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Der August neigte sich seinem Ende zu, die Ernte war eingebracht, Irmgard war nun bei der Großmutter im Berghof. Zur Obsternte, die jetzt noch ausständig ist, braucht man sie unten nicht mehr. Das Erntewetter hatte sich gut gehalten, heiße Tage und helle große Nächte voller Sternschnuppen. Jetzt durfte es ruhig regnen. Aber es blieb noch weiter schön.
Ich saß mit Suck im abendlichen Garten. Seine Buben waren zu Rosa auf Besuch gekommen, und er, von der Waldarbeit heimkehrend, holte sie ab.
Rosa hatte sich mit dem ältesten Suckbuben, dem Albert, im Rasen niedergelassen und verfertigte Graskränze. Um die beiden kleineren kümmerte sie sich nicht, sehr zum Schmerz des jüngsten, der ihr überallhin nachlief.
Suck war wieder bei seinem beliebtesten Thema: »Schießen hätten Sie uns lassen sollen, Herr Doctor.«
»Aber, Suck, schließlich wird diese Komödie doch versanden …«
Er machte sein weisestes Gesicht: »Herr Doctor, wenn einer die Axt gegen dich aufhebt, wirst auch nicht stillhalten …« Und zur Demonstration erhob er seine Baumaxt, die neben ihm lehnte.
»Ja, Suck, nur wird die Axt des Wenzels ebensowenig losgehen, wie diese hier …«
»Das kann man nie wissen … wer zuerst zuschlägt, hat gewonnen … und einen schlechten Kerl muß man unschädlich machen.«
Er war aufgestanden, nicht nur, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sondern auch in einem Anflug wilden Zorns, über den er allerdings im gleichen Augenblick selber lachen mußte.
»Das ganze Unterdorf haben die beiden schlechten Kerle schon aufgewiegelt …«
»Ist der Marius auch so schlecht?«
»Ärger … der wird erst schlecht, der ist noch lange nicht damit fertig …«
Mir fiel ein, daß Mutter Gisson etwas Ähnliches über ihn gesagt hatte. Indes zuckte ich bloß die Achsel: »Mein Gott, ein Narr findet viele Narren …«
»Die Mutter Gisson«, sonderbarerweise dachte auch er an sie, »hat schon recht gehabt, daß sie die Irmgard heraufgenommen hat …«
»Natürlich.«
Er hat seinen heroischen Tag und geht axtschwenkend auf und ab: »Die Mutter Gisson weiß was sie tut, die Irmgard gehört zu uns.«
Dann kommandiert er: »Buben, heimgehen!«
Rosa, ob des Kommandos erschreckt, bekam es mit der Angst vor dem axtschwenkenden Mann und begann zu heulen. Sogleich legte Suck die Axt hin, nahm das heulende Kind, küßte es auf die Nasenspitze, und weil dies noch nichts fruchtete, begab er sich auf alle viere und ließ sie aufsitzen. So ging es einigemale den Rasen herum, dann bockte er und warf die Reiterin vorsichtig ab. Was ich erwartet hatte, traf prompt ein: Rosa sagte »Bitte noch einmal«, kletterte wieder auf seinen Rücken, und der heroische Suck mußte nochmals von vorne anfangen. Schließlich befreite ich ihn und placierte Rosa wieder zu ihren Gras kränzen.
»Das ist kein schönes Kind«, sagte er, als er zu mir zurückkehrte, »aber Kind ist Kind.«
Da erschien Wetchy. Kaum sah er Rosa, da machte er schon entsetzte Augen: »Mädi, komm sofort, das Gras ist feucht, du wirst dich erkälten …«, dann aber erschwieg er erschreckt, weil er in meine medizinische Oberaufsicht eingegriffen hatte, und er begann zu stottern: »… meinen Sie nicht auch, Herr Doctor … es wird nämlich kühl … nämlich recht kühl …«
»Nein, Wetchy, das meine ich durchaus nicht.«
»So …«, er war enttäuscht und schuldbewußt.
»Na, kränken Sie sich nicht, Wetchy … was macht der Kleine?«
»Wenn Sie vielleicht doch noch einmal hinüberkommen wollten, Herr Doctor …«
»Ist was los?« Ich war ein wenig besorgt, denn der Kleine kam nicht aufs gleich; jetzt hatte er mit den Nieren zu tun. Dies war auch der Grund, der mich das Mädel bei mir behalten ließ. Die arme kleine Frau drüben wußte ohnehin nicht, wo ihr der Kopf stand, und mit der leichten Gewöhnbarkeit aller Pechvögel merkten die beiden jetzt kaum mehr die Abwesenheit der Tochter.
»Das Fieber ist wieder gestiegen …«
»Nun, jetzt am Abend … aber ich will gerne nochmals kommen.«
Suck sagte bedauernd: »Ja, die Kinder.«
Ich meinte: »Na, Suck, beklag' dich nur nicht, deine Rangen geben dem Doctor nichts zu verdienen, die geraten darin dem Vater nach …«
»Da haben sie schon was zum Nachgeraten«, lachte Suck.
»Prächtige Söhne, prächtige Söhne«, ließ Wetchy sich vernehmen.
»Halt's Maul, Wetchy«, sagte Suck und gab ihm für diese Äußerung, ich muß gestehen, auch ein wenig zu meiner Befriedigung, eins über die Schulter, daß es krachte.
»Böser Mann«, ertönte zu unserer aller Überraschung das Kinderstimmchen Rosas neben uns. Sie war durch die Anwesenheit ihres Vaters kühn geworden, und seine Partei nehmend deutete sie mit ihrem kleinen schwarzen Finger nach Suck.
»Wirst du gleich still sein«, wies sie Wetchy ängstlich zurecht, »das ist ein braver Mann, ein sehr braver Mann.« Oder richtiger, er sagte nicht brav, sondern bav.
»Ja«, sagte Suck beruhigend, »ich, baver Mann.«
»Nur nicht gar zu viel einbilden, Suck! dem Wetchy brennt noch die Schulter.«
»Ja«, sagte Wetchy, durch mich ermutigt, und rieb sich die Schulter, lächelte aber dazu freundlich, »alle behandeln mich schlecht … sogar Sie, Herr Suck …«
Suck wurde ernst: »Laß dir nicht zu viel gefallen … zeig denen einmal die Zähne, und Ruhe wirst haben.«
»Was nützt es mir«, klagte der Agent, »wenn sie mich aus dem Haus rausschmeißen, was nützt es mir …«
»Wir werden dich schon nicht rausschmeißen lassen«, erklärte Suck, »schließlich gehören auch wir zur Gemeinde …«
»Aber der Herr Wenzel …«
»Hör mir mit dem Wenzel auf«, sagte Suck grob.
»Was ist mit dem Wenzel?« frage ich.
Der kleine Agent schluckt: »Er sagt … er sagt, daß noch ein Erdbeben kommen und das ganze Dorf delogieren wird, wenn ich nicht delogiert werde.«
»Das ist zu blöd«, entschied ich, »kommen Sie, Wetchy, wir wollen lieber nach dem Patienten schauen …«
Ich ließ ihn vorgehen, denn Suck hielt mich am Ärmel zurück.
Es war dunkel geworden, und im Haus flammt hinter dem Küchenfenster die Lampe auf; ein gelbes Viereck fällt auf den Kies, dann wird dort ein Schatten sichtbar, es ist Karoline, die sich aus dem Fenster beugt und »Rosa« ruft.
»Da hat man's«, sagte Suck, »das ist nicht auf dem Wenzel seinen Mist gewachsen … das ist der Marius … aber er soll sich hüten, der Berg wird auch ihn noch erwischen.«
Er sagte dies so ernst, daß mir ganz unheimlich zumute wurde, obwohl mir die Verquickung von Gemeindepolitik und Bergzauber lächerlich genug vorkam.
»Na«, sagte ich, »lassen wir den Berg aus dem Spiel.«
Suck lachte wieder: »Gut, Herr Doctor.«
Beinahe war es jetzt völlig dunkel. Die Gräser und Blätter wurden durch einen kühlen schwarzen Luftzug bewegt, wurden wieder still, wurden wieder bewegt. Wir lauschten beide. Dann ging Suck mit seinen Buben, und ich ging zu Wetchy.
Wetchy erwartete mich schon an der Haustüre.
Es war wirklich eine böse Geschichte. Mit der Nierenentzündung schien es zwar besser zu sein, aber jetzt griff das Kind sich an das Ohr und an den Kopf, und richtig, in dem einen Mittelohr war zweifelsohne eine Reizung vorhanden. Hatte der Wenzel nicht recht, als er meinte, es dürfte derlei nicht zur Welt kommen? Fast wurde ich zornig vor lauter Besorgnis, zornig vor Eifer, das Kind unter allen Umständen durchzubringen. Versäumt war schließlich bisher nichts worden; immerhin mußte man bei einem Pechvogel von Wetchys Art auf alles gefaßt sein. Allerdings ließ sich im Augenblick gar nichts entscheiden, das konnte noch Stunden, ja einen Tag dauern; jetzt hieß es nur warm halten und ein wenig gegen das Fieber ankämpfen. Der kleine Kerl lag apathisch da und wimmerte von Zeit zu Zeit. Ich mußte mir ihn jedenfalls später nochmals anschauen: »Ich bringe Ihnen dann noch eine Medizin«, sagte ich und kehrte heim.
Ich ließ mir Zeit. Saß noch im Garten. Überlegte, ob ich am Morgen gleich das Sanitätsauto bestellen sollte. Drei Stunden Autofahrt ins Kreiskrankenhaus; eine Trommelfellöffnung könnte ich wohl selber durchführen, aber man mußte mit der Notwendigkeit einer Trepanation rechnen. Der Wald war still; auf ein paar Gebüschen da und dort leuchtete ein Glühwürmchen, im Hause Wetchys wurde Wasser in einen Kübel gegossen, dann wurde dort ein Fenster geöffnet, man hörte das dünne Zittern des Glases und hierauf das Einhängen der Fensterhaken. Eine Sternschnuppe fiel, verschwand hinter den Fichten. Da stand ich endlich auf, es mochte etwa zehn Uhr gewesen sein, klopfte meine Pfeife aus und ging hinüber.
Das Licht in der Krankenstube war gedämpft, die Luft roch säuerlich, ich zog mir einen Stuhl zum Bett und wartete. Frau Wetchy, müde beim Fenster sitzend, betrachtete mich mit vergehenden, furchterfüllten Augen. Wetchy selber war schlafen gegangen; er hatte die letzte Nacht durchwacht, und sie wechselten ab.
»Wollen Sie nicht ruhen, so lange ich da bin?« frage ich.
»Ach nein«, lautete die betrübte Antwort.
So saßen wir da, und ich fühlte mich alt. Von rechtswegen hätte ich mich entfernen müssen, um nicht durch meine Anwesenheit den Eindruck zu erwecken, daß die Dinge noch ärger stünden, als sie ohnehin waren. Aber ein seltsames Gefühl, ich könnte alles zum Guten wenden, wenn ich nur ausharrte, hielt mich zurück; es war mir, als könnte ich, ich alternder und doch schon etwas beleibter Mann, mit meinem Willen diesem Kindeskörper vorwärts helfen, vorwärts helfen zu einer Krise, aus der er sieghaft hervorgehen würde, und es war nicht Güte, und es war nicht Liebe, die mich hier zurückhielt und mich Krankenpflegerdienste verrichten ließ, ja, es war nicht einmal ärztlicher Ehrgeiz, sondern weit eher eine Art Kampfgeist, freilich ein etwas schläfriger Kampfgeist, und doch der beharrlichste, denn der Automatismus der Müdigkeit und des Halbschlafs, in den ich schließlich geriet, löste nicht nur das Bewußtsein ein wenig auf, sondern entfesselt auch Energien und bringt sie zu einem tranceartigen Eigenleben, wie es bei Tage nicht zu eigen ist.
Es war etwa vier Uhr Morgen, als ich Trapp drüben anschlagen hörte. Und in meinem herabgeminderten Bewußtseinszustand war es mir, als mahnte er mich freundschaftlich, doch endlich schlafen zu gehen. Schließlich hatte er recht. Wie lange es bis zur entscheidenden Krisis bei dem Buben noch dauern wird, war nicht abzusehen; was ich leisten konnte, hatte ich geleistet, und ewig konnte ich da nicht sitzen bleiben. Ich erhob mich.
