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Etwa eine Stunde über dem Oberdorf, nicht weit von dem Stollen, der die Zwergengrube heißt, liegt die alte Bergwerkskapelle, ein kleiner spätgotischer Bau, der im 18. Jahrhundert wie so vieles andere verputzt, übertüncht und mit den zeitgemäßen Zieraten versehen worden ist, heute aber einem langsamen Verfall entgegensieht. Zwei zersprungene Steinstufen, in deren Ritzen Gras wächst, liegen vor der Eingangstür; die ist stets versperrt und wird nur ein einziges Mal im Jahre geöffnet, den Priester zur Messe einzulassen, zu dem sogenannten »Steinsegen« nämlich, der immer am ersten Donnerstag zwischen dem letzten Neumond und der Sonnwende stattfindet.
Ich komme manchmal herauf, ja, es ist beinahe mein liebster Weg, stets aufs neue suche ich ihn auf, von dem seltsamen und doch so menschlichen Verlangen geführt, einen Ort, den man lieb hat, besonders eindringlich dem Gedächtnis einzuprägen, trotz des Wissens, daß dies eine Aufgabe und Verlangen ist, der keine menschliche Vorstellungskraft, und mag sie noch so sehr die übermenschliche des Liebenden sein, je genügen kann. Nicht anders hier. So sehr ich mich auch bei jedem Besuch bemühte, das graue Schindeldach der Kapelle mit all seinen Einzelheiten zu erfassen, die Fichten, die darüber herausragen, und die beiden Spitzbogenfenster mit der zierlichen Mittelsäule, an deren Fuß eine dicke Schicht Mauerschutt liegt, immer wieder versagt das Gedächtnis an der Aufgabe, immer wieder bin ich von vielerlei überrascht, vom Duft des Waldes, der einer kühlen Wolke gleich um das Gemäuer hängt, bin von den schrundigen Felswänden überrascht, die hier so nahe herangerückt scheinen, daß man meinen könnte, an ihrem Fuß zu stehen, obwohl es noch ein gutes Stück Weges ist, bis man wirklich in sie eindringt, und nicht zuletzt überrascht mich immer wieder die Aussicht, die sich von hier auftut: die Kapelle liegt am oberen Saum einer kleinen steinigen Bergwiese, einer offenbar ehemaligen Rodung, die des Zwergenstollens halber einstens hier angelegt worden war, im Zickzack und steil kommt der alte Knappenweg herauf, und unten, nach einem breiten Gebüsch- und Staudengürtel, bewachsen mit meterhohem scharfkantigem Gras, beginnt wieder der Fichtenwald, über dessen Wipfel hinweg man die ganze Weite des Tales von hier aus überblickt.
Hier also, auf den Kapellenstufen, saß und sitze ich gerne, die Hand auf dem Schädel des Hundes. Und oftmals ist dieses Hinabschauen ins abendliche Tal und in sein zitternd vergoldetes, lächelndes Schimmern von großer Verwunderung erfüllt, von einer stets wechselnden Verwandlung, wenn ich inne werde, daß mein Blick nicht dorthin gerichtet ist, wohin er doch ruhend strebt, sondern von Staunen erfüllt mir selber zuschaut, wie ich hinabschaue zu den Gehöften des Diesseits: denn der Schauende, der ist nicht der, der hier sitzt, er ist nicht der alternde Mann, er ist nicht der, der ein Kind gewesen ist und Jahre um Jahre durchwandert hat, emporklimmend in den Nebelschluchten der Zeit, und er ist auch nicht der, in dem sich das Gedächtnis angesammelt hat, Schicht um Schicht, durchsetzt von den Stücken ärztlicher Wissenschaft, und er ist nicht einmal der, der einstens im Atem einer Frau schlief und in nicht allzulanger Zeit einsam sich ausstrecken wird, verloschen das Gedächtnis, das nimmer ruhende, das immer noch wachsende, zum jähen Vergessen der Zeit, nein, dies alles ist nicht der Schauende, nein, das bin nicht ich, das war ich niemals, sondern ich stecke in einer innersten und so sehr gesicherten Hülse, ich bin wie in einer Taucherglocke so sehr in mich hinabgelassen, versenkt in mein eigenes Jenseits, daß dieser ganze Lebensablauf mitsamt dem an sein Ende gesetzten Ende mich eigentlich nichts angeht, und wenn ich dem Bruder, in dem ich wohne und der doch richtiger nur mein Inwohner ist, auch seine Freuden und sogar seine Leiden gönne, wenn ich auch dem Toren gleich, der am bloßen Zusehen und In-die-Hände-Patschen sein Genüge findet, meine Zeit vergeude, einfach weil ich keine habe oder sie dort nicht mehr gilt, wo mein letztes sehendes Auge schaut, in jener Sphäre also – ach, wo ist sie?! –, in denen Blindheit und Wissen so sehr eins geworden sind, daß es eines neuen und noch tiefern Auges bedürfte, um nochmals eine Scheidung zwischen den beiden vorzunehmen, eine Scheidung, aus der die Blindheit wohl nicht mehr als Blindheit, das Wissen nicht mehr als Wissen hervorgehen würde, wenn also auch meine Taucherglocke noch immer frei schwebt in der Dunkelheit meiner Ozeane und in der Dunkelheit meiner versunkenen unauslotbaren Landschaft, es wird trotz der Dunkelheit meiner Abgeschiedenheit dennoch immer lichter um mich, und schauend aus solch tiefem und beinahe letztem Dunkel, hindurchschauend durch all die Schalen, die ich bin, der ich in mein Leben und in mein Fleisch eingeschlossen hier sitze, ich, der ich der Musik des scheidenden Lichtes auf den Bergen lausche, ich der Verzückte, der hinausschaut aus der Unerfaßlichkeit eigenen Seins ins Aber-Unerfaßliche immer weiterer Zonen, ja, schauend und doch selber geschaut, ahne ich die Verwobenheit des Wissens, ahne die Ahnung, selber Berg zu sein, selber der Hügel, ich selber das Licht und selber die Landschaft, zu der ich nicht gelange, weil sie Ich ist, und trotzdem gelangen will, trotzdem gelangen werde, wenn im tiefsten Schacht der Ozeane, der Berge und der versunkenen Inseln, wenn auf dem goldenen Grund aller Finsternis dereinst das große Vergessen über mich kommen wird.
So also sitze ich oftmals hier auf den Stufen der Kapelle, den Berg und den Zwergenstollen hinter meinem Rücken, und bin in der Trauer des Unerreichbaren und doch in der Verzückung, es zu schauen. Und der Hund, dessen weich- und warmbehaarter Schädel genau in meine gewölbte Hand paßt, so daß ich sie immer wieder darauf lege, als könnte ich damit die ihm innewohnende Unendlichkeit umfassen, der Hund, den wir beneiden, weil er den Gnadenfluch der Unterscheidung nicht tragen muß und ihm sein fressendes und so häufig pissendes Sein ununterscheidbar mit seinem schauenden verwoben scheint zu einer fröhlichen Einheit, von der man glauben könnte, sie sei an all ihren Stellen der Hund Trapp, er ist nicht fröhlich oder nur sehr selten, auch wenn er sich im Schnee wälzt und über die Erde dahinrast, sondern unentwegt und überall sucht er sich, sucht den Schimmer der Unendlichkeit in seinem Kopf, die der Mensch im Tier erweckt hat, sucht diese Unendlichkeit, von der er der Trauer, nicht aber der Verzückung teilhaftig geworden ist: aber in dieser Trauer, von der wir, ich und Trapp, solcherart ein gemeinsames Stück besitzen, sehen wir einander liebend und suchend in die Augen, in die liebende Ferne unserer Unendlichkeit, aus der unsere Blicke herstammen und an der unsere Gemeinsamkeit Teil hat, wir sehen einander an, solange bis ich ihm die Schnauze wegwende und ihm sage, daß es sich für einen anständigen Hund nicht schickt, aus dem Maul zu stinken. Aber er tut es trotzdem. Seine Zähne werden schon schlecht.
