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XIII.

Wie Großstadtschmutz im Flusse vermündet und, wieder rein geworden, ins Meer getragen wird, so läuft alles Elend, durchsichtig und rein geworden, wieder ins Leben zurück, wird wieder zu dem, was es gewesen ist, was es war und ist, was es bleiben wird: Leben, ein Teilchen des Ganzen, unerkennbar in der Ganzheit, aufgesaugt von ihr, unerkennbar in ihr, untergegangen im Unwandelbaren. Ja, selbst die Scham, dieses heilige Gut des Menschen, das tiefer in ihm hinabreicht, als er es oft wahrhaben möchte, die Scham, die länger währen wollte als der Schmerz, auch sie wird wieder durchsichtig und zum unerkennbaren Leben, wird zu einer Linie der Abendröte, wird zu einem Staubhauch auf einem Falterflügel, wird zu einem Gedanken im Meer des Gedachten. Noch schwang das Elend jener Schreckensnacht in schweren Wellen nach, und doch schwang es bereits aus. Irmgard war begraben worden, Sabest hatten wir mit zerschmettertem Schädel in den Felsen gefunden, Wetchy lag zuschanden geschlagen im Bett, welch ein Elend!, und doch ordnete es sich schon ein, wurde durchsichtig und unsichtbar, wurde zu kleinen Kräuseln im Meer der Erinnerung und des Vergessens: nicht nur, daß Lax sein Holz zum Zwergenstollen hinaufschaffte und der Wenzel mit seinen Burschen durchs Dorf marschierte und stolzierte, so unbefangen, als hätte das grause Geschehen nicht stattgefunden, auch für die Betroffenen begann es in den Alltag zurückzugleiten, und wenn auch das Wirtshaus zwei Tage geschlossen gewesen war und Peter nun doch zur Lehre oder zur Schule in die Stadt sollte, und wenn auch Wetchy von seinen Abreiseplänen sprach, es wurde der dunkle Anlaß, der hinter alldem sich immer mehr verbergende, kaum mehr erwähnt, er wurde in den Seelen bereits mählich verarbeitet und nach Licht- und Schattenseiten abgewogen. Und Miland brachte mit Hilfe des Andreas und des Marius seinen Mais ein. Denn unverändert ruhten die Felder im Tale, der Pflug ging über sie hin, Geviert um Geviert wurde schwärzlich und braunrot, oben auf den Höhen wurde der letzte Hafer, der nicht mehr reif werden wollte, geschnitten und aufgeladen, und in Kürze werden die Kartoffeln ausgenommen werden. Unverändert aber auch schien das Leben Mutter Gissons, schien es bleiben zu wollen, still ging sie im Hause umher, und sogar den alljährlichen Schnaps hatte sie wieder angesetzt; einmal traf ich die Agathe bei ihr an, und einmal kam sie mit ihr gerade aus dem Wald, da ich auf dem Heimweg war: da standen die beiden Frauen, die alte und die schwangere, am Ufer der Wiesenböschung und schauten in das herbstlich sonnige Tal hinab.

Daß die Frau des Mörders Sabest das Wirtshaus nicht Hals über Kopf verkaufte, sondern wenigstens vorderhand weiterführte, ging zum Teil auf die langen Gespräche zurück, die ich mit ihr über ihr Schicksal und das ihres Sohnes geführt hatte. Und im Laufe dieser Gespräche war, vielleicht weil sie das Altern jetzt herannahen fühlte, vielleicht aus weiblicher Verbundenheit, bei ihr der Gedanke an Agathe als künftige Schwiegertochter aufgetaucht: stets sei sie bedrückt gewesen, daß der Peter eine Unanständigkeit hätte begehen und das Mädel verlassen können, und jetzt, angesichts all der Furchtbarkeit, würde er doch ernst und vernünftig werden und sein Unrecht gut machen wollen. Meinen Rat, einfach mit Agathe zu sprechen, hatte sie befolgt, allerdings ohne viel heimzubringen, denn Agathe hatte weder Ja, noch Nein gesagt, sondern sich bloß geweigert, den Peter vor seiner Abreise zu sehen.

Ich erzählte die Sache Mutter Gisson.

»Das Mädel hat recht«, sagte sie, »der Peter wird nie ein Mann für sie werden.«

»Das läßt sich doch noch nicht sagen, Mutter, die beiden sind ja noch hundsjung … und aus einer Liebe kann immer noch was Richtiges wachsen.«

Ich saß bei ihr in der Küche. Auf dem Fensterbrett, an der Sonne, stand eine der neuen Schnapsflaschen, am Halse vermummt und zugebunden.