Frau Wetchy, die mich unablässig beobachtete, fragte: »Geht es besser?«
»Hoffentlich, kleine Frau, Sie sehen, er schläft. Wecken Sie ihn nicht.«
Dann ging ich.
Es war noch dunkel. Der Wald lag noch in nächtlicher Erstarrung. Doch als ich aus der Haustüre trat, kamen mir zwei weibliche Gestalten entgegen. Dies also hatte Trapp gemeldet. Ich ließ meine Taschenlaterne aufleuchten. Es waren Mutter Gisson und Irmgard. Sofort wußte ich: sie waren auf dem Weg zur Kräutersuche.
»Guten Morgen, Mutter, also für meinen nächstjährigen Schnaps … brav von Euch.«
»Ja«, sagte sie fröhlich, »jetzt muß ihn die Irmgard lernen … wenn ich nimmer da bin.«
»Unsinn, Mutter.«
»Streit' nicht mit mir bei nachtschlafender Zeit … was machst denn du da? geht's dem Buben so schlecht?«
»Nicht eben großartig … eigentlich könntet Ihr ihn Euch mal anschauen …«
Sie machte ein etwas komisch unangenehmes Gesicht, eigentlich eines, das ich an ihr nicht kannte: »Ich mag die Leute nicht recht …«, doch dann fügte sie hinzu, »aber schließlich, Kind ist Kind.«
In Anbetracht der in den Gesichtern der Erwachsenen eingegrabenen und erstarrten Dummheit, sind Kinder tatsächlich ja noch das Erträglichste.
»Ja«, sagte ich, »schaut ihn Euch an, Mutter … was tragt Ihr denn da in die Berge?« und ich deutete auf ein ziemlich schweres Bündel, das Irmgard in der Hand hielt.
Mutter Gisson griff in das Bündel, holte etwas heraus und hielt es mir hin.
Ich leuchtete mit der Taschenlampe darauf: es war Korn, seltsam goldbraun in dem unmittelbar darauf fallenden elektrischen Licht, beinahe feucht glänzend.
»Neues Korn«, sagte ich und verstand nicht, welche Bewandtnis es damit haben sollte.
»Wenn der Berg uns die Kräuter gibt, so[ll] er auch was dafür kriegen … diesmal wird's ihm die Irmgard geben.«
»Sie war ja die Bergbraut.«
»Tut das immer die Bergbraut?«
»Wenn sie Kräuter holt, bestimmt.«
»Und der Berg nimmt das Korn?«
»Wo du ein Kraut findest, mußt ein Körndel hinlegen, so gehört sich's … und auch dem Wasser mußt du eins geben … der Mensch soll nicht undankbar sein.« Mutter Gisson lachte leise.
»Und davon kommt mein Schnaps?«
»Ja, auch dein Schnaps.«
»Viel Glück, Mutter Gisson, viel Glück Irmgard.«
Sie gingen weiter und ich ins Bett.
Gegen acht Uhr, ich war eben aufgestanden, läutete das Telephon. Ich möge doch zu Wetchy hinüberschicken, damit er ins Dorf hinunterkomme. Beim Dreschmaschinenmotor sei was passiert. Wetchy ist auch der Agent der Dreschmaschinenfabrik. Daher.
Ich schickte Karoline hinüber und ließ gleichzeitig fragen, wie es dem Buben ginge.
Wetchy kam nach wenigen Minuten.
»Was macht der Bub?«
»Er schläft, Herr Doctor … ist das gut?«
»Ich glaube, ja.«
»Kann ich ruhig weggehen … oder soll ich vielleicht lieber nur telephonieren?«
»Sie können ruhig hinunter.«
»Jetzt rufen sie mich unten«, erklärte er beleidigt, »jetzt werde ich wieder der ›Herr Wetchy‹ sein, aber sonst rufen sie mir auf offener Straße ›Drahtloser‹ nach … auf offener Straße …«
»Machen Sie sich nichts draus, Wetchy …«
»Soll ich vielleicht nicht doch lieber nur …«
»Nein, machen Sie, daß Sie weiterkommen …«
Er verschwand.
Es war merkwürdig, daß auch ich diesen braven, fleißigen kleinen Mann eigentlich nicht leiden mochte. Vielleicht hing dies auch mit der Art seiner Beschäftigung zusammen, Maschinenvertreter, Versicherungsagent, Radiohändler, und weiß Gott, was er noch alles tat, um sich über Wasser zu halten, eine Vielfalt von Beschäftigung und Geschäftigkeit, die trotzdem kein Ganzes bildete, keinen Beruf, der sich dem Rhythmus einer gottgegebenen Arbeit eingliederte. Gewiß, auch meine Arbeit ist dem Zufall anheimgegeben, sie führt einmal zu diesem Krankenbett, einmal zu jenem, sie besteht aus zahnärztlichen und aus geburtshilflichen und dann wieder aus chirurgischen Verrichtungen, wie es sich eben bei einem Landarzt ergibt, ihr ist nicht das Gleichmaß von Ebbe und Flut gegeben, das das Leben der Erde und des Bauern bestimmt, doch ihr Hintergrund ist der große Rhythmus von Geburt und Tod, ihm bin ich Untertan, selbst dann, wenn ich nur Zahnplomben anfertige, und von ihm beziehe ich die Würde meines Schaffens, daß es nicht sinnlos über die Erde dahingehe.
Im übrigen war es ein Tag guter Zuversicht. Mag sein, weil Mutter Gisson Körner im Gebirge streute, mag sein, weil mir meine Nachtwache als nicht aussichtslos erschien. Ich ließ mir Zeit, wie einer, der auf etwas Gutes wartet, und es war schon heller Vormittag, als ich hinüber ging, um nach dem Kinde zu sehen. Und tatsächlich, der Aspekt hatte sich gebessert. Das Kind lag mit hellen Augen in seinem Bett, es war fieberfrei und nichts tat ihm weh. Und weil der Mensch so ist, bemerkte ich nun auch den Wind, der durch das geöffnete Fenster hereinströmte, einen freundlichen frischen Wind, in dem schon Herbstliches spürbar war.
»Fein«, sagte ich, »fein, kleine Frau.«
Sie begann zu weinen; nach einer durchwachten Nacht kann einen das Weinen leicht packen, Angenehmes und Unangenehmes, es geht in die Augen, und man muß sich schneuzen.
Als ich das Haus verließ, kam Wetchy gerade aus dem Dorf zurück.
Ich rief ihm zu: »Dem Buben geht es besser.«
Er blieb stehen, faltete fromm die Hände: »Lieber, lieber Gott und alle Heiligen, lieber Gott ich danke Dir.«
»Na, kommen Sie her, Wetchy.« Ich war gerührt.
Doch er war schon wieder erschreckt, weil er den lieben Gott und alle Heiligen mir vorgezogen und ihnen zuerst gedankt hatte: »Nichts für ungut, Herr Doctor … ich [bin] ja so dankbar, so dankbar …« Und wir schüttelten uns die Hände.
»Also, was ist da unten passiert?«
Er war noch zu benommen, um mir die Sache folgerichtig erzählen zu können. Ja, in er Nacht sei das Dreschmaschinenhaus aufgebrochen worden und irgend ein Lausbub habe einen Metallstreifen in die Kontakte des Motors gesteckt. Und als sie heute beim Drusch den Motor hatten anlassen wollen, da sei die Bescherung da gewesen, Kurzschluß und alle Wicklungen durchgebrannt.
»So eine Bescherung … da wird jetzt wohl mit der Hand gedroschen werden müssen?«
»Ach nein … deswegen haben sie mich ja hinunter geholt … ich bin ja der Vertreter von Clayton …«
»Was? Sie können Motoren reparieren? … das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«
»Nein, das kann ich nicht … ich bin ja bloß der Vertreter … aber ich habe telegraphiert, ein ausführliches Telegramm, der Motor muß ja ganz frisch bewickelt werden … nein, es muß ein Ersatzmotor geschickt werden, per Auto, morgen ist er da.«
»Na, da verlohnt sich der Handdrusch nicht.«
»Nein, durchaus nicht.«
»Hoffentlich verdienen Sie was daran.«
»Nein, nein, an Unglücksfällen möchte ich auch nicht verdienen.«
»Hat man irgend einen Verdacht?«
Wetchy machte eine Geste, andeutend, daß jedes Suchen nach dem Übeltäter hoffnungslos wäre.
Dann sagte er: »Es hat ja niemand ein Interesse daran … die Druschgenossenschaft ist gegen Bruchschaden versichert, die Reparatur wird von der Assekuranz getragen … und wenn auch die Versicherungsgesellschaft die Anzeige erstatten sollte, hier wird sich keiner finden, der ihr helfen wird … es freuen sich ja nur alle, daß die Gesellschaft einmal tüchtig zahlen muß … das weiß auch die Gendarmerie.«
»Das ist freilich etwas anderes.«
»Ich habe ja selber die Assekuranz für die Maschinen abgeschlossen«, meinte er mit einigem Stolz.
»Dann können Sie sich allerdings nicht beklagen.«
»Nein«, sagte er demütig.
»Aber haben Sie selber irgend einen Verdacht …?«
»Ich will damit nichts zu tun haben«, wehrte er ängstlich ab. Plötzlich jedoch rollte er seine wasserblauen Augen: »Aber auf der Straße hat der Sabest Peter mir die Zunge herausgestreckt und ›Drahtloser‹ hat er geschrieen …«
»Was meinen Sie, Wetchy, könnte es nicht der Peter gewesen sein …?«
»Nein, nein, ich meine gar nichts, ich will lieber von nichts wissen …«
»Und wie hat sich der Wenzel verhalten?«
»Der Wenzel? … ja, der ist dabei gestanden und hat gelacht …«
»Wird schon stimmen«, sagte ich, »na, Wetchy, gehen Sie lieber zu Ihrem Buben hinein …«
Er war ganz erstaunt: »Daß ich das vergessen konnte!« Und er lief ins Haus.
Als mir das Leid um den Tod der Suck Anna widerfuhr und die Freude über die Errettung des Wetchy-Buben, da wußte ich nicht, daß beides, Leid wie Freude, in einem Erlebnis verankert war, das ich vor mehr als fünfzehn Jahren hatte. Das Bild jener Frau, so tief in meine Erinnerung eingeatmet, daß diese davon einen neuen Untergrund erhalten hatte, unauslöschlich, unaustilgbar, mochte ich mir auch alle Mühe gegeben haben, es auszutilgen, dieses Bild ist nun wieder zur Gegenwart geworden, und nicht nur als verschwimmender Untergrund, sondern hart und plastisch steht es im Raume des Gedächtnisses.
Und ich sehe diese Frau, wie [ich] sie zum ersten Male sah, [wie sie,] aus dem Direktionsgebäude des Spitals kommend, mit langen, etwas schwingenden, beinahe unweiblichen Schritten, einen leichten, nicht mehr ganz tadellosen Handkoffer tragend, durchaus bürgerlich in ihrem Gepräge, dennoch von einem Hauch Über-Bürgerlichkeit umgeben, den Spitalsgarten durchquerend, dem Pavillon der Kinderabteilung zustrebt und, behindert durch das Köfferchen, die schwere, durch den Schließapparat ohnehin etwas gehemmte Pavillonstüre nicht ohne Mühe öffnet. Es war an einem ersten Frühlingstag nach einem schweren grauen Winter gewesen, und als sie hinter der leise zufallenden und schließlich mit einem sanften Knacksen einschnappenden Türe verschwunden war, war in dem Garten das junge Grün des Flieders und der Kastanienbäume geblieben. So sehe ich sie heute vor mir.
Ich hatte sie damals für eine der Mütter gehalten, die ihre Kinder besuchen; bald natürlich stellte es sich heraus, daß sie eine neuaufgenommene Ärztin war.
