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VIII.

Es gibt Tage, da ist die Welt wie ein eingerichtetes Zimmer, der Himmel ist eine freundlich gestrichene Decke, die Berge sind weißgrüne Tapeten, und auf dem bunten Teppich des Lebens kugelt alles Spielzeug und macht läppisch-liebliche Musik. Mit solchen Tagen reicht der Frühling manchmal bis tief in den Sommer hinein, ja, sogar bis in den Herbst, und dann sind sie Kindheitstage im Alter, rührend wie diese, Erinnerung an etwas, das hinter jedem Kinderspiel und in einem letzten Frieden liegt.

Es war im Juli, und ich dachte, daß ein solcher Tag angebrochen sei, denn eine eigentümliche Sanftheit war über die Welt hingekrochen, eine Wolke durchsichtiger Weichheit, nachgiebig und dämpfend und trotzdem so unelastisch wie ein klarer Wasserspiegel, eine gewissermaßen hölzerne Weichheit, von der man noch nicht wußte, ob sie lustig oder traurig werden würde. Das Klappern des Frühstücksgeschirrs war anders als sonst, die Grillen draußen vollführten einen Höllenlärm, Rosa aber saß mit Karoline beim Kaffee, beide gleich alt, beide gleich jung, die Fünfzig- und die Fünfjährige, sie rührten ihre langsamen Gesprächsbrocken in ihren Tassen um, und vielleicht war es ein Gespräch über ihre unehelichen Kinder, das sie führten.

Doch als ich ins Freie hinauskam, wollte mir der Tag nicht mehr gefallen. Gewiß, es war alles hell, es war alles still, ja, es war in dieser Stille sogar alles so bewegt, wie es sein sollte, und mit der Friedlichkeit eines Spielzeugs war die biedermeierische Zahmheit des Menschendaseins an den Hängen der Berge angesiedelt. Aber die Töne des Tales, die sonst so frei und flüssig heraufstiegen, als würden sie von der dünnern Luft der Unermeßlichkeit angesaugt werden, hatten eine andere Färbung, eine andere Geschwindigkeit; sie kamen sozusagen bloß zögernd, sozusagen bloß aus Gewohnheit herauf, eine sonderbar stockige Abgeschlossenheit war in dieser linden Verlangsamung enthalten, denn die Bläue des Morgenhimmels war nicht zur Unendlichkeit geöffnet, sie war weit eher wie ein Abschluß, sie war wie eine dichte Cellonblase, gespannt von Bergspitze zu Bergspitze, und jeder Ton, der zu ihr hinaufdrang, schien ihre Undurchdringlichkeit noch straffer zu spannen. Ich horchte: alle Töne kamen von unten, von oben kam nichts, kein einziger Vogelruf.

Die blaue Cellonblase platzte auch nicht im Laufe des Vormittags. Im Gegenteil. Um die Mittagszeit war sie zu einer festen Kuppel blaugetünchten Bleis geworden.

Längs des Ventenbachs, der sich in einem großen nach Osten gedrehten Bogen über die Talsohle dahinschlängelt, ging ich dem Dorfe zu. Die Felder reiften und das Gras stand zur zweiten Mahd. Um diese Zeit hat jeder Mann, der dem Land Untertan geworden ist, den Schritt des Schnitters, seine Arme sind unausgesetzt bereit, zum Sensenschwung auszuholen, auch wenn er, wie ich, bloß eine Doctortasche in der Hand hält, sein Leben beginnt vom Kopf in die Arme und in die Beine zu fließen, angezogen von einer Erde, die nicht mehr aufwärts sprießt zur Unendlichkeit, sondern die Unendlichkeit wieder zu sich herabholt, in sich hineinholt, in sich hineinsaugt zur kommenden Ruhe des Winters. Wenn die Erntezeit beginnt, spricht der Mensch nicht mehr seine Gedanken, denn er hat keine mehr, er geht über die Erde dahin mit den großen schwingenden Schritten des Schnitters, ein Erntearbeiter unter den vielen, die alle das Gleiche denken müssen, und was sie denken ist nichts als die dumpfe saugende Kraft der Erde. Und ich, dahinschreitend über das brüchige Erdreich des Feldwegs, schaute zum Himmel empor, wartend, daß die bleierne Kuppel sich senken werde, angesaugt von der Kraft der wartenden Erde. Es war noch stiller als am Morgen. Dort, wo der Bach kleine Gefällsstufen hat, hörte man rieselndes Plätschern, und von Zeit zu Zeit dengelte einer droben, wo die Bergwiesen bereits in den Wald hineinreichen, seine Sense. Klein und schwarz waren die Gestalten der Mäher da droben, manchmal blitzte eine Sense auf, manchmal sah man das Weiß eines Hemdes.

Zwischen den Ufergebüschen des Baches und dem Weg liegt ein schmaler Streifen Sumpfwiese, mit Schierling und Dotterblumen bewachsen, und an einigen Stellen gibt es richtige Schilfinseln. Steif und hoch standen bereits die Riedhalme, und hier wurde das knirschende Säbeln einer Sense und das scharf rauschende Fallen der Schilflagen vernehmbar. Am Rande des Wegs lag ein geflicktes blaues Hemd neben einem Deckelkorb.

Es war der Wenzel, der Schilf für die Stallstreu schnitt.

»Guten Morgen, Herr Doctor«, rief er.