»Die Agathe ist dort, wo sie sein soll«, entgegnete sie, »er aber hat die Gier der Eltern …«

»Jeder Mensch kann sich ändern, läßt sich ändern … und der Peter hat ja jetzt doch einen Stoß gekriegt.«

»Nein, dazu ist er noch zu jung … der wird noch durch viel dunkle Gier durchgehen müssen, ehe er aus der Dunkelheit herauskommt … wenn überhaupt.«

»Ein lediges Kind bleibt ein lediges Kind«, meinte ich, »es ist doch ein Unglück, das ihr da zugestoßen ist.«

»Für die Agathe war's kein Unglück, für die war's schön und richtig … so hätte die Irmgard werden müssen … ich wollte bloß, ich könnt' noch eine Weile bei ihr bleiben …«, ihr Gesicht bekam wieder den fernen Ausdruck, den ich so gut an ihr kannte, doch dann lächelte sie, »… aber die Irmgard dürft' mich dringender brauchen als die Agathe …«

Sie lächelte, aber ich spürte den Ernst, und ich wagte keine meiner üblichen Abwehrworte vorzubringen.

»Ja«, sagte sie dann, »du kannst ja übrigens auch selber einmal mit der Agathe reden … solltest dich überhaupt ein bißchen um sie kümmern … dann später …«

Draußen schien die Sonne, in breiten Bändern wurden die Windwolken dahin getragen, Mutter Gisson saß da, gesund und stark, vielleicht ein wenig müde, der nächstjährige Schnaps war vorbereitet, vielleicht war es wirklich nur die Nachwirkung jener Nacht, die sie so reden machte. Trotzdem, Mutter Gisson war nicht ein Mensch mit Stimmungen.

An einem der nächsten Vormittage besuchte ich Agathe.

Das Wetter hatte jäh umgeschlagen. Im Gebirge oben mußte es geschneit haben, durch den dicht fallenden Regen hindurch schmeckte man den Schnee, der sich hinter dem Nebel verborgen hielt; der Nebel war wie steifes altes Leinen um die Berge herumgehängt, dahinter war die Werkstatt des Winters. Trapp, der vor mir herlief, beneidete mich um meinen Lodenmantel, dessen Kragen ich hochgeklappt hatte. Im Unterdorf aber war es etwas milder.

Strüm war beim Holzspalten unter dem Vordach seiner Scheuer; ein großer Teil des Winterholzes lag schon aufgeschichtet längs der Scheuerwand, sauber ausgerichtet, mit hellgelben Schnittflächen.

»Immer fleißig, Strüm, so eine Menge Holz.«

Er strahlte: »Was soll man machen, Herr Doctor? ein Kind will eine warme Stube haben. Und wir sind im Oktober, morgen kann der Winter da sein.«

Aus der Stalltüre kam Agathe, einen Holzeimer in der Hand. Ihre Schwangerschaft war nun schon deutlich sichtbar, vorgewölbt der kleine runde Bauch und das Gesicht gestreckt, versehen mit den Zeichen des Alterns. Aber kindlich verklärte es sich: »Noch ein Besuch … der Herr Doctor.«

»Ja, der Herr Doctor, aber in der Nässe bleibt er dir nicht stehen.« Und ich ging ins Haus, zog meinen Mantel aus und setzte mich zum Herd.

Sie war mir nachgekommen und deutete zur Stube!

»Nein, nein, ich bleibe schon da, da ist's wärmer … oder ist dort wer drin? du sprachst von noch einem Besuch …«

»Nein«, sie lächelte glücklich, »die Mutter Gisson war heute schon bei mir.«

»Sowas!« Ich war übrigens wirklich erstaunt, daß Mutter Gisson bei diesem Sauwetter ins Unterdorf gekommen war.

»Mit dem Herrn Suck ist sie heruntergefahren«, berichtete Agathe weiter.

»Aha.« Es mußte immerhin eine bedeutsame Angelegenheit sein, die Mutter Gisson veranlaßte, eigens anspannen zu lassen.