Als der Primararzt auf Urlaub ging und ich als Nächstrangiger üblicherweise seine Vertretung übernahm, kam ich mit ihr in nähere berufliche Berührung. Ihre fachliche Tüchtigkeit war bemerkenswert; wissensreich, entschlußfähig und von einer fast zornigen Autorität, hatte sie, die jüngste Sekundarärztin, unmerklich die Herrschaft über die Abteilung an sich gezogen ihre beiden Kollegen bedeuteten allerdings nicht viel und der Leiter, Professor M., war schon zu alt, um nicht froh zu sein, nach den Visiten wieder heimzukommen –, die Schwestern und das Personal gehorchten ihr auf den Wink, aber mehr als dies alles fiel in die Waagschale, daß sie den sehr seltsamen Typ des geborenen Arztes darstellte: hellseherisch sicher in der Diagnose und wohl kraft solcher Intuition von vorneherein mit dem Kranken befreundet, sein innerer Bundesgenosse, und dies so sehr, daß selbst die Kinder davon ergriffen wurden und sie sich, weit von den üblichen Kindertändeleien entfernt, sondern weit eher zornbereit und immerzu stirnrunzelnd [nur] an ein Bett zu setzen brauchte, um den kleinen Patienten ruhig und glücklich zu machen. Wenn sie prüfend und stirnrunzelnd durch einen Saal ging, schaute ihr eine lange Reihe von Augenpaaren erwartungsvoll nach.
Von den Kindern hatte sie sich Dr. Barbara nennen lassen, und dieser Name war im Wege der Pflegerinnen dann vom ganzen Hause übernommen worden.
Während der Zeit meiner Anstaltsleitung hatte ich manchmal kleine Kontroversen mit ihrem unbändigen Autoritätswillen, kam aber mit ihr im allgemeinen recht gut aus, da sie merkte, daß ich ihr Können und Wissen respektierte; wir hielten eine gute männliche, oder richtiger geschlechtsfreie Arbeitsgemeinschaft, und im Grunde hätte ich, wenn ich mir die Frage überhaupt vorgelegt hätte, diese Frau, die da stirnrunzelnd, nachdenklich, energisch, unkokett in ihrem weißen Mantel sachlich prompte Arbeit verrichtete, eher als männlichen Typus bezeichnet. So blieb es bis zu meinem letzten Inspektionsrundgang; der Urlaub des Primarius war abgelaufen und ich sollte den meinen antreten. Wir hatten eben wieder eine Diskussion über die Operationsreife eines Falles gehabt – denn allzuoft hatte ich die Überflüssigkeit chirurgischer Eingriffe miterlebt –, sie hatte sich diesmal untergeordnet und dem Zuwarten eingewilligt, und ich verabschiedete mich von ihr: »Na, Doctor Barbara, wir brauchen nicht Abschied nehmen; im Laboratorium werden Sie mir ja oft genug Ihre Aufwartung machen.« – »Es wird sich dazu schon Gelegenheit ergeben«, erwiderte sie, mürrisch noch, weil sie nachgegeben hatte, und die schlichtgescheitelten Haare glattstreichend. Warum ich in diesem Augenblick sehe, daß diese Hand eine Frauenhand ist, so sehr weiblich, wie eine Frauenhand nur sein kann, das wird für mich ewig unergründlich bleiben; seitdem mir meine Mutter über die Haare gestrichen hatte, war es die erste wahrhaft weibliche Hand, die ich wieder sah, und dieser Eindruck ist mir seitdem geblieben. Und ich sagte: »Sie sind eine ausgezeichnete Ärztin, Doctor Barbara, aber Sie wären eine noch bessere Mutter.« – »Das erste fällt unter Ihre Kompetenz und freut mich«, lachte sie und ging weg.
Damals war Frühsommer. Die Kastanien im Spitalsgarten standen noch in Blüte, doch ihre Pracht war schon etwas müde und wartete auf den nächsten Gewitterregen, der sie endgültig vernichten sollte. Als ich an jenem Abend in meiner Wohnung oberhalb des Spitalslaboratoriums am Fenster lehnte, auf die Bäume hinunterschaute und über sie hinweg auf das müdgraue Dächermeer der Stadt, das sich langsam im Abend auflöste, da war dieser Abend bis zu den weiten Höhen am Horizontrande dämmernd von einem Antlitz erfüllt, elfenbeinfarbig, elfenbeinbraun unter teerschwarzen rotbräunlichen Haaren, erlichtet von dämmergrauen zornbereiten Augen, und der Abend war wie eine unendlich weiche, unendliche weibliche Hand, die sich auf den Scheitel der Welt legt.
Es war keine Vision, es war eine zweite Wirklichkeit, die plötzlich in das Sichtbare eingezogen war, schön und stirnrunzelnd, und so unabweisbar, daß ich froh war, am nächsten Tag meinen Urlaub antreten zu können. Ich bin zweiundvierzig, sie achtundzwanzig, dachte ich, ich bin zu alt für sie; sie ist ein Arzt wie ich, ohne Illusionen; das Ärztliche ist Schicksal, nicht Beruf, die Vorstellungswelt des Arztes ist schicksalsmäßig eine andere, vom Vorstellungshaften her wird Beruf zum Schicksal, wir sind von Todesehrfurcht und von Lebensehrfurcht besessen, wir sehen uns und wir sehen den Menschen stets jener Stunde anheimgegeben, in der er das Geschlecht für immerdar abstreift, um in das Land des Landschaftslosen hinüberzugehen; sie ist Doctor Barbara, und es war ein Irrtum, sie als Frau gesehen zu haben, am allerwenigsten kann sie mich als Mann sehen; nach dem Urlaub wird es anders sein, da wird es keine zweite Wirklichkeit mehr geben.
Die zweite Wirklichkeit ist auch während des Urlaubes nicht aus der Welt gewichen. Im Gegenteil, die erste Wirklichkeit, meine Wirklichkeit, an der ich nahezu zweiundvierzig Jahre meines Lebens gebaut und gearbeitet hatte, wurde von jener zweiten immer mehr verdrängt; und diese wuchs, wuchs mit aller Pein eines zweiten Lebens, und zornfunkelnd, haßerfüllt und doch erzengelgleich schön richtete es sich neben dem ersten auf, es zu besiegen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich in den Bergen gewesen wäre, wenn ich mir die Seele aus dem Leib geklettert wäre, wenn ich im Gletscherhauch zu mir zurückgefunden hätte: so aber war ich am südlichen Meer, in einer unjungen, unmännlichen Landschaft, und die doch eine Landschaft der Jugend und der Herbheit ist, grau wie die Ölbäume seiner Abhänge, heiß wie seine Weingärten, schwarzkühl wie seine Eichhänge, elfenbeinfarben wie seine porzellanenen Wolken, unter denen das sternenäugige, sternenglitzernde Meer dahinrollt, das Meer des Südens, das Mittelmeer –; und grauäugig, zürnend, wolkenrunzelnd, strahlend und nachdenklich, mit all der Pein einer Jugend, die ich durchlebt hatte und der ich doch schon nicht mehr angehörte, altersfremd, keinem Vorher, keinem Nachher angehörig erhob sich die neue Wirklichkeit, die Mitte des Lebens, erstarrend in Großartigkeit. Es war kaum Sehnsucht nach jener Frau, denn sie war ja vorhanden, vielfältiger, unbedingter, unerhörter als in ihrer leiblichen Gestalt, es war die Natur so sehr zu ihrem Gleichnis geworden, sie aber zum Gleichnis der Natur, Gleichnis des Gleichnisses, daß die Sehnsucht nach der Frau und die Sehnsucht, einzugehen in das Gleichnis der Einheit und der Einfalt, zu einer einzigen Sehnsucht geworden waren. Wir wechselten nicht einen Brief, nicht einmal einen Kartengruß, aber heimkehrend, war ich fest entschlossen, sie zu lieben, sie zu heiraten, mich in ihre Arme zu flüchten, so schicksalshaft schien sie mir zubestimmt und so sicher war ich beinahe ihrer Liebe.
Wahrscheinlich besteht letzterreichbare Liebe immer darin, ein anderes Wesen restlos und schicksalshaft als gegengeschlechtlich empfinden zu müssen, wahrscheinlich dürfte es sich selbst im Homosexuellen nicht anders verhalten, und wahrscheinlich ist derjenige mit doppelter Vehemenz davon ergriffen, dessen Vorstellungsbahnen lebenslang in einer anderen Wirklichkeit verlaufen sind, um nun plötzlich in jene zweite und vielleicht wirklichere Wirklichkeit abzubiegen; ebendeshalb aber sah ich der Heimkehr manchmal mit Bangigkeit entgegen, erwartend, fürchtend, daß beim Anblick der Realität, die Dr. Barbara hieß, jene neue Wirklichkeit wieder ins Vorstellungslose zurücksinken könnte. Es geschah nicht. Ich fand alles so vor, wie ich es verlassen, den ungestörten Spitalsbetrieb, das Laboratorium, das ich wie eine heimatliche Stätte begrüßte, ich fand meine beiden Zimmer, wie ich sie verlassen hatte, Flieder und Kastanien im Garten waren abgeblüht und hochsommerlich müde, aber all das Gewohnte und Sichtbare, es wußte um die Anwesenheit jener Frau, die dort drüben wirkte, und als ich sie selber sah, da brauchte ich nicht einmal ihre Hände anzuschauen, und ich wußte um die wehe Nacktheit unseres Seins und um seine geheimnisvolle untergründige Verschleierung, ich wußte darum, wie tief eingeschlossen wir in unserer Seele sind, und daß im Bilde der Vereinigung zweier Wesen friedevoll das Gleichnis unserer Einheit inmitten all unserer Vielfalt gleichnishaft sich auftut, und daß wir, den anderen suchend, unsere eigene nackte Unendlichkeit erahnen. Und vielleicht hatte auch sie dies gefühlt, vielleicht hatte sie die ganze Zeit mein Denken gespürt, und wenn auch das, was sie sagte: »Gut, daß Sie wieder da sind«, sicherlich ebensogut eine leere Höflichkeit hätte sein können, und wenn auch, sachlich und leicht mürrisch, ihr alter Kampfgeist darin mitschwang, so glaubte ich doch daneben so etwas wie eine Beruhigung und eine Vertrautheit heraushören zu können, und ich fragte: »Warum? ist was vorgefallen? haben Sie mich gebraucht?« – »Nein«, meinte sie, »das nicht gerade.« – »Oder sind Sie nur wieder einmal streitsüchtig?« – Sie lachte: »Vielleicht … das bin ich immer.« – »Dann laden Sie mich einmal zu sich ein; bis ich wieder die Spitalsleitung haben werde, dauert es zu lange.« – Sie blickte mich ein wenig überrascht an, und dann sagte sie: »Schön … morgen abend, wenn's Ihnen recht ist.« Das war unser Wiedersehen gewesen.