»Guten Morgen.«

Sein nackter Oberkörper war tadellos geformt, die Haut braun und ohne Haare, doch dicht behaart waren die mächtigen, affenartig langen Arme. Er hing ein wenig am Obergriff der Sense, die er neben sich aufgestellt hielt und die ihn um ein Beträchtliches überragte. An seinem Bauch hing das Lederfutteral mit dem Dengelstein.

»Heiße Arbeit«, sagte er.

»Gewiß.«

»Sie sollten auch Ihr Hemd ausziehen, Herr Doctor.«

Er lachte übers ganze Gesicht, als wäre er über mein Auftauchen entzückt, und er war voller Zutraulichkeit, freilich von einer, der man es anmerkte, daß sie jederzeit in Feindschaft umschlagen konnte. Ein Schelm und Henkersknecht zugleich war er, ein Spaßvogel und ein Würger aus dem Niemandsland, ein Kerl, dem man allerlei zutrauen konnte, vielleicht sogar die Wiederinbetriebsetzung eines alten Bergwerks, sicherlich aber die erbarmungslose Verfolgung eines kleinen wehrlosen Radioagenten. Er lachte und leckte sich den Schweiß von der Oberlippe. Da er mir solcherart in den Weg gestellt worden war, fand ich es für richtig, nicht viel Federlesens zu machen: »Gut, daß ich Sie treffe, Wenzel … was haben Sie eigentlich gegen den Wetchy?«

Er bohrte seinen Absatz in einen Maulwurfshügel, der von der Trockenheit zu einem Haufen hellen lockern Sandes gemacht worden war. Er seufzte.

»Nun?«

»Ja, was soll man denn mit dem Kerl anfangen, Herr Doctor?« antwortete er mit einer halb gespielten, halb treuherzigen Verzweiflung.

Es geschah, was er beabsichtigt hatte; ich mußte lachen.

»Jetzt ist [er] gar auch noch mit Ihnen verwandt.«

–? –

»Nun, Sie haben ja seine Tochter bekommen.«

»Allerdings.«

»Und das andere hat Masern?«

»Ja.«

»Traurig«, sagte er bedauernd.

»Eben deshalb sollen Sie ihn in Ruhe lassen.«

»So was hat's nötig, sich fortzupflanzen …«

»Das ist eine ziemlich weit verbreitete Gepflogenheit.«

»Ist doch besser, wenn so was gar nicht auf die Welt kommt.«

»Damit, daß Sie ihn belästigen, werden Sie's nicht abstellen.«

Er sagte schmollend: »Er belästigt doch auch alle Leute mit seinen Versicherungen und mit seinem Radiozeugs …«

»Was geht das Sie an, Wenzel?«

»Mich? … nichts …«

»Sie mischen sich aber in recht viel Dinge, die Sie nichts angehen …«

Er machte eine wegwerfende Geste: »Herr Doctor, ich bin ein Niemand … die Leute können eben den Wetchy nicht leiden …«

»Ja, aber bisher hat er seine Ruhe gehabt … da mußten Sie erst kommen …«

»Ich? … aber Herr Doctor!«

»Na, wer denn sonst? der Marius?«

Er kratzte sich am Kopf: »Mit dem Marius ist das so eine Sache …«

»Ja«, sagte ich, »das ist so eine Sache, wenn Sie die Burschen über seinen Befehl rebellisch machen …«

»Der Marius befiehlt nichts«, sagte er beinahe verächtlich.

»Was denn tut er?«

Jetzt dachte er ernsthaft nach. Dann sagte er: »Der Marius sagt bloß das, was die andern denken.«

»So? an den Blödsinn mit dem Gold haben sie auch immer gedacht?«

»Immer, Herr Doctor, immer.« In seinem Gesicht war wieder die gewohnte Lustigkeit aufgeschienen, aber er meinte es offenbar trotzdem ernst.

Ich schaute zum Kuppron hinüber, der stand da, Gold im steinernen Bauch, und stemmte die Last des bleiernen Himmels, er, ein Teil der Erde, emporgeworfen von der Erde, vielleicht gegen ihren Willen, emporgeworfen gegen den Himmel, auf daß er nicht herabstürze in ihre saugende Kraft, Riese oder Riesin, man wußte es nicht. Vor mir aber stand der Schelmenzwerg mit der Sense, auch er emporgeworfen aus der Erde und ihr Schilf mähend.

»Ja«, sagte er, »die Leute sollen das ausführen, was sie denken.«

»Was der Marius denkt …«

»Das ist dasselbe.«

Trapp hatte sich mit hängender Zunge auf die heiße Erde gelegt. Er knurrte leise. Es war, als knurrte er in die Erde hinein.

Ich sagte: »Wenn ihr das ausführt, was ihr denkt, werdet ihr es mit der Gendarmerie zu tun haben … das ist, so viel ich weiß, schon manchem passiert, der seine Gedanken ohneweiters ausgeführt hat.«

»Die Gendarmen denken auch dasselbe.« Er zwinkerte mir listig zu, »genau so wie Sie selber, Herr Doctor.«

»Mich dürfen Sie bei Ihren Spaßen aus dem Spiel lassen, Wenzel«, sagte ich, »was Sie gegen den Wetchy vorhaben, ist eine nackte Gemeinheit, und auch vor Ihren Goldunternehmungen kann ich Sie bloß warnen.«

Natürlich mußte ich dies sagen. Aber lieber hätte ich ihm die Sense weggenommen und hätte selber gemäht. Die seltsam bleierne Luft war ein heißer Hauch in meinen Lungen, und wenn ich auch die Anatomie des Menschen kenne, der Atem in mir schien mir dunkel und unergründlich.