Doch so oft und so gerne ich da heraufkomme, an dem Steinsegen nehme ich keineswegs alljährlich teil. Nicht nur, weil er – wie so viele solch alter Naturbeschwörungen – zu einem recht kümmerlichen Fest geworden ist, sondern auch weil ein so schlechter Kirchengeher, wie ich es bin, sich nicht mit solchen Nebenveranstaltungen abgeben kann. Auch diesmal – es war in der Pfingstwoche – ergab es sich rein zufällig. Ich war zur Morgenvisite im Oberdorf, fand die Häuser mit Laubzweigen besteckt, die Straße mit Gras bestreut, und so ging ich, nachdem auch der Besuch bei Frau Suck erledigt war, nicht heim, sondern zum Berghof, an dem ein primitiver Straßenaltar errichtet war, ein Bretteraufbau, bedeckt mit roten, goldumsäumten Tüchern, überragt von einem Madonnenbild, das Ganze mit Laub umgeben. Hier standen auch die bereits wartenden Teilnehmer der Prozession, die geschmückten Dorfmädchen, die als eine Art Kranzeljungfern für die Bergbraut fungieren, die Zuschauer, sogar solche aus dem Unterdorf, natürlich die ganze Dorfjugend, denn hier wird der Pfarrer erwartet. Die Bergbraut selber fehlte noch. Ich begrüßte einige und wollte gerade bei Mutter Gisson eintreten, um ihr zum Zeitvertreib Gutentag zu sagen, als diese in ihrem schönen seidenen Feiertagskleid herauskam, gefolgt von der Bergbraut, und die war, zu meiner Überraschung, Irmgard. Ja, es war Irmgard, die Brautkrone im Haar, Blumen im Arm und geschmückt wie nur eine.
»Ah«, sagten die Zuschauer wie es sich gehört, und »Ah, die Irmgard«, sagten die Kinder, denen die Pracht gefiel. Der Himmel war hell bedeckt, es regnete nicht und es hatte auch nicht die Absicht zu regnen, denn in breiten sanftkühlen Wogen wehte es von Norden her durch den Tal- und Himmelsraum. Und in dem Opallicht, das so gleichmäßig und gleichsam auch in unsichtbar ruhigen Wogen durch den Raum floß, war die Irmgard noch schöner, als wenn die Sonne mit ihrem noch größern Glanz herabgebrannt hätte.
»So eine Überraschung, Mutter Gisson«, sagte ich, nachdem ich auch meinerseits die Irmgard gebührend bewundert hatte.
Nun kam auch noch die Brautmutter, die Milandin, aus dem Haus. Die Zäzilie hatte ich inzwischen schon unter den Kindern bemerkt. Die Brautmutter war im Alltagsgewand, sie schaute nicht auf uns, nicht auf die Tochter, sondern in das Licht und in den Wind, der es so sanft herbeitrug und es hier ließ, während er selber weiter strich.
»Ja«, sagte sie bloß, als ich sie begrüßte, »heute ist die Irmgard die Bergbraut.«
»Und einmal war ich es auch«, sagte Mutter Gisson, »aber das ist kaum mehr wahr, so lange ist es her.«
Da verstand ich, daß die Irmgard noch immer als eine Gisson angesehen wird, und daß sie in dieser Eigenschaft zu ihrer heutigen Würde gekommen war, eine Würde, die einer »Unteren« sonst nicht anvertraut wird; einstmals wurden ja die Unterdörfler, so wird erzählt, nicht einmal als Zuschauer zugelassen. Daß heute eine »Untere« als Bergbraut fungierte, hatte wohl manche von ihnen heraufgelockt.
Die Milandin, die wohl daran dachte, daß auch sie einst so geschmückt dagestanden hatte, ehe sie zu einer »Unteren« geworden war, sie sagte: »Sie ist heimgekehrt.«
»Mag schon sein«, meinte die Großmutter.
»Soll denn die Irmgard ganz heroben bleiben?«
»Ja«, sagte die Milandin.
Mutter Gisson erklärte: »Ja, nach der Ernte nehme ich sie mir herauf.«
»Ich zahl' der Mutter die Kost«, bekräftigte die Milandin.
»Wann du willst«, sagte die Großmutter, »aber die Irmgard wird sich bei mir ihr Brot verdienen.«
Da bog unten der Wagen mit dem Pfarrer in die Dorfstraße ein. Schwerfällig trabte das Bauernroß, immer wieder in Schritt fallend, von Suck mit vielen Schnalzen »tzt, tzt« und »hüh« und leichten Peitschenhieben gelenkt. Neben ihm auf dem Bock saß der Ministrant mit dem langen schwarzen Holzkreuz, das bei Versehungen und Prozessionen benützt wird, auf dem einen Bänkelchen rückwärts saß der Pfarrer im Ornat, auf dem andern der rotgekleidete Mesner, sowie der Vorbeter Gronne, der im Berghof wohnt und, dem Brauch gemäß, gemeinsam mit Suck stets den Pfarrer zum Steinsegen abzuholen hat. So haben sie ihn miteinander auch heute heraufkutschiert. Ich schaute auf meine Uhr; halb acht.
Sie kletterten vom Wagen, nahmen auch alle für den Steinsegen notwendigen Utensilien heraus, darunter die noch zusammengerollte rotdamastene Kirchenfahne, und Irmgard, inmitten der Gefährtinnen, trat zu dem Wagen hin, um den Spruch aufzusagen, mit dem der geistliche Herr von der Bergbraut begrüßt wird:
»Gelobt sei Jesus Christ
Was im Berg gefangen ist
Durch ihn befreit werden solle
Vertrieben Satan und Unholde
Alles Böse weiche von dannen
In Jesu und Marien Namen.«
Und während sie dies im Tonfall eines Dorfschulmädchens aufsagte, hielt sie dem Priester ihren Blumenstrauß zum Segen hin. Der kleine scheue Gottesmann zögerte ein wenig, denn als der Blumenfreund, der er war, mußte er die Gabe doch erst einmal betrachten, und es ging auch ein schwaches, freundlich-fachmännisches Lächeln über sein schiefes Gesicht, da er mit leichtem und zustimmendem Nicken das Zeichen des Kreuzes über dem Strauß machte.
Trapp, der kein Benehmen hat, sondern bloß sah, daß hier einige meiner besten Bekannten beieinander standen, näherte sich, um das, was sie da zusammen trieben, bequemer zu besichtigen, und ich mußte ihn rufen, damit er sich in kultische Handlungen nicht einmische. Er gehorchte angeekelt von der unverständlichen Dummheit des Menschen. Inzwischen aber hatte der Mesner das Räucherfaß geschwenkt, und der Pfarrer war vor den Straßenaltar hingetreten, um hier das erste Gebet zu sprechen, bei dem ihn die Gemeinde noch nicht in voller Frommheit begleitet, denn sie steht ja schon seit längerer Zeit auf der Straße herum, es hat sich für sie noch nichts geändert, und sie schaut bloß zu und findet den Altar hübsch, wie er da so scharlachrot zwischen den grünen Zweigen errichtet worden ist. Es handelt sich nicht um die Sammlung oder die Versenkung, sondern bloß darum, daß die Welt manchmal ein wenig hübsch sei, bevor etwas geschieht und während man auf ihr dahinfährt, dem Wind entgegen oder mit dem Wind, was ja kaum zu unterscheiden ist, denn der irdische Wind ist ja nur ein kleines ungenaues Echo eines Atems, von dessen Süße und Stärke höchstens das Meer hie und da spricht, wenn es sich unbelauscht wähnt und mit dem Mond seine unablässige Zwiesprache hält im sanften und mächtigen Schwanken seiner Gezeiten. Ist nicht das Zittern des Blattes, nachzitternd dem verschwiegenen Winde, da alles still wird und nur das Herz noch klopft, ist es nicht wie ein Echo des Echos? wie ein letztes Spiegeln des Meeres auf den Höhen der Berge? Leise und hübsch säuselte das Laub der um den Altar aufgestellten Zweige und seine Blätter begannen an den Rändern schon steif zu werden und sich einzurollen. Da schwenkte der Mesner wieder sein Räucherfaß, langsam schwankte es hin und her, und der Zug ordnete sich und setzte sich in Bewegung, voran der Ministrant mit dem langen, ragenden Kreuz, auf dem [der] silbern blinkende Heiland sich neigte und aberneigte, und alle Kinder waren um ihn herum, hinterdrein der Pfarrer und der Mesner, hierauf die Bergbraut samt ihren Gefährtinnen, schließlich unter Anführung des Vorbeters Gronne das Laienpublikum, die wenigen Männer, die mittaten, gefolgt von der ziemlich zahlreichen Weiberschar. So will es die Etikette der Prozessionen und Begräbnisse, eine Ur-Etikette der Menschheit möchte man beinahe glauben.