Am darauffolgenden Abend sagte ich ihr kurz und bündig, daß ich von ihr ergriffen sei, und zwar in einer geradezu schicksalsmäßigen Weise ergriffen, in einer, die über die Hochschätzung ihrer ärztlichen, menschlichen und fraulichen Qualität weit hinausgehe, unerklärlich, oder kaum erklärlich, wie es eben jedes Schicksal ist. »Ja«, sagte sie stirnrunzelnd, »ich weiß es.« – »Gewiß müssen Sie es wissen«, sagte ich, »denn erstens weiß jede Frau um solche Dinge, und zweitens glaube ich nicht an einseitige Bindungen von solcher Vehemenz … da gehen Dinge vor sich, die unpersönlich oder überpersönlich sind, und diese Zuversicht hat wahrlich nichts mit männlicher Eitelkeit zu tun …« Sie sah mich lange und fest an, und dann sagte sie sachlich: »Das dürfte vermutlich stimmen …« Sonderbarerweise machte dieses eindeutige und klare Zugeständnis, vielleicht weil es so klar war, den Eindruck einer Abweisung, und anstatt glücklich zu sein, war ich erschüttert. Und richtig setzte sie fort: »Aber legitim oder illegitim, was mir im Augenblick ziemlich gleichgültig wäre, ich kann nicht Ihre Frau werden.« Auf das dumme ›Warum?‹, das mir auf der Zunge lag, verzichtete ich. Es war eines der gewöhnlichen Spitalsärztezimmer, in dem wir saßen, Wände und Möbel weißlackiert, von dem meinen kaum unterschieden, und doch war auch dieses Zimmer durchtränkt von einem andern Sein, von jenem Sein, dem ich mir Einlaß gegeben habe. Vor dem offenen Fenster verwelkte die Luft, getränkt vom Juli, von Nacht, und vom absterbenden Lärm der großen Stadt. Und dann sprach sie weiter: »Ich will nicht bloß Liebe, ich will ein Kind. Ich bin achtundzwanzig. Es wäre Zeit für mich, ein Kind zu haben. Ich könnte ohne Kind nicht lieben. Und eben daran darf ich nicht denken. Es geht nicht.« Sie hatte ihre Hände, diese unsäglich weiblichen Hände ums Knie verschränkt, die grauen Augen schauten weitgeöffnet und still, schmal und weiblich war der düstere Saum der Augenbrauen gezeichnet, weiblich war der teebraune Glanz der Haare, und elfenbeinbraun war ihr Gesicht. »Nein«, wiederholte sie, »es geht nicht … es läßt sich nicht mit dem Beruf vereinbaren …« Ich machte den sicherlich überflüssigen Einwurf: »Es gibt viele verheiratete Ärztinnen, und die Kinder kommen durch den Beruf nicht zu Schaden … außerdem kann man einen Beruf auch aufgeben, wenn es um Wichtigeres geht.« Jetzt lächelte sie, und in diesem unbeschreiblich holden Lächeln, das wie ein Frühlingstag im Winter war, sah ich, daß sogar die Zähne unter ihren Lippen, diese so überaus geschlechtslosen Knochengebilde, bei ihr weiblich waren. »Mit einem Beruf lassen sich Kinder zur Not noch vereinbaren«, sagte sie, »aber nicht mit zweien … nein, schauen Sie nicht so überrascht … ich bin Ihnen diese Aufklärung auf jeden Fall schuldig, denn Sie wissen offenbar nicht, daß ich aktive Kommunistin bin …« Über die politische Tragweite dieser Mitteilung machte ich mir damals keine Gedanken; mir lag anderes am Herzen, und ich sagte: »Auch zwei Berufe lassen sich aufgeben.« – »Nein«, entgegnete sie, »das kann ich nicht … obwohl ich weiß, daß etwas Unnatürliches darin steckt, obwohl ich mir nichts anderes ersehne als mit einem geliebten Mann ein halbes Dutzend Kinder zu haben und mit denen irgendwo auf dem Lande zu sitzen, obwohl, obwohl, obwohl … ja, obwohl ich manchmal diese Spitalskinder hasse, weil sie meinen eigenen im Wege stehen, und obwohl ich diese ganze politische Tätigkeit hasse, weil sie mir den letzten Rest freier Menschlichkeit wegnimmt, aber ich fühle, daß ich kein Recht habe, es für mich anders zu beanspruchen, und es muß wohl so sein …« – »Barbara«, sagte ich, »wir haben jeder nur ein einziges Leben, und das ist kurz … und wir sind immer bereit, es zu verschleudern …« – »Auch dies ist mein Leben, und was ich tue, das tue ich nicht aus Edelmut, darüber mache ich mir keine Illusionen … ich kann nur nicht anders, ich bin besessen … ich bin von etwas besessen, was man Gerechtigkeit nennen kann, vielleicht, weil ich schon zu viel Elend gesehen und erlebt habe …« Sie machte eine Pause und zündete mechanisch eine Zigarette an; dann fuhr sie fort: »Warum es so ist, ist schwer zu ergründen, ich will es auch nicht ergründen … es mag sein, daß es daran liegt, daß ich als Kind eines ungeliebten Mannes geboren wurde … meine Mutter hat dann nochmals und aus Liebe geheiratet, einen etwas dumpfen und tief eifersüchtigen Menschen, der seinen Haß auf die verflossene Ehe niemals verwinden konnte und auch meine Mutter damit angesteckt hat … ich war das richtige Stiefkind gegenüber allen Nachgeborenen und hatte all die Ungerechtigkeiten zu erdulden, die eben nur ein Kind empfinden kann … und dann, halbwegs erwachsen, bin ich einfach durchgebrannt, mitten ins Elend hinein, physisches und psychisches Elend, ich habe mit Männern zu tun gehabt, die ich nicht geliebt habe, und noch allerhand, eigentlich bloß von dem Gedanken gejagt, mein Studium durchzusetzen, Kinderärztin zu werden, bei anderen Kindern das gutzumachen, was an mir an Ungerechtigkeiten verübt worden ist, die Ungerechtigkeiten der Welt zu vernichten.« Sie machte eine Pause, und ihr grauer, ein wenig zorniger Blick schaute in den meinen, unendlich fern, unendlich nah, und dann fuhr sie fort: »… natürlich wußte ich dabei immer, daß dies Chimäre ist, daß dies ein unendliches Menschheitsziel ist, ein Ziel, von dem ich selber kein Jota zu sehen bekomme, doch wir leben eben um diese vage Zukunft der Menschheit und für ihre einstige Gerechtigkeit … und daß ich bei alledem auch ins kommunistische Fahrwasser geraten bin, ist auch kein Wunder … davon bin ich besessen, so sehr, daß ich nicht nur mir, sondern auch der ganzen Menschheit jede persönliche Glücksmöglichkeit absprechen und entziehen möchte, ehe sie sich nicht auf die Bahn der Gerechtigkeit begibt … so, jetzt werden Sie mich verstehen, und da ich annehme, daß Sie als Mann ebenfalls einige Eifersuchtskomponenten besitzen, wird es vielleicht auch genügen, um Ihre etwaigen Heiratsabsichten zu verringern …« Ihre Stimme war immer härter geworden und nun schwieg sie, mit schmalgewordenen Lippen an ihrer Zigarette ziehend. »Soll ich Ihnen noch einen Tee einschenken?« – »Ich liebe dich«, sagte ich. Da begann sie zu weinen. »Gehen Sie fort«, sagte sie wütend. Ich nahm ihre Hand. Sie entzog sie mir, fuhr mir über die Haare, so leicht und weich, wie ich es seit dreißig Jahren nicht gekannt hatte. »Geh«, sagte sie weich und bittend, »geh'.«
Wenn ich sage, daß ich wie im Traume von ihr weggegangen bin, so ist mein damaliger Zustand nur in sehr unvollkommener Weise umrissen, denn mein Fortgehen war ein Bleiben gewesen, und das Leben, das sie mir eröffnet hatte, war die Unendlichkeit, aus dem es herstammte, und es war zu einem Stück meines eigenen Lebens und meiner eigenen Unendlichkeit geworden: da war ein Mensch mit all seinen Wegen und Irrwegen, ich sah sie mit traumhafter Deutlichkeit, und wenn sie auch vor allem bloß der Erlangung eines Berufes gegolten hatten – freilich war bei dieser Frau weit eher von Berufung denn von Beruf zu sprechen –, so waren sie dennoch, Weg oder Irrweg, von tieferer Bedeutung, waren irdisch-handgreifliches Widerspiel des Weges zu sich selber, Spiegel und Echo des Lebensgrundes und Lebensabgrundes, Wege, die dieser Mensch beschritten hatte, um im Gleichnis des irdischen Tuns zum Ich zu gelangen und dieses seiner unendlichen Dunkelheit zu entlösen und zur Bewußtheit zu erlösen, und die er trotzdem wieder verlassen wollte, weil der Wunsch übergroß geworden war, gleichsam mit einem zweiten und noch dringlicheren Erlösungsakt ins anonym Naturhafte zurückzukehren und große Teile des erarbeiteten Ichs zugunsten eines Kindes wieder auszulöschen; schatten[haft], gleichnishaft, traumhaft hatte sich mir dieses Leben enthüllt, und traumhaft fühlte ich mich in seinen Traum hineingezogen, Traum im Traume, träumend und geträumt, einbezogen in diesen Wunsch nach dem Kinde, gleichfalls bereit, Teile meines Ichs um solchen Kindes willen aufzugeben, einbezogen in die Selbsterlösung dieses anderen Ichs, teilhaftig an seiner Unendlichkeit, und mit einer hoffnungsfreudigen Inbrunst, wie sie bloß der Traum kennt, war in mir die Verheißung einer Gemeinsamkeit und einer gegenseitigen Erlösung in der Gemeinsamkeit aufgekeimt, so stark und unabweislich, daß mir neben der Sicherheit des »Ich bin«, der einzigen Sicherheit, die ich bis dahin gekannt hatte, zum ersten Male die Sicherheit eines »Du bist« inne wurde, die Sicherheit eines ahnenden Wissens, das die Erreichung des Ichs vor sich sieht, weil es sich dem Du zuwenden kann, lauschend auf das Echo des Du, das eigene Echo hörend –, Mensch, der zum Gleichnis des Menschen wird, weil er sich selber aufzugeben vermag, rückkehrend zur Natur und in ihr großes Gleichnis, Natur er selber in der schöpferischen Geschöpflichkeit seines Seins, so sehr es auch aus landschaftsloser Unendlichkeit herstammt. Und in dieser Sicherheit um das Du wußte ich desgleichen, daß ich ebenso darauf warten mußte, warten konnte, warten durfte, wie ich auf mein eigenes Ich zu warten hatte und auf meine eigene Unendlichkeit, da diese zur gemeinsamen Unendlichkeit geworden war: in der Zeitentbundenheit jener tiefverschleierten Ursphäre, in der das Ich weset, ist das Warten kein zeitliches Warten mehr, sondern nur noch ein zeitloses Reifen, und in dieser zeitlosen Sicherheit, zeitlos wie der Traum, sicher wie ein Traum, und doch wirklicher noch als jeder Traum, hatte ich sie verlassen, ohne sie zu verlassen; indes, so richtig dies gewesen war, und so falsch jugendlich es gewesen wäre, wenn ich damals geblieben wäre und ihren Widerstand gegen ihr eigenes Gefühl überrumpelt hätte, es wäre vielleicht manches anders und leichter geworden, wenn ich damals meine zweiundvierzig Jahre vergessen und so gehandelt hätte, wie es ein schlicht verliebter Mensch zu tun pflegt. Heute werfe ich mir dies schmerzlich vor, und in argen Augenblicken will es mir scheinen, als hätte mich die Erzählung ihres Lebens in meiner Eifersucht getroffen und als wäre ich aus diesem Grunde weggegangen.
Sie hingegen hatte mein Verhalten zweifelsohne als richtig befunden, und die Wochen wachsender Vertrautheit, die nun folgten, waren sicherlich eine Folge meines Verzichtes. Und eines Tages kam sie mit einem großen versiegelten Paket zu mir: »Ich will unfair gegen Sie handeln, unfair, weil Sie meine Bitte nicht abschlagen werden … haben Sie den Mut, verbotene Literatur aufzubewahren? bei Ihnen wird man sie niemals suchen.« Einen Herzschlag lang durchzuckte mich, schneidend und bitter, der Argwohn, es könnte ihre Zuneigung ein bloßes Manöver gewesen sein, mich in den Dienst ihrer politischen Operationen zu stellen, allein, dann sah ich ihre Augen, sah ihre zornig mutige Ruhe und wußte, wie es um sie bestellt war. »Sie sind nicht unfair«, sagte ich, »oder meinen Sie, daß Sie sich jetzt aus Fairness hingeben müssen, um geleistete politische Dienste zu entlohnen … das würde zum Stil passen, Doctor Barbara.« Sie lachte zornig: »Darüber werden keine Witze gemacht, weder über Politik, noch über die Liebe … mir ist nämlich mit beidem verteufelt ernst … ach Gott …« Und sie verstummte. »Nun, warum ach Gott?« – »Wegen meiner Rücksichtslosigkeit … aber mit Fairness werden eben keine Revolutionen gemacht … das sind nun einmal unsere Methoden …« – »Vor allem sind Sie gegen sich selber rücksichtslos und unfair, Barbara, und ich fürchte, daß sich das rächen wird.« – »Jawohl«, antwortete sie, »es wird sich rächen, aber anders als Sie denken … ich bin bereits eine schlechte Kommunistin … und vielleicht auch eine schlechte Ärztin geworden.« – »Das habe ich noch nicht gemerkt, Barbara.« – »Doch«, sagte sie. Ich verstaute das Paket. Und im Rahmen des geöffneten Fensters hing mit unbewegtem Zittern leuchtend der Augustmorgen.