Er bohrte wieder den Absatz in den Maulwurfssand, lächelte und meinte dann schließlich: »Die Menschen wollen immer was Neues, man muß ihnen auch diesen Spaß lassen.«

»Und das nennt ihr dann die Welt erlösen?«

»Ich nicht …«

»Der Marius also.«

Er machte wieder seine zynisch verächtliche Geste: »Vielleicht.«

»Und Sie wollen bloß Ihren Spaß dran haben … das sind böse Spaße, Wenzel.«

»Die Welt muß vorwärts gehen, Herr Doctor.«

Ur-alt und übermächtig drohte der Kuppron, drohten die Felsberge, aufgetürmt im bleiernen Blau, bedeckt mit dem großen und übergroßen Leben, millionenstämmigen Leben des Waldes, der Sträucher, der Gräser, und es war plötzlich die höhnische Drohung des Greises, der lautlos das dünne Kleid des Lebens abstreift, die Arme hebt und mit einem Male in der schreckensvollen Wehr seiner Nacktheit dasteht.

»Die Welt muß vorwärts gehen«, wiederholte der Sensenzwerg.

Ja, sie muß vorwärts gehen, sie muß immer wieder gegen das Übermächtige des nackten Greises anrennen, gegen ihn, der inmitten der strahlenden Holdheit stets aufs neue den Schrecken des nackten Todes sichtbar werden läßt, sie muß gegen ihn anrennen und ihn zu unterhöhlen trachten, ihm das Geheimnis des Goldes entreißen, auf daß er zusammenbreche und der Himmel in den saugenden Atem der Erde zurückkehre.

»Ja«, sagte ich, »die Welt muß vorwärts gehen, aber wahrscheinlich nicht so, wie Sie meinen.«

»Das schadet nichts, wenn nur überhaupt«, lachte er, »ich will Ihnen was zeigen, Herr Doctor.«

Er ging zu dem Korb am Wegrand und öffnete den Deckel: in dem Gras und Laubwerk, das er hineingepackt hatte, wimmelte ein Dutzend schwarzgrüner Krebse und bewegte die Scheren.

»Aus dem Bach da gefischt«, erklärte er, »die kriegt der Krimuß, der frißt sie gerne. Der ist selber so ein Krebs.«

Trapp schnüffelte an dem Korb.

Wenzel hielt ihm ein Tier unter die Schnauze: »Das sind die Mondfische«, sagte er.

»Na«, sagte ich, »fangen Sie lieber Krebse als Gold, das ist gescheiter.«

Er grinste wieder: »Auch die Krebse sind unter den Steinen.«

»Ja«, sagte ich, »aber Krebsfangen ist harmloser, damit stiften Sie wenigstens keinen Schaden … Wiedersehen, und lassen Sie mir den Wetchy in Ruhe.«

Damit ging ich.

»Zu Befehl, Herr Doctor«, rief er mir nach, und als ich mich daraufhin umwandte, stand er wie eine Schildwache da und präsentierte die Sense, die mit ihrer glitzernden gebogenen Schneide wie ein weißer und zu lang gewachsener Mond gegen die Himmelsbläue glänzte.

Nicht weit vom Dorf sah ich drüben auf der Milandschen Wiese am Abhang den Marius. In gleichen Abständen gestaffelt schritten er, der Bauer und der Knecht Andreas, sie schwangen im Gleichtakt ihre Sensen, und hinter ihnen mit kleineren und unregelmäßigeren Bewegungen der langen Rechen folgten die Bäuerin und Irmgard und breiteten das gemähte Gut aus. In der Entfernung konnte man den Bauer und Marius beinahe verwechseln. Irmgard winkte mir und ich winkte zurück. Vielleicht hatte sie mir auch etwas zugerufen, aber der Tag war so unbeweglich geworden, daß die Luft zu träge schien, den Schall überhaupt noch weiter zu tragen, auch er sank zur Erde, auch er wurde von ihr aufgesaugt.

Das Dorf war ausgestorben, man hätte meinen können, daß es ein nächtlicher Mittag war, so dunkel war das wolkenlose Licht geworden, das Welle um Welle in einem lautlos dröhnenden Trommelschlag herunterkam. In dem schmalen Mauerschatten des Wirtshauses lag Pluto, den Kopf tief zwischen den Vorderpranken, und es war, als würde auch er gegen die Erde knurren. Er schickte mir einen traurigen Blick zu, aber erhob sich nicht, auch nicht um Trapp zu begrüßen, sie hatten einander heute nichts zu sagen, denn was sie sich vielleicht zu sagen hatten, das war noch zu tief in der Erde verborgen, in die sie hineinknurrten. Und ebensowenig hatte Frau Sabest etwas zu sagen; sie saß in der Wirtsstube und starrte vor sich hin.

»Heute kommt wohl niemand in die Ordination«, meinte ich schließlich.

»Nein«, sagte sie.

»Ich will auch nur auf das Bierauto warten, damit es mich hinaufbringt.«

»Ja«, sagte sie.

