unbeholfenheit, aus Verzweiflung, aus Schlaftrunkenheit einander Schaden antun, daß solcherart sogar der gutmütige alte Andreas mit einem Male zu einem Feind des Agenten Wetchy geworden war, eines Individuums, das ihm niemals etwas angetan hatte, das reizte diese Frau zum Lachen. Denn sie war eine kluge Frau, die manches durchschaute, aber sie war hart geworden, war ihrer Härte verhaftet, und jeder harte Mensch freut sich der plumpen Unbeholfenheit der anderen: seine Härte wird dadurch gerechtfertigt.

»Na, ich habe andere Anschauungen von der Gerechtigkeit«, sagte ich und erhob mich. Die Vesperpause war ohnehin zu Ende.

»Können wir ohne Gemeinsamkeit je gerecht werden?« sagte Miland, der noch immer mit dem Kind vor uns stand.

»Können wir ohne Gerechtigkeit jemals fromm werden?« fragte ich zurück.

Er lächelte: »Der Glaube braucht die Gerechtigkeit, aber er selber muß manchmal ungerecht sein.«

War das richtig? war es unrichtig? ich wußte es nicht mehr. Trotzdem sagte ich: »Hören Sie, Miland, das sind sonderbare Spitzfindigkeiten, um die Gemeinheiten gegen den armen Wetchy zu decken.«

Er reichte mir die Hand: »Nein, Herr Doctor … Sie wissen doch, wie ich's meine.« Dann begab er sich zu seinem Pflug.

Als ich die Gruppe hinter mir gelassen hatte, hörte ich die klare reine Kinderstimme Zäziliens in der Stille der späten Sonne singen:

»…
Wir fluchen den Händlern und Agenten
Denn sie tun unsern Boden schänden.
Wir Jungen die Zukunft in Händen halten
…«

Der Gesang des Kindes verstummte hinter mir, ich hörte noch den Zuruf Milands an die Pferde und irgend etwas Hölzernes, und dann hörte ich in der Stille, die mich umgab, mit aller Deutlichkeit das Wort Gott. Vielleicht war es nur ein Seufzen gewesen, ein »Mein Gott«, ein Hauchen, das zur Hörbarkeit erstarrt war, zur Hörbarkeit einer innern Stimme, die nach Trost rief, da die Verwirrung der Einsamkeit sich eingestellt hatte, vielleicht war es der Gedanke an die Wiedergeburt, die dieses Wort in mir ausgelöst hat. War nicht meine ganze Flucht aus der Stadt ein Versuch zu solcher Wiedergeburt gewesen? war nicht meine Sehnsucht nach einem Wissen um die Ganzheit des Lebens, meine Sehnsucht nach dem Ausschreiten seiner äußersten Grenzen, war dies nicht ein solcher Versuch? Groß ist das Wissen Mutter Gissons um die irdischen Zeiten und um die irdische Tiefe, und unerforschlich tief ist der letzte Abgrund der menschlichen Seele, aber unendlich bleibt die Mächtigkeit der Zeit und der Dinge, unendlich der Abgrund der Seele, und das Unendliche, das immer nur ein Weiter und Weiter ist, ein Unausschreitbares, ein Unausdenkbares, es bleibt unerfaßbar, ohne erfaßliche Ganzheit, wenn nicht ein Über-Unendliches, ein Über-Unerfaßliches darüber stünde, es einschließend und zur Ganzheit es bildend: Gott. Keines Einzelmenschen Denken konnte und kann das Über-Unendliche denken, reicht doch das Denken nicht einmal an das Unendliche heran, in Jahrmillionen, Generation um Generation mußte sein Erahnen wachsen, aus irdischestem und ungeschicktestem Tasten und Irren mußte das ferne Bild erstehen, immer wieder abgeändert, immer wieder vervollkommnet, und doch schon dagewesen mit dem ersten Augenblick, da der Mensch als Mensch sich fühlte und sein Antlitz geprägt erhalten hatte, seine Sehnsucht und seine Erinnerung, Erinnerung aus Jahrmillionen, Erinnerung millionhafter Generation, unerfaßbar noch immer und vielleicht nur ein Ahnen des Herzens, gewachsen aus einer fortschreitenden Wiedergeburt, die zu ihm hinstrebt, das flüchtige Erinnerungsbild des Traumes zu festigen, es durch Riten und Tun festhalten, das Unausdenkbare und Unaussprechliche aussprechen zu dürfen: Gott. Wie tief verlockend ist es, ihn ins Irdische und Faßbare zurückzuziehen, ihn zurückzurufen in die Formen der Erde, die Erde selber zu seinem Sein zu erheben, die Wahrheit der Augen und der Finger als seine Wirklichkeit zu begreifen! Und ich, der ich nicht wage, das Wort Gott auszusprechen, weil mein Wissen dafür zu klein geworden ist, meine Erinnerung zu schwach, mein Sehnen zu menschlich, ich, der ich das Zurückfallen um mich herum spürte, in meiner Angst vor dem Zurückfallen, das in jedem Menschen wohnt, ich hatte wohl keinen andern Ausweg als jenen Seufzer, der in der Einsamkeit und Stille um mich herum wie eine Stimme des Herzens geklungen hatte.