Kein Mann ist eitelkeitsfrei, und so waren mir die Berufserfolge, die sich gerade in jenem Jahre einstellten, nicht nur eine Ehrgeizbefriedigung, sondern noch außerdem eine gewisse Freude um der geliebten Frau willen. Ebenso war es mir recht, daß ich vom Ärztekongreß zu einem Vortrag über meine Forschungsergebnisse aufgefordert wurde. Als ich hinfuhr, hatte ich mich tagsvorher von ihr verabschiedet und war daher etwas überrascht, sie auf dem Bahnsteig anzutreffen: »Holen Sie jemanden ab?« – »Nein, ich begleite jemanden«; und sie lachte, weil ich nicht begriff, daß dieser Jemand ich war, lachte, weil ich, es endlich begreifend, ein glückliches Gesicht machte, lachte aber nicht mehr, da der Zug aus der Halle fuhr: da stand sie dort mit leicht erhobener Hand, ohne zu winken, und war ernst. Dies war das Bild, das ich von ihr mitnahm, und nach meinem Vortrag schrieb ich ihr einen Brief, denn all meine Zuversicht, Geborgenheit, Seinsgewißheit, all meine Aufnahmebereitschaft hatte sich mitsamt dem herbstlichen Licht jener Tage in Sehnsucht verwandelt.
An dem Nachmittag, an dem ich heimkehrte, ging ich unter einem dienstlichen Vorwand sofort in den Kindertrakt. Ich fand sie im oberen Hauptsaal am Bett eines kleinen Mädels und in einer Aufregung, die nicht nur mit ihrer sonstigen Ruhe in einem auffallenden Widerspruch stand, sondern mir auch angesichts des Falles durchaus überflüssig vorkam: das Kind war am Vortag nach einem Autounfall mit einer Gehirnerschütterung eingeliefert worden, es wies alle Symptome einer solchen auf, den schwachen unregelmäßigen Puls, die herabgesetzte Temperatur, die flache Atmung, die Somnolenz, die zwar nun schon über vierundzwanzig Stunden andauerte, aber schließlich auch nichts Außergewöhnliches darstellte, die relative Besserung des Zustandes nach erfolgter Blutentziehung, kurzum, es war alles eindeutig gegeben, und sie war trotzdem von dem Gedanken besessen, daß das Kind einen Hirndruck erlitten hätte, also eine Schädigung, die nur durch einen so gewagten Eingriff, wie es eine Trepanation oder eine Lumbalpunktion ist, aufgehoben werden konnte. Während ich das Kind anschaute, sagte sie mit verzweiflungsvoller Düsterkeit: »Ich kann's nicht entscheiden …« – »Was meinen denn die Kollegen?« Sie zuckte die Achseln: »Gehirnerschütterung … aber ich habe auf Sie gerechnet …« Ich war von ihren Zweifeln einigermaßen betroffen: »Hören Sie, ich kenne die Zuverlässigkeit Ihrer diagnostischen Intuition … ich würde jedoch gleichfalls bloß Gehirnerschütterung annehmen … oder haben Sie sonst irgendwelche Anhaltspunkte?« Ihr Ton wurde noch verzweifelter: »Meine Zuverlässigkeit ist dahin … ich habe keinen Blick mehr, nur noch Ahnungen, richtiger Befürchtungen …« – »Das genügt freilich nicht, um einen so schweren Eingriff vorzunehmen.« »Nein, das genügt nicht … das ist es ja eben … ich kann meinen Beruf nicht mehr ausüben.« Sie war zweifelsohne aufs äußerste überreizt und überarbeitet, und zweifelsohne hatte sie die ganze Nacht durchwacht. »Barbara«, sagte ich, »Sie sehen Gespenster … das ist ein simpler Fall, so simpel, wie Sie und ich deren schon unzählige behandelt haben … es ist alles geschehen, was notwendig war, und mit ein bißchen Morphium kommen wir unter allen Umständen durch … weder Sie, noch ich können die Verantwortung für eine Operation auf uns nehmen … beruhigen Sie sich …« Sie preßte ihre Hände, ihre starken weiblichen Hände ans Herz: »Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie. »Und wie wäre es, wenn Sie sich jetzt erst einmal ein paar Stunden ausschliefen … ich übernehme gerne indessen Ihren Dienst …« Sie nickte bestätigend.
Abends ging ich wieder hinauf. Natürlich hatte sie nicht geschlafen, sondern saß noch immer oder aufs neue bei dem Kinde, das mit seinen Eisbeuteln so dalag, wie ich es verlassen hatte, nach wie vor in Bewußtlosigkeit. Nichtsdestoweniger hatte ich den Eindruck einer Besserung, das Herz arbeitete ruhig, die Blässe war weniger wachsig, der Atem tiefer. »Schluß«, sagte ich, »die Sache verläuft normal …« – »Wenn wir eine Lumbalpunktion machen wollen, müßte es jetzt geschehen«, entgegnete sie mit seltsamer Hartnäckigkeit, »sonst wird es zu spät.« – »Ja, um Himmelswillen, warum denn? – sehen Sie Lähmungsanzeichen?« – »Nein.« Die Art, mit der sie das Kind jetzt betrachtete, war nicht mehr die eines Arztes; eine unwohlwollende, fast haßerfüllte zornige Angst lag in ihren Augen. Und dann sagte sie schlaff: »Ich weiß es nicht mehr …« – »Nun eben, kommen Sie ein bißchen an die Luft, Sie haben jeden Maßstab verloren … so etwas kann geschehen … geben Sie den Fall morgen an einen Kollegen ab, und jetzt kommen Sie …« Sie schickte sich drein und erhob sich: »Gut, gehen wir.«
Unter den Kastanien war es dumpfig und schwül. Wir gingen bis zum Ende des Gartens hinauf, die Mauern der Pavillons links und rechts schimmerten weiß in der mondlosen Dunkelheit, und als wir oben waren bei dem etwas monumentalen Aussichtspunkt, dessen tempelhafter Halbbogen, geziert mit hygienischen Reliefs, die steinerne Rundbank umgibt, als wir hier oben waren und die Stadt überblickten, den erleuchteten Herbsthimmel darüber, sternenlos vor rötlichem Dunst seine Kuppel, sternverhüllt die Menschenhäuser darunter, da fiel [mir] dasjenige ein, woran ich schon längst hätte denken sollen: »Sagen Sie mal, Barbara, haben Sie seit gestern überhaupt einen Bissen gegessen?« Sei es, weil ich damit unser beklommenes Schweigen unterbrochen hatte, sei es, weil ihr die Rückkehr zur Banalität Spaß machte, sie lachte ein wenig: »Hätten Sie in meiner Lage viel gefuttert?« – »Also dann zurück … Sie bekommen einen Tee, entweder bei Ihnen oder bei mir …« Sie dachte ein paar Sekunden nach, und ich war froh, endlich wieder den alten zürnenden Zug in ihrem Gesicht zu finden. »Ich will noch einmal zu dem Kind zurück«, sagte sie, »und dann … ja, dann werden wir sehen, was sich tun läßt …« – »Wenn Sie wollen, kann ich mir ja das Mädel auch nochmals anschauen.« – »Nein, gehen Sie nur heim, ich rufe bei Ihnen an und sage, wie es steht.« – »Dann will ich wenigstens mittlerweile den Tee vorbereiten.« – »Lieber«, sagte sie und ging davon.
Es dauerte ziemlich lange, bis sie anrief. Ich hatte inzwischen Tee gekocht und alles, was ich an Eßbarem in meiner Junggesellenwirtschaft besaß, zusammengesucht. »Was macht das Kind?« fragte ich. »Unverändert, vielleicht etwas besser … ich komme zu Ihnen«, gab sie zur Antwort. »Gut, der Tee ist fertig«, sagte ich noch, aber sie hatte es nicht mehr gehört; sie hatte bereits abgehängt. Nichtsdestoweniger kam sie nicht sofort, und ich war schon im Begriffe, gleichfalls das Kind aufzusuchen, beunruhigt, daß sich doch noch ein Zwischenfall ergeben hätte, als ich endlich ihren raschen Schritt im Korridor vernahm. Als sie eintrat und meine Vorbereitungen bemerkte, blieb sie lächelnd stehen, und als ich ihr entgegenkam, knipste sie den Schalter neben der Türe ab. Ein unsäglicher mütterlicher Friede, tiefverschleiert, erntereif, erinnerungsgroß, kam über mich, als ich ihre Arme um meinen Nacken fühlte.
Ich weiß nicht, ob ich von Glück sprechen darf: was ich erlebt hatte, war das Beseelte schlechthin gewesen; in der Dunkelheit habe ich geschlossenen Auges ihr Antlitz gesehen, und leise stieg es auf aus der unbeschreiblichen Tiefe, Landschaft der Seele im Landschaftslosen, und durchseelt war die Nächtlichkeit des Sichtbaren und Fühlbaren, durchseelt jeder Atemzug und jede Faser ihres Körpers, durchseelt sogar die Knochen des Gerippes, Armspeiche, Fingergelenk, sogar die Zähne, durchseelt von Weiblichkeit, mich aber mit unendlich träumender Weiblichkeit durchtränkend. Es war nicht Glück, und es hätte wohl eines neuen und noch tieferen Auges in dieser letzten Sphäre des Schweigens, Staunens und Schauens bedurft, um zu erkennen, wie weit ich selber noch Glück empfand und wie weit ich bereits in das andere Ich verwandelt war, dessen geheimnisvolle Unendlichkeit mich aufgenommen hatte. Denn nur wer in seinem eigenen Ich verbleibt, vermag glücklich oder unglücklich zu sein, und wahrhaftes Glücksbewußtsein erlebte ich erst am nächsten Morgen, da mit dem Licht des Tages langsam mein eigenes Ich wieder in mich einsickerte, aber wirklich kam es mir eigentlich erst zu Bewußtsein, als ich durch die Krankensäle ging und schließlich an dem Bett jenes Kindes stand: es war aus seiner Ohnmacht erwacht, es lächelte, und es hatte, so dünkte mich, glückhafte Augen.
»Wo ist die Frau Doctor?« fragte ich die Pflegerin. – »Dienstfrei, Herr Doctor.« – »Rufen Sie sie trotzdem, sie wird sich freuen.«
Nach einer Weile kam sie. Ernst, sachlich und weißmantlig, mit zusammengezogenen Brauen schritt sie durch die Bettenreihe, verfolgt von den erwartungsvollen Blicken der Kinder, und ihre Begrüßung für mich war bloß ein sachliches: »Wann ist sie aufgewacht?« – »Schon heute Nacht, Frau Doctor«, antwortete die Schwester an meiner Statt. Sie untersuchte genau, prüfte Herz und Atmung, doch in ihren Zügen blieb etwas besorgt Prüfendes: »Es könnte sein«, sagte sie endlich, »hoffen wir, daß es überstanden ist.« – »Natürlich ist es überstanden«, warf ich ein, und dann setzte ich überflüssigerweise hinzu, »ich bin sehr glücklich.« Sie beachtete es nicht, sondern sagte bloß leise: »Wenn es nur nicht freies Intervall sein sollte.« Ihr Ernst berührte mich so sehr, daß ich nicht nur das Schicksal des Kindes, sondern auch das meine gefährdet sah; ich fühlte etwas Unheimliches aufdämmern. »Nein«, sagte ich, »nein … jetzt wird alles gut werden.« – »Legen Sie jedenfalls weiter Eisbeutel auf, Schwester«, sagte sie, »und wenn Sie irgend eine Veränderung bemerken, so rufen Sie mich.« Und sie ging wieder.
Nachmittags rief sie doch an, ich möge zu ihr kommen. »Verzeih«, sagte sie. Ich war ein wenig verblüfft: »Um Himmelswillen, was soll ich verzeihen?« – »Du wirst es [mit] mir nicht leicht haben … ich habe es selber zu schwer.« Ich umarmte sie und legte ihre Hände auf meine Haare.
Es war an einem Donnerstag. Am Sonnabend zeigte sich bei dem Kinde Lähmungserscheinung, und in der Nacht vom Sonntag zum Montag starb es. Ihre Diagnose des Hirndruckes und des freien Intervalles hatte gestimmt.