Doch nach einer Weile sagte sie: »Der Peter arbeitet jetzt in der Metzgerei.«

»Das ist eine Neuigkeit«, meinte ich, »kann er denn auf einmal Blut sehen?«

»Der Wenzel hat's ihm befohlen.«

»Da will er also auch nicht mehr Kaufmann werden?«

»Der Marius sagt, daß man die Kramläden schließen müsse … die seien bloß für die Weiber da.«

»Na, und wie stellt ihr euch dazu?«

»Der Mann freut sich.«

»Auch über den Kramladen?«

Sie lächelte. »Vorderhand ist das Wirtshaus jeden Abend voll … die Bauern kommen her, weil sie über den Wenzel lachen. Aber manchmal gibt es jetzt schon arge Keilereien.«

»Letzten Sonntag habe ich es gemerkt.«

Nach einer Weile trat Sabest ein. Er hatte seine blutfleckige Schlächterschürze vorgebunden und das lange geradlinige Teilmesser hing ihm wie ein Degen zur Seite. Er setzte sich zu seiner Frau und griff ihr mit den roten Händen in die weiche Achselhöhle, so daß sie lachen mußte. Das klang seltsam an diesem unbewegten Tag.

»Also das Geschäft geht, Sabest.«

»Ja«, sagte er, »der Marius ist ein großartiger Kerl, jetzt fangt eine neue Zeit an.«

»Aber er selber läßt sich nie im Wirtshause blicken.«

»Der Spitzbub, der Wenzel, besorgt's schon allein … sogar den Krimuß hat er herumgekriegt.«

»So, der Krimuß ist mit ihm zufrieden …«

»Das glaub' ich, der Kerl arbeitet ja wie ein Roß … und außerdem wird er das Gold holen.«

»Das wird noch seine Schwierigkeiten haben.«

»Die anderen werden schon nachgeben, die Oberdörfler … die sind ja wie die Weiber, die fürchten sich bloß.«

»Na, das kann ich eben nicht finden.«

Er spielte mit der Schneide seines Messers: »Wenn sie nicht nachgeben, dann wird eben Blut fließen müssen … es ist ohnehin schon an der Zeit.«

»Haben Sie den Krieg schon vergessen, Sabest?«

Er schob die fleischige Unterlippe zu einem fernverlorenen Lächeln vor, während seine Hand wieder die Arme der Frau abtastete: »Den Krieg? nein, den habe ich nicht vergessen …«

»Nun, und?«

Er fuhr fort: »Das heißt, Herr Doctor, ich habe fast alles vergessen … alles … doch eines ist geblieben, ja, das ist geblieben, es hat immer wieder nach Frau gerochen …«

Er schwieg und schnob durch die Nase.

»Und die Welt muß wieder nach Frau riechen … dazu braucht sie Blut … nicht nur von Kälbern und Schweinen … wenn ich im Schlachthaus steh', dann spüre ich's, Herr Doctor, ich spür's unter meinen Füßen, was die Erde will … und wenn man ihr's nicht gibt, dann gibt sie uns auch keine Kraft mehr … dann sind wir nichts mehr bei den Weibern, unbrauchbar sind wir, dann hängt an uns alles herunter …«

Er lachte nicht, obwohl er Anstrengungen zum Lachen machte, in seinem Gesicht war ein großes Entsetzen, und die Hand, die die Frau gepackt hielt, war kaum mehr zupackend, sondern eher haltsuchend.

»Da unten saugt's«, sagte er heiser und deutete auf den Boden.

Auch das Lächeln auf dem Gesicht der Wirtin war erloschen. Sie löste die Hand des Mannes von ihrem Arm und legte sie sich auf die Brust; dort bedeckte sie sie mit ihren beiden Händen.

»Und der Marius soll Ihnen die Kraft erhalten?« fragte ich endlich.

Er antwortete lange nicht. Dann sagte er: »Was sein muß, muß sein … einer muß es tun.«

Später – ich war in die Ordination hinaufgegangen – kam das Bierauto. Sein Hupen war schon von weither vernehmbar, und als ich einen Blick durchs Fenster warf, erschien es gerade am Anfang der Dorfstraße, eine fauchende, ratternde, ein wenig schräge Maschine, denn die Straße ist dort stark geböscht, ausgestattet mit Augen und Winkern, mit Tafeln und auch mit einer Fahne, ein Ungetüm auf dem Erdboden, angefüllt mit Getränk für die Menschenbäuche. Dann hielt es vor meinem Fenster. Ich hörte die feucht heisere Stimme Sabests, und in der Einfahrt wurden Fässer gerollt. Da machte ich mich zum Weggehen bereit, und bald darauf fuhren wir ab, verließen das Dorf, drei Menschen auf dem lärmenden Ungetüm, drei Menschen, in deren Leibeswinkeln der Schweiß klebte, während die Maschine unter uns ihr Öl schwitzte und nach Öl roch, nach Öl und Fett und Benzin, so fuhren wir Menschen auf Menschenwerk, in der Unbeweglichkeit des Nachmittags, inmitten der Gefilde, die nach der Mahd riefen und die stille heiße Luft langsam in sich einsaugten: was noch nicht eingesaugt war, das zitterte als durchsichtiger Glast auf der Oberfläche und wartete. Hinter uns aber tanzten die leeren Fässer und rasselten mit den Ketten, die um sie geschlungen waren.

Nach der dritten Kapelle ließ ich mich abladen. Trapp folgte mir mit einem langsamen, fast ungeschickten Sprung, und wir nahmen den kurzen Feldweg zum Wald. Ich schaute zur Kuppronwand hinauf. Es war, als ob das unmerkliche Zittern des Glastes von ihr herrührte, denn auch sie zitterte, bebte wie einer, der unter einer schweren Last steht und sich's nicht anmerken lassen will. Auch zwischen den Fichtenstämmen zitterte die Luft, und beinahe unbewegt standen die Mückenschwärme.