Es mag kein bloßer Zufall gewesen sein, daß ich den Rückweg durch die Kirchengasse nahm.

Der kleine Vorgarten des Pfarrhofes war jetzt voller Dahlien, in allen Farben standen sie den Zaun entlang, aber in dem runden Mittelbeet hat der Pfarrer seine Rosen gepflanzt, damit er sie, sitzt er auf der Bank an der Mauer, vor den Augen hat und recht gut betrachten kann. Er war gerade dabei, sie zu gießen, und an der Zauntüre stehenbleibend, begrüßte ich ihn.

Er nickte mir zu, denn er scheute sich, die schwere Gießkanne hinzustellen und sie nochmals aufnehmen zu müssen. Weich und friedlich floß im sanften Schwung das Wasser aus der Brause, und von der sich dunkel verfärbenden Erde um den Stöcken stieg ein leiser Hauch feuchten Geruchs auf, mischte sich in die stille Trockenheit des Abends, dessen golden gewordenes Licht mit dem Gelb und dem Rot der Rosen, der vollerblühten gelben auf dem einen Stock, der kleineren roten auf den anderen, milde zusammenklang.

Nun kippte er noch rasch den letzten Rest aus der Kanne, die feinen Wasserbögen vereinigten sich zu einem dicken matten Bächlein, das vor dem Versickern noch rasch eine kleine Lache zwischen den Erdschollen bildete, und nach dem letzten Tropfen stellte er die leichtgewordene Kanne hin und kam zu mir.

»Schön sind die Rosen, Hochwürden.«

Er lächelte mit seinem schiefen Gesicht: »Aber die Dahlien auch, Herr Doctor.« Er war gerecht.

Unwillkürlich suchte man immer den dicken Shawl, über den dieses Gesicht im Winter herauszulugen pflegt; anders konnte man sich ihn gar nicht vorstellen, auch nicht, wenn er wie jetzt in Hemdärmeln war und der schwarztaftene schäbige Brustlatz aus der offenen Weste heraushing.

Ich sagte ihm, daß ich ihn um seine Rosen beneide, ich hätte keine, und er lud mich ein, an den Stöcken zu riechen; am Abend dufteten sie am stärksten. Da trat ich in das Gärtchen, und es war der wohlbekannte kleine Duftbezirk um die Stöcke, ein süßes kleines heiliges Leben, und wieder schien mir, als reiche der Glaube des Pfarrers auch nicht darüber hinaus.

Er rieb die dünnen Arme, die aus den viel zu kurzen Ärmeln seines geflickten Hemdes herausschauten; die Gießkannen waren schwer gewesen.

»Ja, die Blumen«, sagte er und war von einem schwachen innern Licht verklärt.

Aber dann meinte er, daß er mit dem Gießen noch nicht fertig sei, und daß ich ihn entschuldigen möge, wenn er nochmals die Kannen fülle. Ich bat ihn, helfen zu dürfen, und so nahmen wir jeder eine Kanne, aus deren rauhem Innenraum es kühl herausweht, und trugen sie in den Hof hinein zur Pumpe. Ich hing mich an den von den vielen Händen glattpolierten hölzernen Schwengel, der Pfarrer hielt unter, und nach ein paar Zügen kam der erste Wasserstoß und polterte in das Blech. Dann ließ ich es mir nicht nehmen, beide Kannen hinaus zu tragen, wegen des Gleichgewichtes, und dann durfte ich gießen helfen, aufmerksam beobachtet von dem Gottesmann, ob ich es auch richtig mache.

Als wir damit fertig waren, seufzte er.

»Was ist's, Herr Pfarrer? wieder Kirchenreparaturen?«

Er nickte erfreut, weil ich ihn verstanden hatte.

»Herr Doctor, bringen Sie es doch im Gemeinderat zur Sprache, allein kriege ich es nicht fertig … und mit dem Lax komme ich schon gar nicht weiter.«

»Tja, Hochwürden, wenn wir die Leute vom Oberdorf hinter uns hätten, dann ginge es vielleicht … aber Sie wissen doch, daß die da ausnahmsweise mit dem Lax stimmen würden, weil es nicht ihre Kirche ist und sie den weiten Weg haben.«

»Immer diese Zwietracht, vielleicht wird's jetzt anders, gebe Gott.«

Was sollte jetzt anders werden? auf was hoffte er?