Der Vorbeter stimmte die Prozessionslitanei an:
»Der Herr hat auf dem Berg geredet
Stern und Mond haben gewehet
Und die Gnade hat er gesäet
Vor Tau und Tag
Emporgestiegen auf den Turm der Welt
Auf den Berg des Lebens hell
Gelobt sei Maria auf dem Berge.«
»Der Herr hat auf dem Berg geredet
Stern und Mond haben gewehet
Und die Gnade hat er gesäet …«
Das ging so weiter, etwas atemlos, weil man aufwärts stieg. Ich hielt mich hinter den anderen Männern, um mit Mutter Gisson, die an der Spitze der Frauenschar einherschritt, sprechen zu können. Den Hund hatte ich heimgeschickt. Er schaute uns noch lange nach, ehe er sich entschloß, kehrt zu machen, und immer wieder blieb er stehen, weil er mir die ganze Angelegenheit nicht glauben wollte.
»Ist ja nichts dabei, wenn er nachläuft«, meinte Mutter Gisson.
»Es ist bloß wegen der Heiligkeit.«
Straßabwärts verschwindet nicht nur Trapp, sondern auch die Milandin, die – Zäzilie an der Hand – mit großen Schritten wieder ins Tal hinunter geht.
»… den Berg des Lebens hell
Gelobt sei Sankt Peter auf dem Berge.«
Mutter Gisson sang das »Gelobt sei« brav mit, so brav, daß man meinen mochte, sie mache sich ein wenig lustig und sie sei bloß des guten Beispiels halber so sehr bemüht.
Aber vieles, was der Mensch tut, ist ernsthaft und belustigt zugleich, unendlich und endlich zugleich, besonders wenn sein Wissen schon hinter die erste Ebene gerückt ist und er die Gabe des Humors empfangen hat. Auch Suck, Sohn eines Reitersoldaten, herabgesunken und doch aufgestiegen zur Würde des Kutschers, der den schmächtigen Priester und Blumenliebhaber kutschieren darf, auch Suck, ein paar Schritte vor mir, sang brav mit.
»Vor fünfzig Jahren war es anders«, sagte Mutter Gisson nach der Art alter Leute, die manchmal bloß den Unterschied sehen, obwohl sie wissen, daß auch vor fünfzig und vor hundert Jahren der Wald stand, das Gras wuchs, die Schornsteine rauchten und der Weg sich schlängelte, manchmal in Kehren, manchmal steil.
Indes, der kleine Pfarrer war ein schlechter Bergsteiger; wir kamen nur langsam vorwärts. Im Wald war es dunstig, der Wind lief über die Wipfel, aber er kam nicht herunter, geschwängert von Wald ruhte hier die Luft, geschwängert von Holzgeruch, lebendigem und geschlagenem, von Waldgras und von dem süßen Moder des Bodens. Links und rechts vom Weg war alles mit Schwarzbeerenstauden bedeckt, ein hartgrüner Teppich.
»und die Gnade hat er gesäet
Vor Tau und Tag …«
Man hörte den Ruf der Goldammer.
»Damals haben wir einen Pfarrer gehabt, der hat's verstanden«, erzählte Mutter Gisson weiter, »in einer halben Stunde waren wir droben.«
»Na, na, Mutter, alles was recht ist.«
Sie hat aber noch heute den langausholenden Schritt des Bergbewohners und sie lächelt überlegen: »War' nicht schlecht, eine halbe Stund' das mach' ich auch heute noch … und der Pfarrer Arlett, der hat's verstanden, der hat auch den Segen verstanden.«
»Was gibt's da viel zu verstehen?«
Mutter Gisson lachte: »Gelobt sei Sankt Michel auf dem Berge.«
Ich glaubte zu wissen, wie sie es meinte: sie hatte eine rechte Abneigung gegen die Gattung der Schattenmännchen, zu denen unser dürftiger blumenzüchtender Gottesmann gehörte.
Nach einer Weile sagte sie: »Wenn so ein Segen was wert sein soll, gehört er in die Nacht …«
»Die Hochzeit ist ja auch bei Tag und nicht in der Nacht, Mutter Gisson.«
»Aber der Segen ist in der Nacht.«
»… und Mond haben gewehet
Und die Gnade hat er gesäet …«
»Natürlich, Mutter, doch ohne Bräutigam gibt's keine Hochzeitsnacht.«
»Der ist freilich kein Bräutigam, der da vorn.«
»Und der Pfarrer Arlett, der war ein Bräutigam?«
»Das [will] ich meinen … das war ein schrecklicher Kerl, dem hat man kein Mädel zur Beicht schicken dürfen …«
»Wüste Geschichten, Mutter Gisson … und da wart Ihr die Bergbraut.«
Sie machte ein schlaues und bedauerndes Gesicht: »Da war ja der Berg schon längst tot und verschlossen … ja, wie er noch offen war, richtig offen halt …«
Ich verstand: »Die Berge haben gekreißt.«
»Ja, meinetwegen … wie er noch offen war, da war es der Nachtsegen in der Hochzeitsnacht, mit Tanz und allem, was die Hochzeit ist, und noch ärger.«
»Im Wirtshaus?«
»Droben natürlich.«
»Das erzählt man sich?«
»Ja, so wird's erzählt.«
Ich erinnerte mich, daß es auch jetzt noch ein harmloses Volksfest mit etwas Hoppsasa und Mummerei beim Kalten Stein gibt, im Herbst, wenn die Sternschnuppen fallen. Der Kranz der Feste und Beschwörungen, die der Mensch um den Berg geschlungen hat, ist eben schon welk und dürftig geworden, arg zerzaust vom Sturm der Jahrhunderte.
»… und die Gnade hat er gesäet …« und als ob es zum Text, aber zu einem richtigeren gehörte, setzte sie fort: »Bergmann im Berg, Kind im Leib, geborgen und geboren … gelobt sei Sankt Pankraz auf dem Berge.«
»Was habt Ihr da jetzt gesungen?«
Sie lachte erst ein wenig und dann sagte sie ernst: »Wenn die Zeit dazu da ist, wirkt der Segen bei der Braut und im Berg … das ist ein und dasselbe.«
Ich war mißtrauisch und sagte bloß »Ja«. Eigentlich hatte ich sie fragen wollen, ob sie sich als bräutlicher Schoß des Kupprons gefühlt hatte, damals vor Jahren, wie sie die Bergbraut war, oder ob Irmgard, die mit ihrer Brautkrone vor uns daherging, jetzt solche Gefühle hätte, bereit den fruchtbaren Segen zu empfangen, bereit sich vom heiligen Ritter erlösen zu lassen. Einstens vielleicht, als die Sprache entstand, vielleicht ehe noch die Erde sich zu den Gebirgen aufwarf und faltete, da gab es noch den Schoß der Berge, heute ist er ein in die Geologie verirrter leerer Begriff. Aber mit solchen Dingen kann man Mutter Gisson nicht kommen.
»Der Herr hat auf dem Berge geredet …«
Dann sagte ich doch: »Mutter Gisson, allen Ernstes, es gibt so und so viel lebendige Berge, denen man mit Bohrmaschinen und Seilbahnen beikommt … und ohne Bergbräute und Pfarrer …«
»Warum nicht«, meinte sie gleichmütig.
»Ganz abgesehen davon, daß man so einen Pfarrer Arlett, der das richtig besorgen kann, auch nicht so rasch findet … das ist doch ein anstrengendes Geschäft …«
Da mußte sie wieder lachen: »Wenn der Berg es will, ist der Pfarrer auch dazu da.«
»Ja, aber die Berge verzichten.«
»Nicht alle Berge sind gleich … emporgestiegen auf den Turm der Welt, auf den Berg des Lebens hell …« sie unterbrach neuerlich den Gesang, »außerdem sind sie geduldig, mancher läßt sich viel gefallen.«
»Himmelherrgott, Mutter Gisson, wenn ich nur wüßte, ob Ihr wirklich daran glaubt.«
Sie schaute mich ein bißchen mitleidig an: »Wart's ab … wart's ab, wart's ab bis sie ungeduldig werden und sich rächen … dann wirst du's ja selber sehen.«
»Nein«, sagte ich, »da werde ich gar nichts sehen, denn das Übel in der Welt ist nicht Rache und Strafe, sondern ein idiotisches Spiel … für nichtsundwiedernichts wäre der arme Suck gestraft, wenn ihm die Frau stürbe und er mit den Kindern allein bliebe …«
Suck, der seinen Namen gehört haben mochte, drehte sich um.