Wahrscheinlich häufte ich von diesem Augenblick an Fehler auf Fehler. Ich war so sehr mit mir und ihr und mit unserer Zukunft beschäftigt, daß mich der Tod dieses Mädels kaum mehr als der irgend eines andern Patienten beschäftigte, und wenn ich auch wußte, daß es bei ihr sich anders verhielt, so ließ ich mich doch durch die Verbissenheit, mit der sie sich wieder ihrer Arbeit hingab, täuschen, ja, ich rechnete damit, daß sie kraft der Arbeit über den traurigen Fall bald hinwegkommen werde. Oder richtiger, ich hoffte, daß dies kraft der Liebe geschehen werde, und als sie mir nach etwa drei Wochen meine Hand nahm, um mir mit stiller Sachlichkeit mitzuteilen, daß sie vermutlich das Kind erwarte, nach dem sie gebangt hatte, da war meine Zukunftssicherheit zu einem großen Trost erblüht, und ich sah die Landschaft und das Gleichnis und den Tod und die irdische Ewigkeit in unserem kurzen Dasein, und die Welt war um uns versunken, um in uns zur Ganzheit zu werden. Doch mein Vorschlag die Spitalspraxis aufzugeben, raschestens zu heiraten und aufs Land zu ziehen, wurde von ihr abgelehnt: »Später«, sagte sie bloß, »später … vielleicht.« Und sie verdoppelte ihre Arbeitsintensität; nicht nur, daß sie neben ihrem normalen Dienst nun auch noch mit serologischen Untersuchungen bei mir im Laboratorium begann, sie stürzte sich auch mit erneuter Heftigkeit ins Politische, und jeden ihrer dienstfreien Abende war sie auswärts beschäftigt: daß dies alles in einer Art Selbstbetäubung vor sich ging, das sah ich nicht, im Gegenteil, ich nahm daran innerlich teil, ebensowohl an ihrer Laboratoriumsarbeit, von der ich beglückt annahm, daß sie damit ihre Tätigkeit der meinen annähern wollte, als an ihren politischen Erfolgen, froh, wenn sie darüber freimütig berichtete, und wenn ich auch selber eine heftige Abneigung gegen jegliches politische Geschehen empfand, so konnte ich mich ihrer mitreißenden Überzeugung, so durchaus unfraulich diese doch eigentlich war, kaum entziehen, ja, ich freute mich mit ihr über jeden Fortschritt der kommunistischen Zellenbildung, die sie im Spital organisiert hatte, und dies ging so weit, daß ich darüber kaum merkte, daß ich trotz dieser Anteilnahme, mit der ich sie begleitete, im wesentlichen keinen Zugang zu ihr besaß, daß das Kind, das sie von mir erwartete, beinahe nicht erwähnt wurde und daß damit unsere Beziehung auf eine völlig andere Ebene geraten war. Ein einziges Mal wurde ich stutzig, nämlich als sie – gebeugt über den Laboratoriumstisch, eine Eprouvette in der Hand – mit fast gleichgültiger Stimme und nebenbei die Bemerkung hinwarf: »Um meines Kindes willen hat das andere sterben müssen.« Aber ich vergaß dies wieder.
Im Oktober nahm sie einen dreitägigen Urlaub, angeblich um Vermögensangelegenheiten mit ihren Verwandten zu ordnen, denn unsere Heiratspläne wurden ja immer dringlicher. Die Überstürztheit ihrer Abreise war für mich nicht weiter auffallend und störte mich nicht in meinem Gefühl absoluter Sicherheit; wir sagten uns auf Wiedersehen. Damals brachten die Zeitungen versteckte Andeutungen über einen mißglückten kommunistischen Putsch und ein verhütetes Ministerattentat. Da ich ein schlechter Zeitungsleser bin, hatte ich es nicht einmal beachtet; außerdem gab es damals im Spital besonders viel zu tun, und mir war dies recht, denn ich sehnte mich nach ihr und ich freute mich auf ihre Heimkunft. Die Tage vergingen, und sie kehrte nicht heim. Hingegen kam die Nachricht, daß sie sich in einem Hotelzimmer vergiftet hatte. Das Zyankali, das sie verwendet hatte, stammte aus dem Laboratorium.
Was danach und in den folgenden Monaten geschah, weiß ich nicht mehr. Viel später stieß ich einmal zufällig auf das versiegelte Paket, das sie mir einstens übergeben hatte. Erst zögerte ich, es zu öffnen. Als ich es dann doch tat, fand ich zuoberst einen Brief; er enthielt bloß eine Zeile: »Ich habe dich geliebt.« Der Rest des Paketes bestand aus den genauen Putschplänen und aus Direktiven an die Organisation für den Fall des Gelingens. Ich verbrannte alles.
Es bewahrheitete sich, daß der Marius im Oberdorf arbeitete. Von meinem Haus kommend traf ich [ihn] auf dem Wege dorthin.
»Was machen Sie heroben, Marius?«
»Hier wird mit der Hand gedroschen«, gab er zur Antwort, mit einem vielsagenden Gesicht, als ob das sein Verdienst wäre.
»Nun, ist das was Besonderes? die Kleinbauern heroben haben dies immer getan, und werden wohl dabei bleiben. Für sie ist es praktischer.«
Er wollte mich widerlegen: »Die müssen ja das Korn dann doch hinunterschaffen zur Mühle.«
»Säcke verladen sich leichter als Garben, und das Stroh brauchen sie hier.«
»Ja«, sagte er. Mein Widerspruch hatte ihn gereizt, er machte Anstalten, einfach weiter zu gehen.
»Hören Sie, Marius, was ist das für eine Geschichte mit dem Motor?«
»Auch die Seilbahn ist gerissen«, sagte er und ließ mich kurzerhand stehen, obwohl wir den gleichen Weg hatten.
Ich ärgerte mich nicht, im Gegenteil, es machte mir Spaß, wie er da geschwind und schwungvoll vor mir herlatschte, während ich langsam folgte. Ich war zu guter Laune, um sie mir von ihm verderben zu lassen, und ich war guter Laune, weil ich mit dem Wetchy-Buben gesiegt hat[te], und ich war guter Laune, weil der Marius da vorne kein Mann war und der Irmgard nichts anhaben konnte, und ich war guter Laune, weil der Wind so schön blies.
Ja, der vom Herbst hergeschickte Nordost, der nun schon seit einigen Tagen schmächtige Vorboten vorgeschickt hatte, war zu einem richtigen Sturm angewachsen. Der Himmel war klar, nicht eine Wolke gab es, daß der Sturm mit ihr spiele und sie vor sich hertreibe, es war ein durchsichtiger Lichtsturm, und in ihm schien das ganze Tal, schienen die Höhenzüge drüben von einem sanften und kühlen Schwanken erfaßt worden zu sein. Hinter mir und im Walde rechts am Kuppronhang bogen sich die Fichtenwipfel, man hörte ihr knirschendes Neigen, und der Sturm blies mir in Rock und Hemd, blähte meinen dünnen Sommerrock zu einer kalten Blase auf. Indes, mir fröstelte nicht; Stock und Instrumententasche in der einen Hand, die andere in der Hosentasche, wandelte ich gemächlich zum Dorf, vor mir Trapp, der dem Wind nachlief, und noch ein Stück weiter vorne der Marius. Wie ein breites Schermesser fährt der Wind über die Landschaft, als wollte nun auch er noch mähen, als wollte er den kratzenden Stoppelbart, der auf ihr noch stehen geblieben war, nun ratzekahl wegrasieren, so klingt es auch, stählern und widerspenstig, und unter diesem breiten Strich wird der weiche und sommerliche Samt, der über die Erde noch gebreitet war, der zwischen den Stoppeln noch gesteckt hatte, fortgetragen, fortgewischt. Aber nicht nur die sommerliche Weichheit wird erfaßt, auch die trockene Schärfe des Sommers, die unter dem Samt eingebettet gelegen war, der scharfe und kantige Erntestaub der Felder, der scharfe ätzende Staub der Straße, der von den Serpentinen unten sich schräg emporhebt, um sich Lage um Lage auf den Hängen niederzulassen und sich über sie zu breiten: an dieser beißenden Trockenheit ist die Schneide des eiligen Windmessers schartig und kratzig geworden, so daß vielerlei an ihm hängen geblieben ist; vielerlei unsichtbare Fäden flattern in der unsichtbar durchsichtigen Masse des Sturms, vielerlei Gerüche, und es sind die Gerüche der abgeernteten Felder, es sind die Gerüche der Halme und der Kornblumenstengel, es flattern mit dem Sturm die Fäden von Minzegeruch aus den Sumpfwiesen der Bäche, Fäden von sonnigem Blumengeruch, aufgelesen in irgend einem Gartenwinkel, Fäden von Stallgeruch, von Schweinekoben, durch deren Ritzen der Sturm gefegt hat, von Kuhställen und Kompostgruben, und alle diese Gerüche, wehend und fließend, verfließend und verdünnt, beinahe abstrakt geworden in dieser zunehmenden Verdünnung, all diese flatternden und sich streckenden Geruchsfäden, werden zu den Felswänden des Kupprons hingetragen, in denen sie sich verfangen, eine Zeitlang noch duften, hier zersplittert er, kaum daß er die Kiesel in den Halden zum Rollen bringt. Nur das Lebendige gehorcht dem Sturm. Ein Hase, der mit seinem Leben und dem Wind um die Wette rannte, überquerte die Straße, schlug einen Haken, da er Trapps ansichtig wurde, dann wieder einen, da ich ihm entgegen kam, und in einer lächerlichen Jagdgeste hob ich den Stock, als hätte ich ihn damit erlegen können. Doch nicht nur ich, auch der Hase war fröhlich, und auch Trapp war es, der ihm unwaidmännisch jauchzend nachgaloppierte, denn eine gewissermaßen unerbittliche Fröhlichkeit erfüllte diesen plötzlich abgekühlten und in Bewegung geratenen Sommertag, eine fast grausame Fröhlichkeit, die einen geradezu zwang, sich über sie zu freuen, es war eine gewissermaßen von außen eindringende Freude, die mit dem Sturm kam, mit ihm durch Fett, Fleisch und Muskeln drang, aber weiter noch als er bis in die Knochen hinein, denn der Knochenmann, der in all dem steckt, verpackt in Fett, Fleisch und Muskeln, der freute sich noch selber, weil ihm der Sturm so wenig anhaben konnte wie einem Fels und er nicht einmal fror.
Allerdings, wenn der Wetchybub nicht gesund geworden wäre, wäre es nicht so gewesen.
Der Marius war jetzt zwischen den ersten Häusern verschwunden. Ich hatte kein Interesse daran, ihm zu folgen. Ich blickte in den Windnachmittag hinaus und in das Tal und ließ mir Zeit, hätte ich ein Kaffeehaus zur Verfügung gehabt, ich hätte mich wahrscheinlich hineingesetzt. Denn der frohe Mensch hat Zeit, das Leben, das vor ihm liegt, erscheint ihm unermeßlich lang, so lang, daß er [es] mit Luftschlössern ausfüllen kann, alle Dimensionen vergrößern und verlangsamen sich ihm, er gleicht dem Kinde, und er sagt sich: »Wenn ich groß sein werde …« Ja, was wollte ich tun, wenn ich endlich groß werden würde? wahrscheinlich wieder Landarzt werden.
So schlenderte ich langsam die Dorfstraße hinauf. Als ich in die Nähe des Berghofes kam, begannen dort gerade die Dreschflegel ihren fröhlich-dumpfen Takt, ihre jetzt tägliche Nachmittagsmusik, denn wer nicht zu Hause bei sich drischt, der besorgt es, alter Gepflogenheit gemäß, in der Tenne des Berghofes.