Ich aß mit Karoline und Rosa zu Abend.

Das Kind sagte: »Erzähl' mir die Geschichte.«

Und Karoline erzählte: »Vor vielen hundert Jahren ist der Himmel auf der Erde gelegen …«

»Warum?«, fragte das Kind.

»So«, sagte die Karoline, »so, weil es so war …«

»Ja, aber warum?« fragte das Kind.

»Weil es das Paradies war«, sagte ich, »immer wenn der Himmel auf der Erde liegt, ist es das Paradies und die Menschen gehen im Himmel spazieren.«

»Nein«, sagte die Karoline, »damals hat es noch keine Menschen gegeben … zuerst sind die Riesen aus der Erde herausgekrochen.«

»Weil der Himmel auf der Erde gelegen ist?« fragte das Kind.

»Ja, vielleicht«, antwortete Karoline und sann nach, wahrscheinlich über die Frage, ob die Riesen, die da gezeugt worden waren, die ersten Dienstmädchen der Welt waren.

»Erzähl' weiter.«

»Ja, und die Riesen wollten es nicht dulden, daß der Himmel auf der Erde liegt, sie waren bös und eifersüchtig und wollten die Erde für sich haben, für sich allein …«

»Und dann?«

»Und dann sind sie hergegangen und haben Steine genommen und haben sie hoch aufgebaut, bis der ganze Himmel von der Erde weggestemmt war.«

»Ja? dann ist er nicht mehr auf ihr gelegen.«

»Da ist er nicht mehr auf ihr gelegen.«

»Da war er traurig?«

Karoline war die Frage unangenehm: »Vielleicht … ja, vielleicht war er traurig … und so haben die Riesen aus den Steinen den Kuppron gebaut.«

»Und auch die anderen Berge«, ergänzte ich.

»Und jetzt kann der Himmel nicht mehr herunter?«

»Nein, das kann er nicht mehr.«

Das Kind überlegte: »Vielleicht kommt er doch in der Nacht herunter, wenn es niemand merkt.«

»Nein«, sagte die Karoline rasch, denn sie wußte, daß nicht einmal aus Amerika einer zurückkehren will.

»Manchmal kann es schon vorkommen«, sagte ich.

Karoline sah mich mißbilligend an.

»Manchmal«, sagte das Kind, als erinnerte es sich.

Nach dem Abendessen ging ich in den Garten. Es dämmerte, aber der gewohnte Abendwind stellte sich nicht ein; die trockene Schwüle der Luft rührte sich nicht. Plötzlich stand der Marius am Zaun und grüßte.

»Marius? Sie hier?«

Er nickte.

»Ist wer krank?«

»Nein, Herr Doctor.«

»Und Sie kommen zu mir?«

»Ja, auch zu Ihnen … Sie haben heute mit dem Wenzel gesprochen.«

»Aha, deswegen.«

»Nicht nur deswegen … ich wollte zum Berg herauf, der Berg hat sich gemeldet.«

»Was hat er getan?«

»Noch nichts … aber es hat mich heraufgezogen.«

»Na, schön, dann setzen Sie sich wenigstens.«

»Danke, Herr Doctor.«

Er nahm auf der einen Gartenbank Platz, ich auf der andern. Ich bot ihm eine Zigarette an; nein, er war Nichtraucher.

»Sie haben dem Wenzel gesagt, daß ich Böses im Schilde führe«, begann er mit leisem höflichem Vorwurf.

»Was Sie selber vorhaben, weiß ich nicht, aber wenn der Wenzel Ihr ausführendes Organ ist, so gefällt es mir nicht eben sonderlich.«

»Der Wenzel«, sagte er sinnend, »der Wenzel ist ein Hanswurst, aber er weiß, was er tut.«

»Und was tut er?«

»Was die Leute wollen.«

»Das wollte auch er mir schon aufbinden … aber er tut, was Sie wollen, Marius.«

»Der Bauer will mit dem Gold nichts zu tun haben, also habe ich es aufgegeben.«

»Und was wollen Sie eigentlich? … denn Sie werden mir nicht einreden, daß Sie ein bloßer Zuschauer sind …«

»Ich will die Gerechtigkeit, Herr Doctor.«

»Dazu zählen Sie vielleicht auch die Hetze gegen den Wetchy?«

»Mit der habe ich nichts zu schaffen … die ist einfach Volkes Stimme, aber das Volk ist immer gerecht.«

»Hören Sie, Marius, da habe ich andere Begriffe von der Gerechtigkeit.«

»Es ist besser, wenn einer leidet, als alle.«

»Marius«, sagte ich, »die Gerechtigkeit kommt aus dem Unendlichen.«

»Nein«, sagte er und deutete zur Erde, »die Gerechtigkeit kommt von da, man kann sie ebensogut mit der Rute finden wie das Gold oder das Wasser … denn das ist alles das gleiche … aber das ist schließlich auch die Unendlichkeit … die Berge sind unendlich groß, die Erde ist unendlich groß, und wenn man in sie hineinhorcht, hört man die Unendlichkeit …«

»Man soll da hineinhorchen«, sagte ich und deutete auf das Herz.