»Das Leben straft nicht«, sagte sie einfach, »aber es ist überall, auch im Übel.«
»Zugegeben, Mutter Gisson, dagegen ist auch nichts einzuwenden, aber welches Leben ist im Übel des Bergs und seiner Rache … etwa gar der Lindwurm …?«
Sie antwortete jetzt nicht mehr. Mit solchen Bemerkungen konnte man sie eben ärgern. Ob sie an Riesen und Drachen glaubte, das war eben nicht zu ergründen, danach durfte nicht gefragt werden. Sie steckte voller Geschichten von ihnen und ihrem Wirken und Wesen in Kraut und Gestein, sie stand mit ihnen in unausgesetztem fruchtbarem Verkehr, auf der Kräutersuche und im Hinhorchen und im Hinlauschen, das Fabelhafte drang immerzu zu ihr aus einem Einst, das vor jeder Erinnerung liegt und das ihr beinahe ebenso viel galt wie die Gegenwart, in der sie trotzdem mit festen Füßen wurzelt. Aber es ist wohl schon so: wer wahrhaft zu lieben versteht, wird vom Geliebten niemals völlig verlassen, nicht einmal im Tode, der wahrhaft Liebende weiß mit großer Bestimmtheit um den Dahingeschiedenen, er weiß von seinem steten Zurückkehren, das ihm zum Reichtum geworden ist, und wenn er auch nicht anzugeben weiß, in welcher Gestalt dies geschieht, wenn er sich auch scheut, zu sagen, »Es ist ein Geist«, oder »Es war ein Gespenst«, so ist er doch mit großer Sicherheit erfüllt und mag bloß nicht davon reden, ja, er wird ärgerlich wenn er darüber befragt wird. Und so mag es sich vielleicht auch mit Mutter Gisson verhalten, deren Liebe tief hinabreicht in die Zeit, und die vieles zu sich zurückruft, und verärgert ist, wenn man sie darum befragt, denn sie vermag nicht zu sagen »Es war ein Fabelwesen«, »Es war eine Fee«, »Es war ein Drache«, sondern sie weiß bloß, daß es um sie webt. Nein, man soll sie nicht fragen, und es war unrecht von mir, es getan zu haben.
Der Weg wurde steiler. Von vielen Wasserrasten unterbrochen, die Radspuren tief in den Felsen eingeschnitten, jahrtausendelang begangen und befahren, mit primitiven Schlitten verschliffen, ehe noch das Rad erfunden war, Knappenweg, Riesenweg, Zwergenweg. Das Schwarzbeerengefilde wurde etwas schütterer, und nun mußten wir öfters stehen bleiben, weil unser kleiner Pfarrer nicht weiter konnte. Ich wäre ihm gerne beigestanden, aber ich hatte in meiner Instrumententasche weder Koffein, noch ein anderes passendes Medikament. Außerdem hätte er vor der Messe ohnehin nichts zu sich genommen. Es war ein rechter Unsinn, einem sichtlich herzschwachen Menschen, und noch dazu in nüchternem Zustand, diesen Aufstieg zuzumuten. Und so rief ich, allem Herkommen zutrotz: »Setzen Sie sich doch ein wenig, Hochwürden.«
In seinem steifen Ornat wandte er sich eckig um und lächelte mir dankbar und unschlüssig zu.
»Aber ja, Hochwürden, es wird uns allen gut tun, und der liebe Gott wird nichts dagegen haben.«
Er überlegte noch einmal, und dann mit der Bewegung von Bäuerinnen, die ihre Röcke schonen wollen, hob er hinten sein Ornat auf und setzte sich auf den felsigen Wegrand; männlich war jetzt seine gestreifte geflickte Hose sichtbar. Die anderen taten's ihm nach. Der Ministrant lehnte den Christ an einen Gabelast und begab sich mit den übrigen Kindern ins Gehölz, sein weißes Chorhemd leuchtete einmal da, einmal dort zwischen den Stämmen. Der Herr Vorsänger Gronne entledigte sich seiner damastenen Kirchenfahne und zog eine Flasche hervor – jetzt zeigte es sich, was seinen Rock rückwärts so merkwürdig gebauscht hatte – und hielt sie unschlüssig in den Händen, während er sich in der Reihe der Weiber niederließ, die nun die ganze Steilseite des Weges schwatzend säumte. »Es ist nur Kaffee«, sagte er wie zur Entschuldigung, »zur Anfeuchtung«, aber obwohl sie alle, vor lauter Singen, nach der Anfeuchtung dringend verlangten und die Flasche recht begehrlich betrachteten, traute sich keines einen Schluck zu tun, ehe nicht die Messe gelesen war, und auch ich wagte nicht, Gronne aufzufordern, er möge die Labe dem Pfarrer anbieten, so sehr auch das Heilige nun ins Weltliche und, man mochte beinahe sagen, Touristische aufgelöst erschien.
»Nun«, sagte ich, »wollt Ihr nicht auch ausruhen, Mutter Gisson?«
Sie hatte ihren Ärger schon wieder vergessen und schaute mit der verzeihenden Empörung eines Zeremonienmeisters auf mich und auf die Leute ringsum: »Nicht vor dem Segen«, sagte sie und rief Irmgard herbei, vermutlich um wenigstens diese, die Bergbraut, in der Würde zu halten.
Aber Irmgard, der zwar auch die Schweißtropfen auf der Stirne standen, sogar unter der Brautkrone, machte wirklich ein feierliches Gesicht.
Suck trat zu uns. Jetzt, da der Gesang erschwiegen, war alles vom Summen der Waldinsekten erfüllt. Quer über den Weg zog eine Ameisenstraße mit ihrem unfaßbaren blitzartig wimmelnden Treiben. Sucks fröhliches Gesicht ist besorgt: »Waren Sie heute bei ihr, Herr Doctor?« – »Ja, Suck, es geht.« Aber ich blicke dabei zu Mutter Gisson, die es besser weiß, ich tue es wohl auch, weil ich Suck nicht in die Augen schauen will und vielleicht, weil ich von ihr erhoffte, sie würde das Urteil, das sie über die Kranke gesprochen hatte, jetzt zurücknehmen: es geschah nichts dergleichen, obwohl sie doch Sucks angstvolle Frage gehört hatte und auch fühlen mußte, worum es mir ging; gleichmütig hatte sie sich darangemacht, die Schleifen, die von der Brautkrone Irmgards herabfielen und in Unordnung geraten waren, zu ordnen.
Suck fragte nochmals. »Wird sie gesund werden?« fragte er.
»Ja«, sagte ich [in] einer Art bitterer Auflehnung.
»Deine Buben werden groß und schön, Suck«, sagte Mutter Gisson und wies auf einen der Suckbuben, die sich im Wald herumtrieben.
Sucks Gesicht lächelte in seinem runden Seemannsbart. Die Buben glichen ihm, wie er seinem Vater noch immer gleicht, untersetzte stämmige und fröhliche Kerle, alle Sucks. Sie sind ihm gekommen in der schönen Notwendigkeit des Lebens, in der man gezwungen ist, die Hand nach der Frau auszustrecken, und all die Verwunderung bringen sie mit auf die Welt und hängt noch immer an ihnen, mit der man erstaunt war, daß die Frau zu so einem Kerl mit einem Seemannsbart Ja gesagt hat und ihn mochte, auch sie der schönen Notwendigkeit des Lebens unterworfen. Ich weiß nicht, ob Suck so dachte, aber so würde ich denken, wenn ich an seiner Stelle wäre oder selber Kinder hätte.
Der Bub, der nun herangekommen war, betrachtete die Bergbraut. Und dann wollte [er] den Strauß haben.
»Nein«, sagte Mutter Gisson, »den kannst du nimmer haben, der gehört schon dem Herrgott, aber anschauen kannst du ihn.«
Auch ich betrachtete den Strauß in Irmgards Arm. Er bestand vor allem aus Nelken, vermischt mit zartem Espengras, aber es gab auch eine Menge Kräuterzeug dabei, vielerlei, das mir ganz fremd war und vermutlich von Mutter Gissons geheimnisvoller Sammeltätigkeit herstammte. Die lanzettförmigen Blättchen des Schlangenkrautes, das hier so genannt wird, weil ihr Absud angeblich gegen Kreuzotternbisse hilft, die erkannte ich freilich.
»Ja, die Blumen gehören dem Herrgott«, wiederholte nun Mutter Gisson mit lauterer Stimme, indem sie sich zum ersten Male an den Pfarrer wandte, »nicht wahr, Hochwürden?«
»Ja«, sagte er mit seinem leisen und erschöpften Gesicht, »das tun sie wohl.« Und er trocknete mit buntem Sacktuch das bleiche Gesicht.