Und weil ich Zeit hatte, ließ ich mich vom Takt verlocken und wollte mir die Arbeit anschauen, vielleicht wohl auch, weil in den letzten Wochen so viel vom Handdrusch gesprochen worden war. Ich trat durch den gotischen Spitzbogen des steinernen Haupttores in den großen Hof, der freilich schon längst kein richtiger Hof mehr ist, da er durch vielerlei Zäune in Hofparzellen und Gemüsegärten geteilt worden war: gegen die Bergseite hin ist die Hoffläche offen, dort steht bloß die langgestreckte Tenne, aus der nun der Takt des Dreschens klang, ein einstöckiges Gebäude, dessen hölzernes Obergeschoß unmittelbar von der Bergseite her zu erreichen ist, während vom Hof aus eine schräge Rampe zu ihm emporführt, so daß die Heu- und Garbenwagen, von der einen Seite kommend, auf der andern herausfahrend, das Gebäude ohne zu wenden durchqueren können. Die Rampe findet im Hof ihre geradlinige Fortsetzung in einem Fahrweg, den man zwischen den Gartenzäunen bis zum gotischen Haupttor freigelassen hat, und auf diesem Wege strebte ich der Tenne [zu], ein wenig vom Winde vorwärtsgetragen, der in einer leichten Welle die Dächer des Berghofs übersprungen und mich jetzt voll im Rücken packte. Doch da das Scheunentor auf der Rampenhöhe eben des Windes wegen geschlossen war, mußte ich den kleinen Eingang im Untergeschoß benützen. Neben dem Eingang wurde ein Kreisgöpel von einem Eselchen bewegt; das Rad knirschte und seufzte, die Dorfkinder standen herum und schauten dem Esel zu.
Das steinerne Untergeschoß, halb in den Berg gebaut, ist ein niederer Raum, dessen Düsterheit durch die paar winzigen Fenster an der Hofseite nicht aufgehoben ist. Oben dröhnten die Dreschflegel, und hier drehte sich langsam der Trieur, zu dessen Antrieb das Eselchen draußen angestellt war. Eine Anzahl Mädchen war damit beschäftigt, das durch eine Holzröhre vom Tennenboden herabfließende Gut dem Trieur zuzuführen und das gesiebte Getreide in die Fächer zu schaufeln, die durch Bretterwände von einander geteilt – die Hinterwand des Raumes ausmachten. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, und es dauerte eine Weile, bis ich in dieser dröhnenden Düsterheit die Mädchen erkannte: Irmgard war unter ihnen.
Der süßliche Geruch des frischen Korns schwebte dick in der stauberfüllten Luft.
»Grüß Gott«, sagte ich überflüssigerweise, denn man konnte überhaupt kein Wort vernehmen, »grüß Gott, Irmgard.«
Einige der Mädchen, die mich bemerkt hatten, nickten mir zu; ich näherte mich Irmgard, die mich immer noch nicht sah: »Grüß Gott, Irmgard«, brüllte ich.
Sie blickte kurz von ihrer Arbeit auf und schien über meine Anwesenheit erfreut.
»Viel Kräuter gefunden?« brüllte ich weiter.
Sie machte mir ein Zeichen, mit ihr hinauszugehen, um die Unterhaltung auf bequemere Weise fortzusetzen. Wie wir die Türe gegen den Wind aufstemmten, schickte er einen raschen Wirbel herein, der das Korn aufwühlte, die Mädchen zum Husten brachte und gegen das Obergeschoß entwich.
Die Kinder standen herum, der Wind pfiff, das Eselchen wanderte im Kreise. Hier konnten wir nicht bleiben. An der Längsseite des Gebäudes gab es [einen] schmalen Streifen Windschatten. Dorthin auf den rasigen Hang neben der Bruchsteinmauer setzten wir uns. Der Dreschlärm neben uns war auch hier noch laut genug, aber man konnte sich verständlich machen.
»Nun, wie war die Kräutersuche?« wiederholte ich meine Frage.
»Und der Großmutter hat's auch nicht schlecht bekommen?«
»Nein, es geht ihr sehr gut.«
Ich hatte das bestimmte Gefühl irgend eines Anliegens, das sie an mich hätte und das ihr, ohne daß sie es herauszubringen vermochte, in der Kehle stak.
Kurzerhand fragte ich sie: »Was ist los, Irmgard?«
Sie sah mich mit ihren bernsteinfleckigen Augen an, schwieg eine Weile, und dann sagte sie: »Der Marius soll fort.«
Das war nun freilich eine kleine Überraschung; von ihrer Seite hätte ich den Wunsch am allerwenigsten erwartet.
»Hm.«
»Ja, er soll fort.«
»Der Großmutter halber?«
Sie machte ein tieferstauntes Gesicht. Von den bösen Prophezeiungen Mutter Gissons schien sie sohin nichts zu wissen.
»Eigentlich meinte ich, daß du den Marius liebst.«
»Ja«, sagte sie nach einer Weile.
»Und trotzdem soll er fort.«
»Ich will ein Kind haben.«
»Das ist einmal vernünftig gesprochen, aber da bist du freilich an den Unrichtigen geraten …«
Sie schwieg finster.
»Was also sollen wir tun, Irmgard? … der kann bloß Spruch' machen, und mich willst du nicht haben.«
Jetzt lachte sie wenigstens.
»Was will denn der Kerl von dir? warum läuft er dir nach? … er liebt dich doch nicht.«
Wild fuhr sie auf: »Er liebt mich.«
»So? … was will er aber von dir?«
»Mich umbringen.«
»Ja«, sagte ich wütend, »mit leerem Gerede, damit hat schon mancher ein Mädel umgebracht.«
Über ihr Gesicht ging ein Lächeln; meine Wut machte ihr offenbar Spaß. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, damit ihr nicht ein Windstoß die Röcke hochhebe, und mit jener heitern Sicherheit, die sie wohl von Mutter Gisson hatte, sagte sie: »Nein, er wird mich wirklich umbringen.«
»Hol's der Teufel, Mädel, mach' dich über deinen alten Doctor nicht lustig.«
Doch dann sagte ich: »Hast du etwa Angst vor ihm, Irmgard?«
Sie schaute mich ein wenig spöttisch an: »Angst? nein.«
»Ja, warum schickst du diesen Großsprecher, diesen Wanderprediger nicht einfach fort … laß ihn doch laufen!«
»Ich kann nicht«, sagte sie einfach.
»So sehr liebst du ihn?«
»Der Vater …« antwortete sie zögernd.
»Was ist's mit dem Vater, Irmgard?«
»Der Marius kommt von weit her …«
»Ja«, sagte ich, »und hoffentlich geht er auch wieder weit weg und möglichst bald.«
»Ja«, sagte sie.
»Na also … wenn du was dazu tust, wird er schon verschwinden …«
»Ich kann nicht.«
»Hör' mal, Irmgard, erst sprichst du so vernünftig und willst Kinder kriegen, und dann sagst du Ich-kann-nicht … wenn du eine von den Stadtgänsen wärest, würde ich es noch begreifen, die wollen ja auch keine Kinder haben … was hat denn übrigens der Vater mit alldem zu schaffen …?«
Sie dachte nach.
»Soll der etwa auch umgebracht werden? … wenn das so weiter geht, wird der Marius noch die ganze Familie ausrotten …«
Endlich konnte sie ihren Gedanken fassen: »Die Mutter ist hart …«
»Einigermaßen.«
»Und da muß ich beim Vater bleiben, sonst …«
»Sonst?«
»Der Vater ist schon dort, von wo der Marius herkommt oder wohin er gehen wird … er zieht ihn mit sich, dahin oder dorthin …«, und nun konnte sie das ausdrücken, was sie sagen wollte: »… um den Vater habe ich Angst … ja.«
»Hm, … da soll ich wohl helfen, den Marius wegzubringen …?«
Sie nickte mit freudiger Zustimmung: »Ja … der Vater hört auf Sie, Herr Doctor …«
»Das ist eine schwierige Sache, Irmgard … da ist nicht nur der Vater, da ist das ganze Dorf …«
Enttäuscht sagte sie: »Ich weiß …«
»Wo steckt er denn, dein sonderbarer Geliebter?«
Sie zeigte auf die Scheune daneben, aus der die Flegel herausdröhnten.
»Na«, sagte ich, »ich habe jetzt noch zu tun, aber wenn ich fertig bin, komme ich nochmals vorbei … da reden wir weiter … gar so bald hört ihr ja mit der Arbeit nicht auf …«
Manchmal dreschen sie bis in die Nacht hinein; es ist eine Arbeit, die nicht ans Tageslicht gebunden ist.
»Ja, Herr Doctor«, sagte sie folgsam und erhob sich, um wieder zu ihrer Arbeit zu gehen.
Ich kletterte den Wiesenhang hinauf, denn ich konnte auch über die Außenseite des Dorfes zu dessen oberen Häusern gelangen. Wie ich oben war, sah ich, daß das hintere Tor der Scheune weit geöffnet war, und da konnte ich mir nicht versagen, einen Blick hineinzuwerfen: um den Strohhaufen standen die Drescher in ihrer schwungvoll bewegten Haltung, das eine Bein leicht gebeugt nach hinten gestellt und es im Takt wieder straffend, sie ließen ihre Klöppel sausen, und die Körner sprangen und spritzten aus dem Haufen wie goldene Tropfen. Marius war mit dem Rücken zur Tür gewendet, und manchmal sah ich sein kühnes Profil, fanatisch dieser Arbeit hingegeben und es glich dem des Miland.
Ich pfiff Trapp, der irgendwo im Hof bei den Zäunen beschäftigt war, und entfernte mich, erreichte den schmalen Fußweg, der hier oben führt und am Dorfende mit der Straße zusammentrifft, und mußte scharf ausschreiten, um nicht zu frieren; der Wind wurde immer schärfer und so kalt, daß die Gerüche in ihm erstarrt waren und man nichts mehr von ihnen merkte. Aus Irmgards Gerede war ich nicht recht klug geworden, im Grunde hieß es nur, daß sie in diesen Kerl unglücklich verliebt war und daß sie von mir irgend eine unklare Hilfe erwartete, die ich ihr nicht geben konnte. Da wäre Mutter Gisson besser am Platze gewesen, und ich beschloß, mich in irgend einer Form an diese zu wenden; man konnte ja das arme Mädel nicht in dieser Verwirrung lassen. Freilich kann man für niemanden das Schicksal bestimmen, und ein Mann kann dies überhaupt nicht, der pfuscht von vorneherein, aber Mutter Gisson traute ich es zu.
Der Nachmittag verging, und es dunkelte bereits, als ich mit meinen Visiten fertig war und über die Straße zum Berghof herabkam. In unverminderter Stärke blies der nun nächtlich werdende Sturm, doch nicht mehr so trocken war er wie während des Tages, schon führte er die Milde der Feuchtigkeit mit sich, und am nördlichen Rand des Himmels lagen wartend schwarze Wolkenmassen. Einige Fenster waren beleuchtet; auch die Küchenfenster Mutter Gissons warfen gelbe Lichtvierecke auf die Straße. Ich schaute durchs Fenster: Mutter Gisson und Mathias saßen bei der Abendsuppe, Irmgard fehlte; sie mußte also noch in der Tenne sein, obwohl der Druschlärm bereits erschwiegen war. Ich hätte sie nun natürlich auch in der Wohnung abwarten können, aber irgend etwas sagte in mir, daß es richtiger sei, sie zu holen.
An der Mauerecke hinter dem Spitzbogentor baumelte eine Glühlampe im Sturm. Dunkel und schweigend lag der Hof da, ringsum die Wohnungseingänge, drüben die schwarzen Konturen der Tenne. Eine der Wohnungstüren öffnete sich mit raschem Lichtschein, und ein Kübel Spülwasser wurde in den Hof hinausgeschüttet. Wieder durchquerte ich die Gärten, in denen der Wind an den kleinen Obstbäumen rüttelte und ihre Blätter zu einem raschelnden Rauschen brachte, und kam zu dem Platz vor der Tenne. Der war nun leer, das Eselchen hatte seine Arbeit beendet, aus den kleinen Fenstern des Untergeschosses drang schwaches Licht.
Unten war niemand. Das Licht stammte von zwei dicküberkrusteten Deckenlampen, in deren Umkreis der Staub wie ein lockerer Mückenschwarm zitterte. Aber die Luft war jetzt atembar und still. Die Gerätschaften lagen umher, am Trieur lehnten zwei Holzschaufeln, die Friedlichkeit des kommenden Winters saß in den Winkeln der Fächer und in den unsichtbaren Raumtiefen, aber vom Obergeschoß her hörte ich Stimmen. »Bist du's, Irmgard?« rief ich hinauf, und da man mir nicht antwortete, erklomm ich die Treppe, die unter meinen Tritten mächtig krachte.