»Auch das Herz kommt aus der Erde«, stellte er fest, »und weil es in der Erde schlägt, deshalb hört man auch alles andere aus der Erde heraus … alle, alle hier«, fuhr er fort, »alle horchen in die Erde hinein … nur der Wetchy tut es nicht … sehen Sie, Herr Doctor, das ist die Gerechtigkeit.«

Nun war er aufgestanden in seiner ganzen Länge, ein Mann, aufgebaut auf seinen zwei Beinen, zwischen denen das Geschlecht wohnt, aufgebaut mit einem Thorax, an dem zwei Arme angebracht sind zum Greifen und nach der Erde fassen und zum Halten der Wünschelrute, aufgebaut mit einem Wirbelhals, auf dem der Kopf sitzt: und aus der Öffnung des Kopfes kam die Rede von der Gerechtigkeit, und der Mann glaubte daran.

Marius ging auf und ab, mit seinem langen und wiegenden Schritt, in dem noch der Schwung der Sense stak. Der Kies knirschte ein wenig, die Grillen zirpten; sonst hörte man nichts.

Dann fuhr er fort: »Alle müssen gemeinsam hineinhorchen, dann ist es die Gerechtigkeit … und wenn sie diese Gemeinsamkeit nicht wollen, so muß man sie dazu zwingen.«

»Sie wollen die Macht, Marius.«

»Ja, für die Gerechtigkeit.«

Hätte sich ein Lüftchen geregt, ich hätte ihn wahrscheinlich nicht weiter sprechen lassen; eine böse und närrische Mystik war in diesem Gerede, das spürte ich, so gut wie bei unserem ersten Zusammentreffen, aber ich war seltsam gelähmt, gelähmt war der Abend, in den dieser Tag mündete, und auch die Rede des Mannes kam wie aus einem gelähmten Mund, ja, als wäre sie den ganzen Körper hindurch aufgestiegen, von den Fußsohlen kommend, und als lief sie bloß oben willenlos über.

Nichtsdestoweniger sagte ich: »Wie soll diese Gemeinsamkeit aussehen? soll sie eine gemeinsame Goldexpedition sein?«

Er hörte nicht auf mich, er sagte: »Die Wahrheit …«

»Ja?«

»Die Wahrheit sinkt immer wieder in die Erde ein, es sind die Frauen, die immer wieder die Wahrheit schlucken …«

Schweigen.

»Sind die Frauen in der Erde, Marius?«

»Ja … aber sie geben ihr Wissen, das sie geschluckt haben nimmer her, sie geben bloß Kinder her … man muß ihnen ihr Wissen wegnehmen … sie schlucken, immerzu schlucken und saugen sie … doch ihre Zeit geht zu Ende, sie können nicht in die Erde horchen, weil sie selber in der Erde sind … ihre Zeit ist zu Ende, ihre Macht ist zu Ende, die Erde will nicht mehr.«

Ich hörte nur mehr Worte, die ich behielt und doch nicht verstand. Trotzdem war es, als ob die Erde unter uns einsänke, tiefer sänke in ihrer stillen Unbewegtheit, tiefer unter jedes Maß und unter das Meer einer Unendlichkeit, dessen nächtliche Wogen sich langsam und lautlos aufbäumten zu Bergeshöhen. Oben aber, auf der steinernen Kuppel des Himmels zeigten sich fahl die ersten Sterne, unbewegt auch sie.

»Der Berg ruft«, sagte Marius.

Und dann war er mit einem Male verschwunden.

Ich blieb sitzen. Die Dunkelheit floß von den Felsen herab, doch war es kein Fließen, sondern ein bewegungsloses Breiten und Ausbreiten, ein dunkler silberschwarzer Bart, der aus dem Berg herauswuchs, den Raum erfüllend, so dicht, daß die Sterne, obwohl sie sich mehrten, in flimmerloser Trübe kaum sichtbar wurden. Ich lauschte, die Stimme des Berges zu hören, die den Marius gerufen hatte, die Stimme des Vaters, der zur Erlösung ruft, allein ich vernahm nur das unbewegte und stumme Murmeln der Finsternis, das weiche Kriechen des Bartes. Über die Äste der Fichten und Tannen zogen die schwarzen Krebse und umspannten sie wie mit Spinnweben, auf daß sie in gefesselter Starrheit nicht fliehen könnten, schmal lang und trüb stieg die Mondessichel über die Wipfel, regungslos und zum Mähen bereit. Regungslos ich selber, schaute ich hinauf, schaute in den Schacht der Unendlichkeit, aufwärts oder abwärts oder gar nicht mehr schauend, ich wußte es nicht mehr, denn die letzte Tiefe ist da und dort bewegungslos, richtungslos und unverrückbar, nicht Mann mehr, noch Frau, ein Wissen nur noch, als letzter gemeinsamer Nenner, eingeboren allem menschlichen Wissen und doch nicht von ihm erfaßbar.