Er schaute bekümmert zur Kirche hinüber. Bis zu Mannshöhe war der Verputz infolge der aufsteigenden Bodenfeuchte abgefallen, aber zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß das Stück vom Turm bis zur Kirchentüre repariert war.

»Das? … das hat mir der Johanni repariert, aus Gefälligkeit.«

»Sie sehen, Herr Pfarrer, es gibt auch weiße Schafe.«

Er kicherte wieder einmal sein humoriges Insektenlachen: »Aber nur gegen Gegenleistung.«

»Und worin hat die bestanden?«

»Ich mußte ihm seine Messingmonde weihen … fürs Vieh.«

Aha, die Messingmonde, die den Kühen hier oft neben der Schelle wie eine Hundemarke angehängt werden und die auch die Pferdegeschirre zieren.

»Und das reichte bloß bis zur Kirchentüre …?«

»Ja, leider …«

Es war, als ob alles, was außerhalb seiner paar Rosenstöcke sich abspielte, für ihn zu einer dürftigen mechanischen Sorge werden mußte; seine Welt hatte einen winzigen lebendigen Kern und um den herum nichts als ein wenig Gewirr, dürftig, trocken, unscheinbar, und doch mußte darin eine ganze menschliche Seele untergebracht werden, mit all ihrer Spannung, die vom Heidnischen bis zum Gläubigen und Göttlichen reicht, und es schien mir, als hätte der Pfarrer Rumbold in seinem Innern einen zwar spärlichen, aber recht komplizierten Haushalt. Allein, den haben wir wohl alle.

»Na ja, Hochwürden, gäbe es immer Monde zu weihen, dann wäre es einfacher … für die Sonntagspredigt zahlen die Bauern nicht so gerne, das ist ein Geschäft, das für sie weniger glatt aufgeht …«

»Vielleicht wird es jetzt besser.«

Wieder diese merkwürdige Hoffnung.

»So?«

»Ja, da ist so ein Mensch, Marius heißt er … und da wird es jetzt wieder mehr Messingmonde geben.«

Mein verwundertes Gesicht fiel ihm auf: »Für das Wohl der Kirche kann man schon einen kleinen Aberglauben hinnehmen, ist ja ein frommer Aberglaube.«

Ich mußte lachen: »Na, so absolut fromm scheint mir dieser Aberglaube nicht zu sein.«

Er wurde ängstlich: »Ist's wirklich so arg, Herr Doctor? … ich hab's nicht glauben wollen …«

»Wie man's nimmt, Hochwürden … ich weiß ja nicht, was man Ihnen zugetragen hat …«

»Daß sie, Gott verzeih' mir die Sünde, den Teufel in der Erde anbeten wollen.«

»Na, den Teufel gerade nicht, aber die Erde vielleicht, oder so ähnlich …«

»Mein Gott, das ist doch heller Wahnsinn, das spricht doch jeder Vernunft Hohn … das ist doch ein Irrsinniger!«

Sonderbarerweise fühlte ich mich gedrängt, den Marius in Schutz zu nehmen: »Wenn's nur einer tut, Herr Pfarrer, ist's Irrsinn, wenn's alle tun, ist's Vernunft, und umgekehrt, so ist das schon einmal.«

»Nein, nein«, wehrte er ab, »Herr Doctor, lästern Sie nicht, und wenn alle gegen die ewige Wahrheit stünden, sie bliebe doch heilig und ewig.«

»Ja, Herr Pfarrer, das ist schon recht … aber die Welt ist immer wieder durch den Irrsinn durchgegangen, damit sie in der Vernunft ein Stückchen weiter kommt … wo war die Vernunft, wie der Irrsinn des Krieges ausgebrochen ist? und doch hat es vernünftig ausgesehen, daß wir ins Feld gezogen sind … die Welt greift eben wieder ins Unvernünftige, weil sie ihrer Vernunft müde geworden ist …«

Er schaute mich entgeistert an: »Aber, Herr Doctor, das geschah doch nur, weil die Menschen die ewigen Wahrheiten nicht erkennen wollen … das Gebot Liebe deinen Nächsten hätte alles Unheil verhütet …«

Mir lag wahrlich nicht daran, ihn zu quälen, aber ich war ehrlich gegen die Vernunft aufgebracht. Und obwohl ich wußte, daß die Araber die alexandrinische Bibliothek verbrannt hatten und dann doch zum Griechentum zurückgekehrt waren, und obwohl ich wußte, daß die abendländische Ritterschaft die maurischen Universitäten verwüstet hatte, ohne es verhindern zu können, daß ganz Europa noch von diesen befruchtet werden sollte, und obwohl ich wußte, daß es eine Wahrheit gibt, die so fest ist wie zweimal zwei gleich vier, sagte ich: »Es gibt Patienten, die tun instinktiv das Richtige, die spüren, was ihnen nottut, und andere, die gerade das Gegenteil tun, obwohl es keinen gibt, der nicht meint, daß er das Richtige für sich täte, auch wenn er sich umbringt … und so ist es auch mit der Menschheit, sie muß immer wieder in die Unvernunft fallen, und manchmal hat sie damit sogar das Richtige für sich getan, wenigstens hat sie sich bisher nicht umgebracht …«