Als ich auf den letzten Stufen war und den obern Raum überblicken konnte, sah ich Irmgard und Marius inmitten der blankgefegten Tenne stehen; sie schauten einander in die Augen und rührten sich nicht.
»Guten Abend«, sagte ich, freilich ohne Erfolg, denn keines der beiden wandte auch nur den Kopf, auch nicht, als ich meinen Gruß wiederholte. Sie waren etwa einen Meter weit von einander aufgestellt, Marius leicht vorgebeugt und mit etwas erhobenem Arm, als sei er mitten in einer Bewegung stecken geblieben. Irmgard rank und gerade. Hatten sie einander hypnotisiert? Jetzt blieb auch ich stehen und wartete.
Jetzt sagte der Mann: »Dein Opfer wird groß sein.«
Der Raum lag in einer weiten Finsternis. Eine einzige Glühbirne hing von der Decke, gerade über den beiden. Das rückwärtige Scheunentor war jetzt geschlossen, doch der Wind pfiff durch die breiten Ritzen der Bretterwände, und mit einem unablässig kratzenden Säuseln bewegten sich die Halmspitzen der aufgestapelten Garben in dem Luftzug. Sonst hörte man nichts.
Marius wiederholte: »Dein Opfer ist groß, ich liebe dich.«
Endlich sprach auch sie, und ich war froh, daß es ihre gewöhnliche Stimme war, wenn auch vielleicht etwas steifer als sonst: »Ja, es ist ein großes Opfer, denn du bist unfruchtbar, du bist kußlos, und ich werde kein Kind tragen.«
Er dagegen hatte seinen Predigerton: »Mehr als gebären wirst du, mehr als empfangen … für dein Opfer wird dir geopfert werden.«
Es war furchtbar und grotesk zugleich. An der Psychose dieses Mannes war nicht zu zweifeln, indes Irmgard war keine Irre, mochte sie auch aus hochgezüchtetem Bauernblut entstammen, nein, sie war keine Irre, und ich rief: »Irmgard.«
»Ja, auch ich liebe dich«, antwortete sie, als ob ihr Name von ihm gerufen worden wäre.
Marius unbeweglich vorgebeugt: »Jungfräulich gebiert das Licht den Himmel und die Erde … gebiert die verschlungenen Geschwister, jeden Tag aufs neue geboren in der Sonne …«
Irmgards Haare bewegten sich leise in dem pfeifenden Zugwind, der durch die Finsternis strich, über ihre Stirne hing ihr eine Strähne, aber sie schob sie nicht fort, und ihr Mund mit feuchten Lippen, geöffnet wie zum Traum oder zum Trinken, atmete die unbewegliche Erwartung der liebenden Frau, atmete ihr Geöffnetsein, ihr Sein.
»Im jungfräulichen Blut der Umarmung«, erklärte er in seiner noblen Redeweise und mit priesterlichem Tonfall, »werden Himmel und Erde sich wieder küssen und ihre Sehnsucht wird gestillt sein.«
»Ja«, sagte das Mädchen.
Es hat mich immer gewundert und mißtrauisch gemacht, daß Menschen in Trance ein so hochtrabendes Gewäsch von sich geben, und so weit ich den Marius kannte, war es nicht ausgeschlossen, daß er zu jenen Narren gehörte, die neben ihrem Irresein auch noch Komödie spielten, daß es eine Komödie war, die er sowohl vor Irmgard, als vor mir aufführte – allerdings zu welchem Zweck? um seine männliche Unfähigkeit zu bemänteln? – und trotzdem überrieselt es mich kalt, so oft ich dem Sprachreichtum solcher Irrer begegne. Ist es nicht der genialische Urgrund alles Mensch-Seins, der in der Sprache des Irren zum Ausbruch kommt? Ist es nicht das, was am tiefsten Grunde des Wissensschachtes ruht, ist es nicht das, was in uns allen lebt und uns in tiefster Verwandtschaft verbindet? die närrischen Urgründe des Denkens und der Sprache, die nicht mehr erfaßbaren, die saugenden Kräfte des Irdischen, die uns hinunterziehen zu den dunklen Wurzeln aller Ernten?
Nun schwiegen sie wieder. Die Glühbirne über ihnen pendelte leise hin und her, ihr Licht fiel auf den großen Getreidehaufen, der hinter den beiden aufgeschichtet war, vorbereitet für den nächsten Tag, um durch den breiten Holztrichter zum Trieur hinabgeschickt zu werden, und die weichen Wellenberge des Körnerhaufens glänzten im Lichte, als ob sie feucht wären, tiefeingeschattet hingegen waren die Wellentäler, ich aber im vollen Licht und doch unsichtbar, war gebannt und erstarrt, es hatte die Dunkelheit mich ergriffen.
Doch nun erhob der Mann wieder seine Stimme: »Die Berge haben gesprochen, sie zittern unter der Last des Himmels, der zur Erde sich wieder herabbeugen will, und die Erde will sich zitternd ihm öffnen …«
»Wer bist du?« fragte das Mädchen.
Unbeirrt fuhr er fort: »Ernte um Ernte gebiert die Erde, und doch ist sie die Jungfrau, wenn der Himmel sie beschattet …«
»Bist du der Himmel?« fragte das Mädchen.
»Ich bin der Löwe«, stellte er sich zu meiner Überraschung vor. Und obwohl ich noch festgehalten und angewurzelt war, fand ich meine Sprache wieder, und ich rief:
»Irmgard.«
»Man ruft dich«, sagte er, ohne den Blick zu wenden.
»Ich will es nicht hören.«
»Du kannst gehen.«
»Du hast mich gerufen, sonst niemand.«
»Ich habe dich zum Opfer gerufen.«
»Ja, du bist der Vater.«
»Noch nicht.«
»Wann wirst du es sein?«
»Bis dein Blut zur Erde zurückgeflossen sein wird, bis in deinem Opfer die Mutter dem Vater sich wieder gatten wird, die Erde dem Himmel, die Geschwister jeglichen Tages …«
»Du aber bist der Himmel.«
»Als Vater dich tötend, kehr' ich als Himmel zu dir, Erde Gewordene, als Gatte zurück.«
»Ja«, hauchte das Mädchen, und es war [, als] sproßten Nachtblumen aus der Dunkelheit.
Und dann sagte sie: »Tue es.«
»Noch nicht«, antwortete er.
»Wann wirst du es tun?«
Jetzt endlich bewegte er sich, löste den Blick aus ihren Augen, richtete sich auf, und als spräche er zu dem großen Holztrichter, der da neben ihm gähnte, begann [er] in dem sonderbaren Singsang, den ich schon einmal von ihm gehört hatte: »Die Seilbahn ist gerissen, es wird die Zeit kommen, es wartet die Erde, schon zittern die Berge, schon brüllt der Krieg, und die Erde saugt das Blut und ist doch nicht satt, ist nicht erlöst, denn schuldiges Blut sickert in sie, schuldiges Blut wird ihr vergossen, das sie nicht mag, schlechter Dünger, Dünger für neue Laster, für neue Lüste, für neue Lästerungen …«
Kein Zweifel, er litt an Wortassoziationen.
»… bis der erstehen wird, der vom Vater Gesendete, der Sündenfreie, er selber der Vater, der das Opfer vollbringt, das freiwillige und schuldlose Opfer, rein im Blute der Jungfrau, aufgenommen von der dürstenden Erde, ja, dann wird die Jungfrau wieder zum Schöße der Erde, es wird die Mutter zur Tochter, Bitternis und Bösheit werden verschwinden in der Festigkeit der Berge, reich wird das Reine herabrinnen von den Triften, und das Meer wird die goldenen Ernten emportragen zur Sonne, goldene Spur des Löwen im Brote des Menschen, im Sonnensegen der Mutter, Samen der Sonne, Frucht des Vaters auf den Brüsten der Erde …«
Sein Singen wurde immer atemloser, es war zu einem klagenden Jubeln geworden, durch das Wind pfiff. Aber plötzlich holte er nochmals seinen ganzen Atem und er rief: »Denn im Korn kommen Himmel und Erde wieder zusammen.«
»Ja«, sagte jetzt Irmgard.
»Oh, Mutter«, schrie er.
Und dann stürzte er steif wie ein Stock in den Getreidehaufen neben dem Trichter, Hände und Gesicht in den Körnern vergraben, als wollte er sein ganzes Sein und sich selbst ihnen vermählen.
So blieb er liegen und regte sich nicht mehr.
Irmgard stand noch so da, wie sie gestanden hatte, sie hielt den Blick in die Ferne gerichtet und schien von dem, was der Marius inzwischen aufgeführt hatte, nichts bemerkt zu haben.
So blieb die Szene erstarrt.
Vielleicht hätte auch ich mich nicht so bald aus der Erstarrung, die auf mir gleichfalls lastete, befreien können, wenn nicht jetzt mit einem Schlage der Regen eingesetzt hätte und mit weichem Prasseln gegen die Holzwand der Scheune und auf ihr Dach getrommelt hätte. Feucht und lösend war nun der Wind, der durch den Raum fegte, sein Pfeifen war runder und tiefer geworden, und langsam, unsichern Fußes noch, als träte ich auf schwankenden Boden, konnte ich mich dem Mädchen nähern. Vorsichtig faßte ich sie unter dem Arm.
»Wann?« fragte sie in ihrem Traum.
»Komm«, sagte ich und führte sie die Treppe hinunter.
Mit großer Macht schlug uns der Regen entgegen, als ich unten die Türe öffnete. Mit durchnäßtem Fell und schweifwedelnd stand Trapp da, glücklich lächelnd, weil seine Geduld belohnt worden war. Er stellte sich auf, legte die Pfoten auf Irmgards Schulter und, ehe ich [es] verhindern konnte, hatte er das Gesicht der Schlafenden mit seiner langen Zunge geküßt.
»Das Tier«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich, »es ist nur der Trapp.«
Es war gut, daß es regnete; schwerer rauschten jetzt die Äste in den Gärten, die Zäune glänzten feucht, naß knirschte der Kies unter unsern Füßen, aber Irmgard wurde wach, und ließ sie nun auch mit geschlossenen Augen und willenlos sich von mir führen, sie hob dennoch die Hand, die Regentropfen von der Stirne zu wischen.
»Irmgard«, sagte ich.
Und sie sagte: »Ja.«
»Hast du noch Angst, Mädel?«
Geschlossenen Auges schüttelte sie den Kopf.
»Mit diesen Opfergeschichten wollen wir aber jetzt gründlich aufräumen …«
Sie bekam den zerquälten Ausdruck eines Menschen, der sich eines Traumes zu entsinnen sucht.
Dann sagte sie: »Es regnet.«
»Jawohl, Irmgard, es regnet … weißt du wer ich bin?«
Sie hatte die Augen noch immer geschlossen: »Der Herr Doctor.«
»Na also«, sagte ich.
Doch sie suchte noch nach ihrem Traum: »Es ist der Regen des Vaters, und die Erde trinkt ihn.«
»Gerade zur rechten Zeit«, sagte ich, »hätte es acht Tage früher geregnet, so wäre die Ernte hin gewesen.«
»Ja«, sagte sie, »die Ernte.«
Aber nun öffnete sie die Augen.
Durch den Hofeingang betraten wir die Wohnung, durchschritten die dunkle Hinterkammer und kamen in die helle Küche. Der Mathias saß noch am Fensterplatz, Mutter Gisson aber auf einer der beiden alten Truhen an der Wand. Trapp beutelte sich und ging schnurstracks zum Herd, vor dem er sich zusammenrollte.
Mutter Gisson lächelte: »Beinahe hätte ich Angst um euch gehabt.«
»Ja«, sagte ich, »der Teufel soll alle Propheten und Prediger holen.«
»Ihr seid wohl getauft worden«, sagte der Bergmathias vom Fenster her.
In ihrem nassen Kleid stand Irmgard in der Mitte der Küche, sie lächelte und rieb sich die Augen.
»Komm her, Mädel«, sagte Mutter Gisson, und als das große Mädchen vor ihr stand, da zog sie es zu sich herunter, nahm es auf den Schoß und streichelte es als ihr liebes Kind.