»Und jetzt ist sie beim Miland drüben, und dann geht sie zur Frau Sabest.«

Jetzt konnte ich mir einen Reim machen: »So zur Frau Sabest … wohl wegen dir und dem Peter?«

Es war ihr offenbar bekannt, daß ich Bescheid wußte, und sie bestätigte es einfach: »Ja … und damit die Frau Sabest nicht meint, ich sagte Nein, weil der Herr Sabest die Irm … weil der Herr Sabest das getan hat, und damit sie sich nicht kränkt, deswegen wird die Mutter Gisson zu ihr heute hingehen.«

»Das wäre auch wirklich kein Grund, Agathe. Was der Sabest getan hat, das ist gesühnt, und die Leute werden es bald vergessen … aber das ledige Kind vom Peter Sabest werden sie weniger leicht vergessen, das bleibt da …«

Agathens Gesicht wurde glücklich: »Ja, das bleibt da … und die Leute können mir nichts anhaben, mir nichts und dem Kind nichts …«

»Agathe«, sagte ich, »das Kind ist noch nicht da, aber wenn es einmal da sein wird …«

»Bald.«

»Ja, bald, in sechs Wochen … wenn es da sein wird, dann wirst du vielleicht auch den wieder haben wollen, den du geliebt hast, und für das Kind den Vater …«

Da trat eine Wandlung in ihren Zügen ein, alle Kindlichkeit war mit einem Male verschwunden; sie wurden reif und fraulich, und langsam sagte sie: »Ich bin in der Freude.«

Der Regen draußen fiel stärker, gleichmäßiger, freudlos, hier aber freute sich ein Mensch, weil er einen andern in sich trug, getroffen vom Regen der Sterne, der voll Freude ist. Und ich sagte: »Ja, Agathe, du bist in der Freude.«

Und nach einer kleinen Weile sagte sie: »Was gewesen ist, ich und der Peter, das war eine schöne Dunkelheit, aber in der Dunkelheit gibt es keine Freude … für mich aber hat das Helle kommen müssen und die Freude … nimmer dürft' das Dunkle jetzt wieder über mich hereinbrechen, da würde ich mich vor dem Kind ja schämen …«

Mutter Gisson hatte recht; überflüssig wäre es gewesen, Agathe umstimmen zu wollen. Trotzdem sagte ich noch: »Oft brennt in der Dunkelheit ein unscheinbares Licht, und man muß es bloß anfachen, dann wird es die Liebe …«

Sie lächelte: »Der Peter hätte es mit mir schon nicht angefacht.«

»Wahrscheinlich müßtest du es ihm erst lehren.«

Fest sagte sie: »Ich will es ihm nicht lehren, und er würde es nicht lernen wollen, er kann nur die Dunkelheit wollen, und deshalb hat er auch dem Wenzel folgen müssen …«

»Agathe«, sagte ich, »vielleicht kannst du nur nicht verzeihen.«

Sie dachte nach und schaute auf ihre Hände, die sie nach Art der Schwangeren über den Bauch gefaltet hielt: »Doch …« sagte sie, »doch … aber die Freude ist so groß, daß ich gar nicht ans Verzeihen zu denken brauche … sie ist so groß, daß sie noch da sein wird, wenn ich schon gestorben sein werde, und sie wird trotzdem noch immer meine Freude sein … ich glaube, sie war sogar schon da, seitdem die Welt besteht, ehe ich auf die Welt gekommen bin, und sie hat mich in sich aufgenommen, als ob ich das Kind wäre … kann das nicht so sein, Herr Doctor?«

»Ja, Agathe«, sagte ich, »das könnte wohl schon so sein.«

Strüm trat ein. Über dem Bäuchlein mit der zusammengerollten Schürze hatte er die Hände gefaltet, als wäre er selber schwanger.

»Strüm«, fragte ich, »soll's ein Mädel oder ein Bub werden?«

»Zwillinge«, rief Agathe.

»Ja, aber Mädeln«, meinte Strüm, »die Buben werden alle närrisch.«

»Kommt schon vor«, meinte ich.

»Und ob sie närrisch sind«, sagte Strüm, »heute, bei dem Wetter sind sie hinauf, den Berg aufmachen.«

»So?« Der Gedanke durchzuckte mich, daß der Bergmathias und Suck die Gelegenheit benützen könnten, um eine fürchterliche Schießerei dort oben zu veranstalten. Glücklicherweise war der Suck im Unterdorf. Aber ich traute es dem Mathias auch alleine zu, und nun gar, wo er auch noch an Blutrache für Irmgard denken mochte.