Ich ging vor, setzte mich zu ihm und bat um seinen Puls. Ach, meinte er, es sei schon wieder in Ordnung, er wäre bloß etwas zu rasch heraufgestiegen. Ja, und es käme bloß davon, wenn man des Steigens nicht gewohnt sei.
»Na, Hochwürden, ich bin nicht eben dafür, daß Sie sich noch zum Touristen ausbilden, aber kleine Spaziergänge, das täte Ihnen schon recht gut.«
Die Dalmatica hing zwischen seinen gespreizten Beinen herab. Ich hätte ihm gerne vorgeschlagen, sich all dieser Dinge zu entäußern und das letzte Stück des Weges in Hemdärmeln zurückzulegen. Der Pfarrer Arlett hätte es gewiß so gemacht.
»Und das nächste Jahr lasse ich Sie da nicht herauf, da werden Sie mit meinem ärztlichen Veto zu rechnen haben.«
»Das nächste Jahr«, er lächelte wieder sein schwaches schiefes Lächeln, »das ist lange bis dahin, ich rechne nicht mit so langen Zeiträumen … wie es dem Herrn gefällt.«
Und damit erhob er sich, strich Soutane und Ornat glatt und machte sich zum Weitermarsch bereit. Aber wenn einmal eine Arbeit unterbrochen ist, dann sieht es mit der Wiederaufnahme stets übel aus, und Rastpausen zur unrechten Zeit sind beim Bergsteigen nicht von Vorteil. Den ins Schwatzen geratenen Frauen war das Sitzen im Schatten angenehm, niemand hatte Bedürfnis nach dem Bergsegen, der jetzt wie ein von den Vorfahren aufgehalstes und vom eigenen Unverstand beibehaltenes Ungemach auf allen lastete. Indes besann sich Gronne, der Vorsänger, doch seiner Pflicht, und als er sein weinerliches: »Der Herr hat auf dem Berge geredet …« wieder losließ, kam unter der Beihilfe des Mesners wieder eine leidliche Ordnung in die Expedition.
Und jetzt war es schließlich auch nimmer arg. Es dauerte nur mehr eine kurze Weile, und man sah es licht durch die Stämme schimmern, und als wir in unserer Litanei bei der »Sankt Genovefa auf dem Berge« waren, da traten wir in den Holzschlag hinaus. Die schwitzende Menschenreihe war von Pferdefliegen und Mücken umschwärmt, oben vor uns stand die Kapelle, noch eine Serpentine, und wir werden sie erreicht haben, aber groß erhob sich die Felswand hinter dem letzten Waldstreifen, grau und zerschnitten von rostbraunen Streifen. Der Himmel war noch immer mit dem lichten weißen Grau überweht, doch wo die Sonne stand, blendete er jetzt opalig. Es roch nach Gras, Niedergebüsch und atmendem Bruchholz. Mit S-förmig hingelegtem Schwanz saß eine der hier landesüblichen schwarzen Eidechsen auf einem Baumstrunk und sah uns mit erhobenem Schlangenköpfchen an.
Wir rückten nur mehr ganz sachte vorwärts. Ich hatte dem Pfarrer meinen Stock gegeben, aber da er trotzdem immerfort glitt, war jetzt Suck vorgesprungen, hatte ihm die Hand gereicht und zog ihn hinter sich her. Und wie wir nun so schön langsam hinaufkrochen, dem schwanken Kreuze folgend, das der Ministrant der Steile halber nun ganz schräg hielt, ich aber, wie es eben schon meine Gewohnheit hier ist, wieder einmal die Felswand vor mir betrachtete, da entdeckte ich zu meiner Verwunderung, denn bisher war mir dies noch nie so richtig aufgefallen, daß in nicht allzu großer Höhe ein waagrechter Wulst, etwa zwei oder drei Meter dick, die ganze Felswand entlang sich streckte, vergleichbar dem Relief einer riesigen Schlange. Mit dem leisen Unmut, der mich da immer packt, wenn ich die Unmöglichkeit bestätigt sehe, selbst die geliebteste Landschaft restlos zu erfassen und zu kennen, schaute ich weiter hin und fand, daß jener Wulst sich an einer Stelle nach unten abbog und dort in einem dreieckigen Gebilde endete, das einem Schlangenkopf verteufelt ähnlich war und genau auf den Eingang des verschütteten Zwergenstollens hinzielte. Meinetwegen, sagte ich mir, doch im nächsten Augenblick stutzte ich und wurde unsicher: allzuviel hatte man heute schon von Drachen und Lindwürmern gesprochen, aus deren Klauen die Bergbraut Irmgard befreit werden sollte –, war das, was ich sah, tatsächlich so, wie ich es sah? war ich oder irgend einer meiner schauenden Ich-Teile von der Zeremonie, an der ich, wie mir schien, ziemlich unbeteiligt mitspielte, doch so sehr gefangen genommen, daß ich Dinge sah, die es nicht gibt? man kann schließlich in Felsgebilde alles mögliche hineinphantasieren, sie eignen sich dazu ebenso gut wie Tropfsteingestalten, warum also nicht auch Schlangen, die sich um einen Berg herumwinden? Da stand die Felswand, milchig grau sie selber, im milchig weißen Licht des Himmels, stand da wie uralt erstarrtes Licht, ein uraltes Lächeln der Erde, nein, ihr Lachen, da sie sich zum ersten Male dem Licht öffnete, und wir rückten an sie heran mit unseren Beschwörungen, auch diese uralt, doch schon abgenützt von der Zeit: durfte sich da der Fels nicht den Spaß machen, sich mit einer Schlange zu gürten? Mit der Litanei war es jetzt nicht mehr zu machen. Gronne hatte die Stimme verloren, und »Uff, Hochwürden«, schrie Suck vorne, »gleich werden wir's haben, nur noch ein Stückchen«. Und da waren die Kinder auch schon droben, und der Ministrant, der zuletzt auf allen vieren geklettert war, rammte sein Kreuz triumphierend in die Erde. Und »Hopp, Hochwürden« schrie Suck und zog den Pfarrer auf das kleine Plateau vor der Kapelle.
Da waren wir also. Und die meisten fanden, daß es heute besonders steil gewesen war. Der kleine Pfarrer aber lehnte lächelnd und schwer atmend in der geöffneten und mit einer Reisiggirlande umwundenen Kapellentüre und war stolz ob seiner touristischen Leistung. Und er hatte noch immer meinen Stock in der Hand.
»Wer langsam geht, wird müd«, sagte Mutter Gisson und klopfte ihre Röcke glatt, »das wird ein müder Segen.«
»Gewiß«, antwortete ich, indem ich mich halb an den Pfarrer wandte, »und deshalb soll sich unser geistlicher Herr erst einmal wieder ausrasten.«
Aber der Pfarrer lächelte verneinend und verschwand, vom Mesner gefolgt, in der Kapelle, so daß sich die Gemeinde, voran die Bergbraut und Mutter Gisson, genötigt sah, gleichfalls einzutreten. Es gab eine kleine Stauung.
Wir waren hier gewissermaßen im Mittelpunkt des hellen Lichtnebels, der diesen Morgen von Anbeginn an erfüllt hatte, nein, der dieser Morgen selber war, so restlos waren Tal und Fels und Himmel von ihm durchdrungen. Schier mochte man glauben, wir stünden hier am Ufer des Morgens selber, am Ufer eines Meeres, das in seiner morgendlichen Stille bis in die fernsten Unendlichkeiten sich dehnte. Suck neben mir sagte: »Heut' ist der Stein mild.«
»Ja«, sagte ich, und wir schauten beide zum Kuppron empor.
»Hören Sie mal, Suck«, sagte ich, »das Ding da droben sieht wie eine Schlange aus.«
»Ja«, bekräftigte er, »die Schlange um den Berg … die geht ringsherum.«
»Komisch«, sagte ich.
»Warum? vielleicht ist sie versteinert … das gibt es doch.«
»Mensch«, sagte ich, »eine Schlange um den ganzen Berg … so was Dummes.«
»Vorsintflutlich«, meinte er, »da gibt's allerhand.«
Unterdessen aber war soweit Ruhe eingetreten, und ich mußte mir den Weg in die Kapelle bahnen, denn ich wollte ja Irmgard in ihrer Brautfunktion sehen, und Mutter Gisson hätte es mir außerdem schwer verübelt, wenn ich es nicht getan hätte.
