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Vorwort

Der Schnee liegt auf den Ästen des Fichtenwaldes draußen, er liegt in meinem Garten, er sitzt in den Felsritzen der Kuppronwand; Garten und Wald sehe ich, wenn ich zum Fenster hinausblicke, die Kuppronwand, an deren Abhang mein Haus liegt, kann ich nicht sehen, auch nicht von den Fenstern der Rückseite aus, sie ist vom Wald verdeckt, aber ihr Vorhandensein ist immerzu spürbar. Wer am Ufer des Meeres wohnt, vermag unter all seinen Gedanken kaum einen einzigen zu denken, in dem das Meer nicht mitgedacht wäre, und nicht anders verhält es sich für den, der sich am Ufer der großen Berge angesiedelt hat: alles was an seine Sinne dringt, jeder Ton, jede Farbe, jeder Vogelruf und jeder Sonnenstrahl, alles ist Echo der großen schweigenden Masse des ruhenden Berges, dessen Falten vom Lichte entzündet, von den Farben gemalt, von den Tönen umspült werden –, muß da der Mensch, er selber in seiner Seele immer nur wieder Vogelruf, Farbe und Sonnenstrahl und Nacht, muß er da nicht gleichfalls zum immerwährenden Echo jenes gewaltigen Schweigens werden? mitklingendes und widerklingendes Instrument, auf dem das Schweigen spielt?