So saß ich in der Bewegungslosigkeit der Nacht, die tief und spät wurde. Die Mondessichel verschwand wieder hinter der Starrheit der Bäume, sie war schon längst verschwunden, als es donnerte. Es war ein fernes, seltsam gedämpftes Donnern, das aus der Richtung des Kupprons herkam, ein traumhaftes Donnern und trotzdem mich aus meinem Traum reißend. Ich erhob mich, um nach aufziehenden Wolken Ausschau zu halten, steif wie einer, der den ganzen Tag gemäht hat, ging ich auf den Weg hinaus, der ins Freie führte. Aber nirgends war eine Wolke zu erblicken; das Gewitter mußte hinter dem Kuppron stehen, meinte ich, aber nicht lange. Denn nun wiederholte sich das Rollen, und da wurde mir klar, daß es nicht hinter dem Berg, sondern aus dem Berg selber hervordrang; es war ein beklemmendes, sonderbar mattes Geräusch, das weich anhob, um rauh anzuschwellen und jäh wieder abzubrechen. Im nächsten Augenblick rasselten Ziegel von meinem Dach, ein seufzendes Knacken ging durch den ganzen Wald, als sei es um ihn geschehen, und dann erst spürte ich das ruckartige Schwanken des Bodens unter meinen Füßen, fühlte all die Hilflosigkeit, die vor keiner Naturgewalt so groß ist wie vor der des Erdbebens.

Ich stürzte ins Haus, in das Zimmer Karolinens, in dem auch das Kind schlief, drehte das Licht an und rief die Alte an: »Erdbeben, Karoline, in den Garten.« Die erleuchtete Lampe pendelte noch heftig hin und her, von der Decke fielen Stuckbrocken, und ich hatte das Kind genommen, um es hinauszutragen. Aber ehe ich noch bei der Haustüre war, erfolgte ein neuerlicher Stoß; das Haus knarrte im Gebälk, eine Tür sprang auf, in den Kaminen rieselte es, und ich hörte draußen wieder die Dachziegel fallen. Die Haustüre hatte sich verklemmt, ich mußte alle Kraft aufwenden, um sie aufzusprengen, und ich war froh, als ich mit dem Kinde draußen war. Aber nun erfolgte nichts mehr.

Rosa, von dem jähen Wecken erschreckt, greinte in meinen Armen, und ich überlegte, was jetzt zu geschehen hätte. Karoline schien offenbar Festtoilette zu Ehren des Erdbebens anzulegen, denn sie kam nicht zum Vorschein. Ich wollte nicht nochmals mit dem Kind hineingehen, aber ich konnte das weinende Geschöpf auch nicht allein heraußen lassen. So rief ich einigemale »Karoline«, freilich ohne eine Antwort zu erhalten. Alles blieb still, im Walde knackte es noch immer, es war als dehnte und streckte der Wald seine eingeschlafenen Glieder, ja, wirklich, es war, als sei die Bewegungslosigkeit der Welt jetzt aufgehoben, als erwachte sie aus einem Alptraum, und von ferne meldete sich die Andeutung eines Windhauches.

Während ich noch so ziemlich hilflos hin- und herüberlegte, kam Wetchy dahergelaufen:

»Was war das, Herr Doctor?« Er zitterte an allen Gliedern.

»Ich schätze ein Erdbeben … ist bei Ihnen was passiert?«

Nein, nichts sei passiert. Aber ob ich den fürchterlichen Lärm der Seilbahn nicht gehört hätte?

Erst jetzt erinnerte ich mich eines scharfen Pfeifens und Knirschens, das in das Knacken des Waldes hineingetönt hat. Warum es aus meinem Bewußtsein ausgeschaltet geblieben war, schien mir unerfindlich. Aber es war so.

»Sagen Sie, Wetchy, haben Sie das Kind auch herausgebracht?«

»Ja, die Frau sitzt mit ihm vor dem Haus.«

»Ist es eingepackt?«

»Sehr gut eingepackt … können wir ins Haus zurück?«

»Ich meine schon … aber passen Sie einen Augenblick auf die Rosa auf … nein, rühren Sie sie nicht an, sonst hat unsere ganze Quarantäne keinen Sinn … setzen Sie sich einfach zu ihr hin.«

Ich legte das Kind auf eine Bank und ging ins Haus. Vielleicht hatte die alte Karoline vor lauter Schreck der Schlag getroffen.

Er hatte sie nicht getroffen. Sie schlief ruhig in ihrem Bett, nicht ohne vorher vorsorglicherweise das Licht abgedreht zu haben. Wahrscheinlich wußte sie gar nicht, was vor sich gegangen war. Und das war wohl das klügste Verhalten, das man in solchen Fällen wählen konnte. Trotzdem wagte ich nicht, Rosa schon hereinzubringen.

»Bleiben Sie noch ein bißchen hier«, sagte ich also zu Wetchy, als ich wieder hinaustrat, »ich gehe hinüber, beruhige Ihre Frau und werde dann rasch mal im Dorf rekognoszieren … die Leute haben ja diese Dinge hier schon erlebt.«

Und so machte ich es auch. Zuerst besuchte ich Frau Wetchy, die mit dem Buben im Arm dasaß. Das Kind war gut zugedeckt; bei der warmen Nacht war nichts zu fürchten. Sodann ging ich ins Dorf hinüber.

In vielen Häusern war Licht. Ein paar Leute standen, mehr oder minder mangelhaft bekleidet, auf der Gasse herum. Sie waren nicht sonderlich aufgeregt. Ach ja, von Zeit zu Zeit gäbe es immer so etwas, heute sei es nur ein wenig ärger als sonst gewesen, aber in der Nacht sei es eben unheimlicher als bei Tage. Da beachte man dies kaum. Ich möge mich bloß entsinnen, vor vier Jahren, im Herbst. Ja, ich entsann mich; damals war ich allerdings im Unterdorf gewesen, und da hatte man beinahe nichts gemerkt. Ob noch mehr Stöße zu erwarten seien? Nein, das wäre nicht anzunehmen; natürlich tue der Berg, was er will, aber man habe ein Gefühl dafür.