Hell im flutenden Licht des Morgens, das durch die Türe und die beiden Spitzbogenfenster eindrang, lag der kleine weißgetünchte Raum, blaß in solcher Helligkeit waren die Kerzenlichter, die auf dem Altartisch ordnungsgemäß brannten. Welch seltsame Art von Gottesdienst wurde hier dargebracht! Die Kerzen glichen vergehenden Sternen im Morgenlicht, und unter ihnen, süß und kitschig angelächelt von einer Gipsmadonna im blauen Sternenmantel, einem Kunstwerk, das zweifelsohne unter dem Kommando des Pfarrers Arlett hier aufgestellt worden war, lagen die Steine, jene Steine nämlich, um derentwillen die ganze Zeremonie der Steinsegen heißt, Erzstücke eigentlich, die wahrscheinlich schon vor Erbauung der Kapelle und längst ehe sie diesem christlichen Gelaß zur Aufbewahrung übergeben worden waren, zu kultischen Zwecken gedient hatten, denn die Oberfläche dieser kindskopfgroßen und von Metalladern durchzogenen Stücke war abgescheuert und geschliffen, als wären sie jahrtausendelang im Strome menschlicher Berührung gelegen. Doch unter dem Kreuz hinter dem Altar war an der Wand eine alte Bergmannshaue angebracht. Vor diesen Gegenständen zelebrierte der Pfarrer, und was er tat, mußte ihm, dem kirchlichen Priester, als ein Vorgang erscheinen, der sich hart am Abgrund verdammenswürdigen Aberglaubens hinbewegte. Und wie war es um die Gemeinde bestellt? da, in der ersten Bank der kurzen Betschemelreihe, kniete Mutter Gisson, die kraft eines andersgearteten Wissens nur wie ein achtungsvoller und dennoch lächelnder Gast dem Kirchlichen zugetan war und überdies an den Pfarrer Arlett dachte, da kniete Irmgard, die Bergbraut, in der seltsam feierlichen Frömmigkeit und Würde eines schöngeschmückten Bauernmädchens, und man wußte nicht, ob solche Frömmigkeit der Gerechtigkeit des Marius galt, an die sie glaubte, oder der Freude, sich ihm in solcher Schönheit und solchem Schmuck zeigen zu können, und es waren die Kinder da, froh in die sonst versperrte Kapelle eingedrungen zu sein, und die Weiber, von denen eine jede die Eßwaren im Tuche verknotet vor sich auf dem Fußboden liegen hatte. Und doch hatte die an sich so dürftige Zeremonie die stille Würde des Sommermorgens, in dem sie sich vollzog, war wie dieser wie ein Blick über das dämmernde Meer, und die Gesten des Priesters, die Gesichter der Menschen waren wie huschende weiße Nebel oder wie undeutliche Segel, die über das noch schattenhaft Unendliche dahinziehen. Denn so irdisch die Gebärde des Gebetes auch sein mag, wichtiger ist wohl die Fähigkeit, sie zu vollführen, diese einfache Fähigkeit des Menschen, die man sogar als seine schauspielerische schmähen dürfte, sie ist gleichsam die Gewähr, nein, nicht nur gleichsam, sie ist die wirkliche Gewähr, daß der Mensch, der aus der Unendlichkeit stammt und ohne sie nicht leben kann, sich zu ihr zurückzuwenden vermag. Es ist die Gewähr der Unendlichkeit. Mochte auch der kleine Pfarrer erschöpft sein, das Ornat arg verstaubt, mögen ihm die Füße in den bäuerlichen Schuhen auch brennen, mochte Irmgard ihr bräutliches Geschmeide auch unter allerlei unheiligen Nebengedanken zur Schau stellen, mochte Mutter Gisson einer Ferne teilhaftig sein, deren Schlichtheit keiner kultischen Anstrengung mehr bedarf, es kam dennoch in der Verrichtung des Priesters, in dem Gestus der Beter, in der bloßen Verrichtung und in dem bloßen Gestus, die Hingabe an das Jenseitige und Unerklärliche zum Ausdruck, es ist der Mensch, der die Hände zum Gebet faltet, dennoch von der Würde seines verschlossenen Antlitzes so sehr getragen, daß ihn die weißen Segel seiner demütigen Haltung durch viele Schichten des Seins dahinwehen, durch viele und aberviele bis zu den ahnenden Gestaden der Unendlichkeit, bis zu den Gestaden des unsichtbaren Himmels, geahnt von des Beters blindem Blick. Draußen vor der Kapellentür zirpten die Zikaden ihren weißen Gesang.
Doch der Steinsegen selber findet nicht in der Kapelle statt. Während der drei Vaterunser, die am Schluß der Messe gesprochen wurden, hatten der Mesner und Gronne die Erzstücke vom Altartisch geräumt und sie in eine Tragtruhe gelegt, ein Gerät, wie es im alten Bergbau vielfach verwendet wurde, als es weder Hunde, noch Gleise gab. Zwei Burschen packten die Truhe, die Bergbraut mit ihren Genossinnen, die Kinder und die übrigen jungen Leute scharten sich um sie, und ehe wir anderen unsere Prozession wieder geordnet hatten, war die ganze Gruppe mitsamt ihrer Last im Walde verschwunden. Denn sie hatten uns dort, beim Eingang der alten Zwergengrube zu erwarten.
Der Mesner hatte jetzt die Bergmannshaue von der Wand genommen und trug sie neben seinem Räucherfaß, der Ministrant war schon wieder mit seinem Kreuz ausgerüstet, Gronne aber steckte die Kirchenfahne, die neben dem Altar aufgepflanzt gewesen war, wieder in den Gurt und stimmte aufs neue seine Litanei an, allerdings unter Verzicht auf die Anrufung aller Heiligen, vielmehr endete jetzt jeder Vers mit einem »Gelobt sei Sankt Georg auf dem Berge«. So marschierten wir nun gleichfalls in den Wald hinein, und bei unserem Tempo brauchten wir wohl an die zwanzig Minuten bis wir unseren Vortrab beim Zwergenstollen antrafen: da stand nun die Bergbraut mit dem Rücken zum vermauerten Schachteingang, vor ihren Füßen befand sich die Truhe mit der Mineralienkollektion, und die Mädchen hatten, an den Händen sich haltend, einen Halbkreis um sie herum gebildet, als wollten sie Braut und Mineralien schützen. Kaum waren sie unserer singenden Schar ansichtig geworden, als sie einen Gegengesang anstimmten, etwas kindisch und grotesk, denn er ging auf die Melodie des »Weißt du wie viel Sternlein stehen«, und sie plärrten es wie in der Schule:
»Niemand darf heran sich traue-en
An des Riesen feste Burg
Oder bring ihm ein Jungfraue-en
Daß er dir nichts Böses tu.«
Trotz dieser Warnung rückten wir mutig weiter vor. Einstmals hat solcher Gesang wohl aus dem Schacht heraus und recht grausig geklungen, gar, wenn zu Vorzeiten sich dies alles in dunkler Neumondnacht abgespielt hatte. Ich schaute zu den Felswänden hinauf; das große Schlangenrelief war von hier aus nicht zu erkennen, aber von dem überhängenden Stein, den ich als Schlangenhaupt agnosziert hatte, züngelten zwei rostrote Rinnsale herab.