»Aber sie ist nahe daran«, erklärte der kleine Gärtner mit Tapferkeit. »Ja, das ist sie, wenn sie die Arznei der Offenbarung noch weiterhin verschmäht. Ihr ist der Arzt in unserem Herrn Jesum Christum erstanden, und wenn sie seine Hand annimmt, braucht sie nicht mehr in Unvernunft zu fallen.«

»Hochwürden«, sagte ich ernst werdend, »die Lehre ist vielleicht noch zu groß für den Menschen, seine Vernunft hat von ihrer Entstehungszeit her noch allzuviel Fugen und Risse, und sooft sie auch verkleistert werden, es bleiben noch immer genug, die wieder aufspringen und das Närrische bloßlegen … es wird noch geraume Zeit dauern, bis all die Brüche des Wahnsinns verschwunden sein werden … bedenken Sie, der Mensch ist einsam, und Einsame werden leicht wahnsinnig.«

Er hielt seinen schiefsitzenden Kopf gesenkt und dachte nach. Dann sagte er: »Nein, der Mensch brauchte nicht einsam zu sein, wenn er die Lehre annähme, und sie ist auch nicht zu groß für ihn, schon die Fischer in Galiläa haben sie begriffen … aber sie ist zu sanft für ihn, denn er hat noch immer nicht vermocht, seine Wildheit zu bändigen.«

»Ja, Herr Pfarrer«, lachte ich, »da haben Sie einmal recht, man müßte sie erst alle noch zuerst lehren, die Blumen zu lieben und sie zu pflegen.«

»Nicht wahr, ja?« antwortete er beglückt. Und dann sagte er: »Und gebe Gott, daß diese Sache mit dem Menschen, mit dem Marius auch nur so ein Umweg wäre, wie der, von dem Sie gesprochen haben.«

»Was für ein Umweg, Hochwürden?«

»Nun, so einer, der schließlich zum Heil führt.«

»Ja, gebe es Gott, Hochwürden«, sagte ich und reichte ihm die Hand zum Abschied.

»Gott mit Ihnen«, sagte er.

Ich stieg langsam den Berg hinauf. Die Sonne war im Begriffe, hinter den flachen Kulissen des Gebirges zu verschwinden. Lichtgrau wurde das ganze Tal, als flösse der durchsichtige Rauch, der tagsüber vor den Wänden gehangen hatte, nun zu Tal, um nun auch hier alle Formen der Landschaft flach und farblos zu machen: Hügel und Wiesen glitten ineinander, die Bodenwellen ebneten sich, und die Grenze zwischen Wald und Fels war nimmer zu erkennen. Bloß unmittelbar vor mir waren die Wiesen und Bäume noch grün, ein grünes Eiland mit verschwimmenden Rändern, durch das ich schritt und das mich begleitete. Doch als die Sonne völlig versunken war und nur mehr ein leiser Herbstzeitlosenstreif am Himmel von ihrem Scheiden Kunde gab, da traten allüberall die neuen Schatten der Dämmerung in Erscheinung und formten aufs neue alles Formen der Natur: die Schrunde und Risse der Felsen waren wieder da und wurden doppelt tief, es öffneten sich wieder die Rinnen und Schluchten der Berge, auf den Abhängen wurden die in den Wald eingeschnittenen Wiesen wieder sichtbar, und die gewaltige Decke des Waldes war in ihrer ganzen Größe gemustert durch die Kegel der Tannen, die Krone um Krone sich in ihr abzeichneten, schwärzlich im Grün und immer dunkler und schwärzer werdend.

Wilder und schwerer als der helle Garten des Pfarrers war der Wald, in den ich eintrat, wilder als der heitere Duft der Rosen war der Geruch des Harzes, der Moose und des Moders, und ich bangte um Irmgard. Unentrinnbar ist der Traum der Einsamkeit, in den wir verknüpft sind, unentwirrbar wie das schier unendliche Geäst der Walddecke über mir, durch die der helle Abendhimmel noch in die Dunkelheit meines Weges schaute. Ein Wildhuhn flog mit schwerem Flügelschlag vor mir auf, und als ich, den Weg abkürzend, eine Lichtung überquerte, kamen ein Rehbock und zwei Kitzen in lautlosen Sprüngen daher. Dann wurde es stiller und stiller. Ich versuchte Gott zu sagen, ich tat es ziemlich laut, aber der Wald antwortete nicht.


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