Hier sitze ich, ein alternder Mann, ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das mir zugestoßen ist, und als könnte ich damit des Wissens und des Vergessens habhaft werden, durch das unser Leben hindurchläuft, auftauchend und wieder einsinkend und manchmal zur Gänze verschwindend, aufgesaugt von der Zeit und im Nichts verloren. War dies nicht auch der Grund gewesen, der mich vor Jahren aus der Stadt herausgetrieben hat, hierher in die Stille einer mäßigen Landpraxis, der mich den wissenschaftlichen Betrieb, in dem ich eingesponnen war, verlassen hieß, um eines anderen Wissens willen, das stärker werden sollte denn jegliches Vergessen? Jahr um Jahr habe ich dahin gebracht, als einer, dem das große Glück beschieden war, an dem unendlichen Bau der Wissenschaft mitzuarbeiten, an einem Wissen, das kaum mehr das meine war, sondern der Menschheit als solcher gehört, ich, ein bescheidenes Glied in der Kette der Werkenden, gleich ihnen allen, einen kleinen Stein nach dem anderen hinzutragend, immer nur das nächste Resultat sehend, dennoch gleich allen anderen die Unendlichkeit des Baues ahnend, beglückt und erleuchtet von diesem unendlichen Ziel, ich habe es im Stich gelassen, als wäre es der Turmbau von Babel, an dem ich beteiligt gewesen war, ich habe den Blick von solcher Unendlichkeit weggewendet, von einer Unendlichkeit, die nicht mir, sondern [der] Menschheit gehört, von einer Unendlichkeit, die das Gestern auslöscht und bloß das Morgen gelten läßt, und ich habe mich in eine kleine Arbeit zurückgezogen, die kein Erkennen mehr ist, sondern Leben und Mitleben und hie und da vielleicht Hilfe, als könnte ich dadurch mein Gestern retten, da das Morgen für mich immer kürzer wird. Wollte ich in die Unordnung des Unmittelbaren? wollte ich bloß dem Systematischen der Erkenntnis enteilen? nun liegt es schon lange Jahre zurück, viele Jahre, und ich habe nur mehr eine ferne Erinnerung an die Stadt und an den Ekel vor dem städtischen Leben, der mich mit einem Male gepackt hat, an den Ekel vor dieser Pünktlichkeit, mit der die Trambahnen verkehrten und vieles geregelt war, vor dieser Gesetzlichkeit, die das Wort überflüssig machte, stumm die Arbeit im Laboratorium und in der Klinik, stumm die Einlieferung der Kranken, stumm beinahe die Maschinerie des Gesundpflegens – kaum konnte man es Pflegen nennen – und der Krankheitsbekämpfung, stumm die Sprache, in der ich mich, in der wir uns verständigten, stumm wie das Unendliche, in dem das Ziel all jenes Geschehens lag und heute noch liegt, heute freilich, ohne daß ich ihm noch zustrebe. Es mag sein, daß in jenem Ekel vor der städtischen Ordnung die Angst enthalten gewesen war, die Vielfalt des Lebens zu verlieren, denn so vielfältig der Mensch auch ist, er kann seine Vielfalt nicht mehr nützen, wenn er einmal eine Bahn eingeschlagen und sich auf sie festgelegt hat; er bleibt in ihr und nichts kann ihn dann mehr entreißen. Doch wenn es sich vielleicht auch so abgespielt haben mag, was ich freilich, da es so ferne ist wie ein längst enteilter Traum, nicht mehr zu behaupten wagen würde, was habe ich dagegen eingetauscht? liegt die Stadt, die ich geflohen habe, nicht ebenso in ihrer Landschaft wie das Dorf, in dem ich jetzt wirke? ist ihre Ordnung nicht gleichfalls ein Stück der großen Menschlichkeit? Suchte ich die Einsamkeit? Ich gehe allein durch die Wälder, gehe allein über die Berge, und trotzdem sind mir die Gemarkungen der Felder, ist mir das Sein in den Ställen und Höfen, ist mir das Wissen um die alten Bergwerksstollen tief unter mir im Berge, ist mir all dieses menschliche Schaffen und Wesen zwischen Getier und Pflanze, eine größere Beruhigung als diese selber, ja, ein Büchsenschuß im Walde läßt mich wieder als Glied der menschlichen Ordnung und des Seins fühlen, obwohl es in sich beschlossen und ohne Ziel ist. Warum empfand ich die Ordnung in der Stadt nicht mehr als Ordnung, sondern nur mehr als Überdruß des Menschen an sich selbst, als ein lästiges Unwissen, während ich hier voll Anteilnahme bin? Ich habe das Erkennen verlassen, um ein Wissen zu suchen, das stärker sein soll als die Erkenntnis, stark genug, um die Zeitspanne, die dem Menschen beschieden ist, sich mit seinen Füßen dahin und dorthin zu bewegen, seine Augen da und dort ruhen zu lassen, um diese Zeitspanne eines kurzen Erdendaseins mit einem fast fröhlichen Warten auszufüllen, ein Wissen, enthoben dem Vergessen, erfüllt von dem Gestern und dem Morgen, erfüllt von dem Sinn des Gewesenen und des Künftigen: dies war meine Hoffnung gewesen. Hat sich solche Hoffnung erfüllt? Gewiß, auch im Vergessen geht nichts verloren, und alles, was je vorhanden gewesen, es ist heute ebenso in mir vorhanden wie einstens; unser Schiff wird immer schwerer, je mehr es sich dem Hafen nähert, kaum mehr ein Schiff, sondern nur mehr Fracht, kaum mehr in Fahrt, sondern unbewegt auf dem ruhenden Spiegel des Abends, so läuft es ein, gewichtlos trotz übergroßer Ladung, und niemand kann sagen, ob es sinkt oder in den Wolken sich verflüchtigt, aber wir kennen nicht die Fracht, wir kennen nicht den Hafen, unergründlich ist das Gewässer, das wir befahren haben, unergründlich der Himmel, der sich darüber wölbt, unergründlich ist unser eigenes Wissen, das wachsend uns entschwindet. Jahr um Jahr ist vergangen, seitdem ich mich hierher geflüchtet habe, voll Ungeduld, die letzte Zeitspanne auszunützen, geflüchtet vor der schrittweisen Erkenntnis der geduldigen Forschungsarbeit wissenschaftlichen Lebens, zurückgegeben meinem eigenen Leben, glücklos, dennoch glückhaft, da ich mein Wissen wachsen fühlte, Vergangenes und Zukünftiges zusammenwuchs, dennoch so unerfaßbar, daß es nur wie ein Ahnen war, ein Gewinnen und Verlieren zugleich. Und da ich es jetzt niederschreiben will, das Unvergeßliche im Vergessenen, da ich es nachzeichnen will, das Unsichtbare im Sichtbaren, so tue ich es mit aller Hoffnung des jungen und aller Hoffnungslosigkeit des altgewordenen Menschen, den Sinn des Geschehenen und noch zu Geschehenden zu erhaschen, ehe es zu spät ist.

Und ich schreibe dies nieder, weil draußen der Schnee fällt und weil es dunkelt, wiewohl es noch früh am Nachmittag ist. Und eigentlich möchte ich bloß aufschreiben, als könnte ich es sonst vergessen, daß hier nicht immer Schnee gelegen hat, sondern daß vielerlei in diesem Jahr vonstatten gegangen ist, Blüte und Frucht und der Harzduft des Waldes, Wasser, das über das Gestein der Kuppronwand tropfte und rieselte, Wind, der von ferne kam und wieder davonzog, Licht, das brannte und wieder erlosch, und Himmel, der Tag war und wieder Nacht. Denn dies alles geschah, während mein Herz klopfte, es geschahen Wind, Sonne und Wolken, und sie flossen durch mein Herz und meine Hände.


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