Auch ich hatte dieses Gefühl. Die Luft wehte jetzt leicht und warm aus dem Tal herauf. Der Himmel war voll flimmernder Sommersterne. Eine schöne friedliche Nacht.

Im Berghof droben gab es gleichfalls erleuchtete Fenster. Ich wollte noch schnell zu Mutter Gisson sehen und war nicht wenig erstaunt, als ich vor ihrer Türe den Marius bemerkte. Er stand dort mit dem Bergmathias und, wie mir schien, in einem Wortwechsel, der freilich von ihm stürmischer als von dem bedächtigen Mathias geführt wurde.

»Bergmathias«, hörte ich ihn sagen, »der Berg hat gesprochen, die Zeit ist reif.«

»Ja«, antwortete der Mathias, »geredet hat er schon, aber daß du ihn in Ruh' lassen sollst, läßt er dir sagen.«

Marius befand sich zweifelsohne in einem beträchtlichen Erregungszustand; er fuhr sich in die Locken, wie dies Italiener zu tun pflegen, wenn sie die Verzweiflung überkommt. »Die Seilbahn ist gerissen«, schrie er, »ist das nicht Zeichen genug!?«

»So? die Seilbahn ist gerissen?«, sagte ich hinzutretend, »Waren Sie dabei, Marius?«

»Vor meinen Augen ist sie gerissen, vor meinen Augen hat es den Wagen hinabgeschleudert.« Seine Augen glänzten irr.

Ja, er war in der Richtung zur Seilbahn verschwunden. Habe ich deshalb ihr Zusammenbrechen nicht hören wollen?

»Die Bahn hat der Berg nie leiden mögen«, sagte der Mathias ruhig, »dazu hat er nicht dich gebraucht.«

Marius fauchte: »Gewarnt hat euch der Berg …«

»Ja«, versetzte der Mathias, »euch da drunten hat er gewarnt … er will in Ruhe gelassen werden … das kannst du auch denen im Unterdorf sagen …«

Mutter Gisson erschien beim Fenster, beugte sich über den blühenden Bart ihrer Hängenelken und lächelte freundlich heraus.

»Bist auch da, Herr Doctor«, sagte sie, »weil der Berg ein bissel gesprochen hat?«

Marius blitzte sie an: »Zu mir hat er gesprochen, seine Drohung hat er gesprochen, alle Berge drohen, die Erde droht, zu lange schon ist sie nicht versöhnt worden … die Weiberzeit ist zu Ende.«

»Ja«, sagte Mutter Gisson freundlich, »magst schon recht haben … es kommt keine schöne Zeit.«

Marius lachte mit seinen weißen Zähnen: »Macht das Fenster zu, Mutter … jetzt kommt die neue Zeit, jetzt kommt unser Wissen.«

»Ja«, sagte die Alte im Fenster, »ist schad drum.«

»Geh schlafen, Marius«, meinte der Bergmathias.

»Nein«, rief Marius, »sing', Bergmathias, sing' mit mir …«

Und er hob an:

»Die Seilbahn ist gerissen,

Jetzt kommt die neue Zeit …«

»Nun?« fragte er, als Mathias keine Anstalten zum Mitsingen machte.

»Du bist besoffen«, sagte der Bergmathias.

Marius wurde plötzlich ernst. »Schon möglich«, sagte er und wandte sich grußlos zum Gehen.

Aber schon nach wenigen Schritten sang er wieder »Die Bergbahn ist gerissen, Jetzt kommt die neue Zeit …«

Die paar Leute, die noch auf der Straße waren, sahen ihm erstaunt nach.

Mathias Gisson lachte: »So ein verfluchter Narr.«

»Ja«, sagte Mutter Gisson im Fenster, »ein Narr ist er, aber seine Zeit kommt jetzt.«

»Warum nicht gar, Mutter«, sagte ich, »weil ihm da unten ein paar hereinfallen?«

Der Bergmathias sagte: »Der Berg fällt nicht auf ihn herein.«

»Der Berg nicht, aber die Menschen«, sagte die Mutter.

»Und nur der Wetchy wird die Zeche bezahlen«, meinte ich.

»Zwischen ihm und dem Wetchy ist kein so großer Unterschied«, sagte sie, »deswegen haßt er ihn auch.«

Ich verstand sie nicht.

»Auch der Wetchy fürchtet sich vor mir«, sagte sie.

»Der fürchtet sich bald … jetzt sitzt er bei mir mit dem Kind … kann ich ihn heimschicken, Mutter?«

»Ja, kannst ruhig deine Leut' in die Betten stecken; heute kommt nichts mehr.«

»Danke, Mutter, das wollte ich nur wissen.«

Und so begab ich mich heim, schickte Wetchy nach Hause, legte Rosa in ihr Bett und ging selber schlafen.

Karoline aber war tagsdarauf sehr verwundert, als ich die Begebenheiten erzählte und sie wollte kein Wort davon glauben. Selbst vor den herabgefallenen Dachziegeln war sie noch nicht ganz überzeugt. Freilich war es ein so schöner Morgen geworden, daß man sich das Unheimliche nimmer vorstellen konnte. Der Wind war von Norden her aufgefrischt, man durfte mit einer Fortdauer des schönen Wetters rechnen, eine gute Ernte war zu erhoffen.


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