Wir blieben beharrlich bei unserer Litanei:
»Der Herr hat auf dem Berg geredet
Stern und Mond haben gewehet
Und die Gnade hat er gesäet
Vor Tau und Tag
Emporgestiegen auf den Turm der Welt
Auf den Berg des Lebens hell
Gelobt sei Sankt Georg auf dem Berge.«
Und wir siegten schließlich auch damit. Denn als wir vor der Mädchenkette standen, da hatten dieselben auch schon klein beigegeben und sangen nur noch:
»Kommt der Christ die Welt zu lö-ösen
Aus des Satans groß Rachén
Müssen fliehen alle bö-ösen
Ungetiere und Drachén.«
Bei diesen Worten aber berührte der Mesner die verschlungenen Hände zweier Mädchen mit der Bergmannshaue, die Kette löste sich, und der Pfarrer konnte in den Halbkreis eindringen. Die Bergbraut Irmgard hinter ihrer Truhe sank in die Knie mit schöner Würde, freilich nicht ohne vorher ihr Sacktuch auf die Erde ausgebreitet zu haben, und der Pfarrer, auf sie zutretend, machte das Kreuzeszeichen über ihrem Haupt, doch auch vor dem vermauerten Eingang des Berges, und er segnete mit dem Weihwedel sowohl ihren jungfräulichen Leib wie den des Berges, während die Gemeinde das Vaterunser und den englischen Gruß sprach. Und nachdem dies geschehen war, hob die Braut aus ihrer knieenden Stellung ihre beiden Hände mit dem Strauß empor dem Pfarrer entgegen und bat: »Du hast mich erlöset, nimm meine Blumen.« Der Pfarrer dagegen hatte zu antworten: »Ich nehme deine Blumen, du aber nimm diesen Gesegneten«, damit wies er in die Mineralientruhe hinein, »trage ihn und sei erlöset.« Wir jedoch waren bei diesen Worten nicht mehr zu halten, und mit ausgeruhten Kehlen legten wir nochmals, zum letzten Mal los:
»Der Herr hat auf dem Berg geredet
Stern und Mond haben gewehet
Und die Gnade hat er gesäet
Vor Tau und Tag
Emporgestiegen auf den Turm der Welt
Auf den Berg des Lebens hell
Gelobt sei Sankt Georg auf dem Berge.«
Irmgard war inzwischen aufgestanden; sie hatte das goldhaltige Erzstück, das ihr von dem weisenden Finger des Pfarrers empfohlen worden war, in einen ihr dargereichten Linnenstreifen gehüllt und trug es nun im Arm: so trat sie unter uns, und die Frauen berührten sie mit zärtlichen Fingern, sie und die Bänder, die von ihrer Brautkrone fielen, sie berührten auch sacht den in Linnen gehüllten Stein und sagten: »Ja, die Irmgard.« Gronne allerdings duldete nicht lange solch zärtlichen Firlefanz, er ordnete seinen Zug und trieb zur Eile, denn schließlich wollte doch jeder endlich zu seinem Imbiß kommen. Und da dies für alle sehr einleuchtend war, waren wir bald auf dem Rückweg, voran der Ministrant und die Kinder, hernach mit den Mädchen die Bergbraut, der die Truhe nachgetragen wurde, hinterdrein Pfarrer, Mesner, Vorbeter und Gemeinde. Gronne schwieg jetzt, allein die Mädchen und Kinder sangen:
»Kommt der Christ die Welt zu lö-ösen
Aus des Satans groß Rachén
Müssen fliehen alle bö-ösen
Ungetiere und Drachén
Heilger Georg, heilger Georg
Auf dem Berge unser Ho-ort
Schöne Jungfrau ist gene-esen
Aus dem Drachenblute dort.«
»Na also«, sagte Mutter Gisson, was nicht sonderlich feierlich klang. Es war doch immerhin jetzt allerhand geschehen, es war der Berg oder zumindest die eigene Enkelin aus der Umschlingung des Drachen befreit worden, die Irmgard trug einen Erzklumpen, wir hatten immerhin einiges geleistet und waren müde, und dies alles mit einem Na-also abzutun, schien mir gering.
»Deine Lanze tat besie-igen
Und der Heide liegt gefällt
Jungfrau tut das Kindlein wie-igen
Und der Christ regiert die Welt
Heilger Georg, heilger Georg
Auf dem Berge unser Ho-ort
Alle Englein dich umflie-igen
Heilger Christ an jedem Ort.«
Ja, und trotzdem hatte Mutter Gisson mit ihrem Na-also recht. Das Fest war gefeiert, der Berg war beschworen, das Heiligtum war geöffnet. Einmal im Jahr. Einmal im Jahr, in jedem Jahre, den Strom der Jahrtausende hindurch. Und doch war es, als sei in diesem unendlichen Strom gerade das Unendliche, das an seinem Anfang stand und das immer aufs neu beschworen werden sollte, geringer geworden, ja, als sei das Stück, das der Mensch mit seiner Beschwörung schon gehoben hatte, wieder zurückgesunken in seinen unerreichbaren Urzustand, bloß einen erstarrten Schimmer seiner selbst zurücklassend, ein Stück goldhaltiges Erz, einen diesseitigen Schimmer, und vielleicht nicht einmal diesen. Niedlich und harmlos war die Unendlichkeit, mit der wir es da zu tun hatten, allzuleicht war ihr Drache besiegt, seine Vielköpfigkeit war eine Kette von Mädchenköpfen, der Gottesstreiter, den uns die Kirche geschickt hatte, war unser kleiner Gärtner-Pfarrer, dem man es ansah, wie froh er war, die Sache schlecht und recht erledigt zu haben, und sogar der Lobgesang ob der Niederwerfung des Heidnischen war zu einem Kinderstubenliedchen geworden. Es ist, als ob das Unendliche den Zusammenhang mit sich selber verloren hätte, als stünde die Seele zwischen den Zeiten, immer wieder verdammt, das schon Gehobene ins Unscheinbare und Spielerisch-Kindliche entgleiten zu lassen, es ist, als wäre zwischen dem lebendigen Unendlichen des Einst und dem Unendlichen des Kommenden, sie beide geahnt, sie beide gewußt, wenn der Mensch die Augen schließt, eine tote Wegstrecke, die vor ihm liegt, wenn er die Augen öffnet, unfähig er, der Wissende, das Unterirdische zu erfassen, das er schon einmal beschworen hat. Mutter Gisson hatte recht, wenn sie Na-also sagte.
Ich sagte: »Man sollte wenigstens für die Feier den Stollen öffnen.«
»Wem soll das nützen?«
Ich mußte einen Augenblick überlegen: »Wegen des Gruselns … vielleicht spürt man doch das Unterirdische.«
»…
Heilger Georg, heilger Georg,
Auf dem Berge unser Ho-ort
…«
»Das hat schon der Pfarrer Arlett tun wollen … der ist hinein … damals war der Stollen noch nicht vermauert, nur mit ein paar Brettern verschlagen …«
»Und?«
»Er hat's eben mit Gewalt probieren wollen … alles hat der mit Gewalt gemacht … auf der Kanzel und im Bett … aber da hat es ihm nichts genützt, das Unterirdische läßt sich keine Gewalt antun …«
»Nein«, sagte ich.
»Das Mädel hat wohl ein Kind gekriegt, aber der Berg ist stumm geblieben … daraufhin haben wir ihn vermauert.«
»Den Pfarrer?«
Sie lachte: »Nein, der ist alt geworden, und wir haben alle geweint, wie er gestorben ist.«
»Aber, Mutter Gisson, das war doch ein Unmensch.«
»Nein, das war [er] nicht … dumpf war er, und gut war er, und groß war er, auch in seinem Glauben, und er hat das Wort gehabt …«
»Das nennt Ihr das Wort?«
»Ja, das Wort hat er gehabt wie nur irgendeiner, und die Männer waren wie Weiber vor ihm … und da hat er eben auch das unterirdische Weib bezwingen wollen, für seinen Glauben …«
»…
Deine Lanze tat besie-igen
Und der Heide liegt gefällt …«
sangen die Kinder.
»Und wenn der Berg gar keine Frau wäre Mutter Gisson?« Da[s] hatte ich schon längst einmal sagen wollen. »Er könnte ja ebensogut der Drache statt der Bergbraut sein.«
»Aha.«
Ich schaute sie fragend an.
In diesem Augenblick zerriß die Sonne den lichten Schleier der Welt. Braungold wurden die weißbehaarten Föhrenstämme, goldschwarz war der Nadelboden, überdeckt von den Schatten und Sonnenflecken, die bis ins Gezweige hinauf hingen.
Doch ich wollte nicht nachgeben: »Eher als der Berg ist das Tal ein Weib … oder das Meer …«
»Das Meer …«, sie sprach das so andächtig aus wie ein Mensch, der sich ein Leben lang nach dem Meer gesehnt hat, obwohl sie es doch sicherlich nie getan hatte, »… das Meer … um das Meer ist die Schlange gelegt, und sie ruht im Meer.«
Ich hatte ein lächerlich unheimliches Gefühl in der Bauchgegend, es war, als ob man mir die Steinschlange des Kupprons um den eigenen Leib gelegt hätte.
»Weißt du«, fuhr sie fort, »wo der Mann und wo das Weib steckt? ob der Berg sich in das Meer senkt, oder das Meer in den Berg sich ergießt?«
Ich wagte keine Einwendungen mehr.
Sie sagte: »Wer stark ist, schwängert und wird geschwängert, in allem und von allem … und wir können nichts anderes tun als horchen und lauschen, wann die Zeit des einen und wann die Zeit des andern ist, weil in einem jeden Ding beide Zeiten sind und in ihm leben. Das solltest du wissen, Herr Doctor.«
»Ja, Mutter«, sagte ich, »vielleicht werde ich es einmal wissen.«
»Mach's schleunig«, sagte sie, »und laß es wachsen.«
»…
Schöne Jungfrau ist gene-esen
Aus dem Drachenblute dort …«
sangen die Kinder.
Der kurze Waldweg war zu Ende, die verwitterte Rückseite der Kapelle kam in Sicht, wir traten auf die Lichtung hinaus, groß lag das Tal und besonnt lag es vor uns. Da stiegen wir nun auch die letzte Böschung hinab, der Pfarrer stützte sich auf meinen Stock, und wenn er trotzdem im Geröll ausglitt, faßte ihn Suck unterm Arm. Und als die Kinder ihr letztes »Heilger Christ an jedem Ort« sangen, langten wir vor der Kapelle an, in deren Türe nun die Sonne schräg hineinleuchtete, so daß neben dem gelben Lichtprisma der übrige Raum beinahe dunkel ausschaute.
Hier nun, auf die bloße Erde vor der Kapellenschwelle, legte Irmgard, nachdem sie ihn aus seiner Hülle gewickelt hatte, den Stein, den sie getragen, und ebenso geschah es mit den Steinen aus der Truhe. Denn dies war der letzte Akt der Feierlichkeit. Der Pfarrer blieb auf der Schwelle stehen, die Bergbraut kniete vor ihm nieder und wurde mitsamt ihren dort liegenden Steinen nochmals gesegnet. Dann begab sich der Pfarrer zum Altar, auf den er den Blumenstrauß legte, und rief »Aurum«, da brachte Irmgard das Golderz, und er rief »Argentum«, da brachte sie das Silbererz, und dann rief er noch »Cuprum« und »Plumbum«, und sie brachte das Kupfer- und das Bleierz, und das war wie eine Taufe, doch gleichzeitig auch eine ordentliche Inventur, denn damit wurden ja die Steine auch für ein ganzes Jahr von neuem aufbewahrt. Und während das Schlußgebet gesprochen wurde, befestigte der Mesner wieder die Bergmannshaue an der Wand, so daß damit alles in den früheren Stand zurückversetzt war. Dann wurden die Kerzen gelöscht, alles verließ die Kapelle, die Türe wurde abgeschlossen, der Pfarrer schlug das Kreuzeszeichen über sie, und der Schlüssel wurde abgezogen. Die Feier war zu Ende; bloß die Blumen, deren brüchiger Staub erst im nächsten Jahr hinausgekehrt werden wird, waren als Erinnerung an sie auf dem Altartisch geblieben.
Freilich, ehe es noch so weit war, waren die Tücher mit den Eßvorräten [aufgeknotet] und die Flaschen entkorkt worden. Eine allgemeine Eilfertigkeit [hatte] eingesetzt, nicht nur des Hungers halber, sondern wohl auch, weil jeder fühlte, daß trotz der harmlosen und vielfach kindischen Verkleidung Unbehagliches vor sich gegangen war, etwas, das jeder so rasch als möglich hinter sich zu bringen suchte. Es war ein allgemeines Gefühl der Erleichterung, und manche gaben dem Ausdruck, indem sie hinter die Kapelle traten und das geweihte Gemäuer beschmutzten. Daß sich aber auch der Pfarrer erleichtert fühlte, war nicht zu verwundern, er hatte schwer gearbeitet, allzuschwer für sein armes Herz, und nun saß er neben mir auf den besonnten Steinstufen, denn bis zum Waldschatten hinüber hätte es nicht mehr gelangt. Die kompakten Lebensmittel, die ihm von allen Seiten angeboten wurden, verschmähte er, dafür war er noch zu schwach, nur einige Schluck des kalten Kaffees aus Gronnes Flasche vermochte er anzunehmen.
»Also das nächste Jahr wird ein Stellvertreter heraufgeschickt, Hochwürden, darauf bestehe ich.«
»Ja«, lächelte er entschuldigend, »ja, Herr Doctor, vielleicht … aber ein Stellvertreter, das ist auch ein bißchen kostspielig, und so kann ich doch wieder einiges für meine Blumen tun.«
Sicherlich war er so bedürftig, daß es ihm auf die paar Groschen für eine Messe ankam. Aber sicherlich sagte er es auch, weil er in mir den Heiden vermutete, für den die pekuniären Motive die einzig verständlichen sind. Doch als Mutter Gisson jetzt vor ihn hintrat und »Recht schönen Dank für die schöne Messe, Herr Pfarrer«, sagte, es mit all der Würde sagte, die ihr zu eigen war, da legte er den Kopf noch etwas schiefer, breitete ein wenig die Hände aus, um anzudeuten, daß er bloß seine bescheidene, wenn auch etwas mühselige Pflicht gegenüber Gott und dieser kleinen Christengemeinde erfüllt hätte, und er antwortete mit großer Reinheit und Herzlichkeit: »Es war mir eine große Freude, Frau Gisson.« Denn so sehr sich dies auch auf jenen Schichten höflicher Riten vollzog, an denen der Mensch als solcher kaum mehr beteiligt ist und von denen es vielerlei in den bäuerlichen Umgangsformen gibt, bei Mutter Gisson, wie auch bei dem Pfarrer ging solche Höflichkeit geradlinig aus dem Sein hervor, aus einem Sein, das bei ihr groß und rund, bei dem Gottesmann hingegen etwas schmal und dürftig und von solcher Klarheit war, daß Mutter Gisson seine Hand losließ und mit all dem Nachdruck, dessen sie fähig war und dem niemand so leicht widersprechen konnte, ihm befahl: »Jetzt legen Sie aber sofort das Ornat ab, Hochwürden, sonst ziehe ich es Ihnen aus … jetzt brauchen wir das nicht mehr.« Und der Pfarrer gehorchte so eilend, daß er Irmgard, die nun, der Großmutter folgend, gleichfalls gekommen war, um mit einem Knicks für empfangenen Segen zu danken, kaum zunicken konnte. Aber bei Irmgard war es ohnehin nur eine äußerliche Höflichkeit, und sie war daran nicht beteiligt.
Vom Kirchturm unten tönte es zehn Uhr herauf. Das Meer des Morgens war aus dem Tal gewichen, grün liegt das bebaute Land in der Tiefe, dunkler im Grün dort, wo die vielen Almbächlein zueinanderstrebend das Gefilde durchziehen, dunkler im Grün nun auch schon die Obstgärten des Unterdorfs und die waldbestandenen Höhen des jenseitigen Talufers, und von den verstreuten Gehöften klingen die Kuhschellen herauf. In grenzenlos untadeliger Bläue ist der Himmel darüber gespannt, hoch über dem Tal, höher noch über den steinernen Bergen, die dem Frühling noch entrückt, den späten Sonnenwinter tragen. So hauset der Mensch von Anbeginn und bis in Urfernen, und seine frühesten Ahnen und spätesten Enkel sind für ihn nimmer Geschlechtliches, ja, kaum mehr Menschen, sie sind wie ewige Wesen, Götter nicht und nicht Steine, und doch Gott und Stein zugleich, sie, die am unendlichen Ur-Anfang und Ur-Ende stehen, Einheit, die nach Äonen zur Einheit des Ausgangs zurückfindet, während in uns, die wir in der Mitte sind, bloß die Erinnerung und die Ahnung ist, dennoch so stark, daß sie ein Wissen von dem ewig sich Verwandelnden, ewig Ineinanderfließenden ist, ein Wissen vom Ununterscheidbaren, in dem alles Gespaltene wieder einmünden will, einmünden wird. Mann und Weib, von der Sonne herabfließend, im Berge wuchtend, im Meere flutend, Mann und Weib über die Felder gebeugt, in den Hütten hausend und die Sprache sprechend, die vielfältige, die noch zerrissene und ungefüge voll vieler Floskeln und Riten, Mann und Weib, sie werden wieder eins sein inmitten ihrer blühenden Felder, wenn ihre Sprache, selbst sich dichtend und von der Erde singend, in ihre eigenste Tiefe zurückgekehrt, ihre Einheit wird ausdrücken können.
»Ja«, sagte Mutter Gisson, die mich beobachtet hatte, »was meinst, Herr Doctor? ist das Tal jetzt ein Berg oder ein Mann?«
»Hol Euch der Teufel, Mutter Gisson, ich mein', daß Ihr mit [dem] Abstieg beginnen und lieber im Wald rasten sollt … hier wird's zu heiß.«
»Und du?«
»Ich geh', da ich schon hier bin, zum Paß hinüber, zum Mittisvater.«
Die beiden alten Mittis sollte ich ohnehin schon wieder seit langem besuchen. Und so verabschiedete ich mich und überließ es Suck, den Pfarrer, der nun glücklicherweise in Hemdärmeln dastand, richtig ins Tal hinunter zu lotsen.