»Ich glaube, der Marius ist auch mit hinauf«, erzählte Strüm weiter.

Es war mir klar, daß Mutter Gisson von diesen Vorgängen erfahren haben mußte, ja, daß ihre Fahrt ins Unterdorf damit zusammenhängen mochte. Ich mußte sie sprechen.

»Ich möchte zum Miland hinüber, ehe Mutter Gisson weggeht«, sagte ich und stand auf.

»Herr Doctor«, sagte Agathe schüchtern, »ich möchte noch gerne etwas fragen …«

»Ja, Kind … tut dir was weh?«

»Nein … Herr Doctor, aber ich habe Angst … ist Mutter Gisson krank?«

»So etwas darf man einen Arzt niemals fragen, erstens weil er's niemals weiß, und zweitens weil er's nicht beantworten darf … aber Mutter Gisson ist nicht meine Patientin, und deshalb kann ich dir sagen, daß ich sie für so gesund halte, wie wir drei zusammen es sind …«

»Ja, aber sie spricht vom Sterben …«

»Sie ist eine alte Frau, Agathe … alte Leute sprechen manchmal vom Sterben.«

Sie war sichtlich erleichtert: »Sie hat mir ja auch versprochen, mit mir auf die Kräutersuche zu gehen.«

»Na, siehst du.«

Ich schlüpfte in meinen nassen Mantel und ging zu Miland hinüber. Der Regen war noch dichter geworden, Himmel und Erde bildeten zusammen einen Brei aus Oktober, Kälte und Hoffnungslosigkeit.

Mutter Gisson war richtig noch da; sie saß mit ihrer Tochter beim großen Küchentisch, und die Bäuerin hatte einen Fetzen Papier vor sich liegen, auf dem sie mit schlechtgespitztem Bleistift Zahlen schrieb.

»Da bist du ja doch«, begrüßte mich Mutter Gisson, »wir wollten dich abholen, der Suck und ich, aber du warst schon fort.«

Für die Milandin bedeutete ich eine Störung; sie war mit ihrer Schreiberei beschäftigt: »Sechsundzwanzig Tage und einen halben«, sagte sie.

»Was geschieht denn da?«

»Ach, das Kostgeld für die Irmgard will sie abrechnen«, antwortete Mutter Gisson.

Es war mir etwas unheimlich; denn schließlich, der letzte Abrechnungstag war ein Mordtag.

»Laß gut sein«, sagte Mutter Gisson, »sie hat's ohnehin abgearbeitet.«

»Nichts hat sie abgearbeitet«, entgegnete die Milandin voller Hartnäckigkeit, »die Irmgard soll sich nichts schenken lassen.« Und sie ging zum Küchenspind, dem sie ein Porzellantöpfchen, ihre Geldkasse, entnahm.

»Ich bin aber nicht ums Geld zu euch gekommen.«

»Ich will Ordnung haben.«

Trotz des Mordtages, der am Ende der Rechnung stand, floß in Mutter Gissons Antworten ein spöttisch-belustigter Unterton ein: »Welche Ordnung willst du haben? meinst du, daß man bloß zu zahlen braucht, um Ordnung um sich zu schaffen?«

Vom Spind her klang es: »Die Irmgard soll ohne Schulden ruhen.«

Es war mir, als hätte die Miland-Bäuerin die Absicht, den Heimgang Irmgards möglichst unwiderruflich zu gestalten; nicht einmal Schulden bei der Großmutter sollten zurückbleiben. Und ich sagte: »Milandin, die Irmgard hat auf jeden Fall ihren Frieden.«

Mutter Gisson lächelte jetzt ein wenig: »Gib mir das Geld, ich will's für sie aufheben.«

Die Milandin kam mit ihrem Geldkännchen zum Tisch und schüttete es aus: »Die Toten kehren nimmer zurück«, sagte sie während des Zählens.

»Manche muß man rufen, manche muß man zurückschicken … ja …« und Mutter Gissons Stimme ging selber in eine spöttisch geheimnisvolle Entfernung, »ja, und manche sind noch unter uns, ohne daß man's weiß …«

Meinte sie damit sich selber? meinte sie Irmgard?

»Mutter«, sagte die Milandin, die sich wieder gesetzt hatte und müde die Tischplatte anstarrte, »Mutter, Sie sollen solche Dinge nicht reden.«

Der fahle und heisere Luftbrei, der draußen die Welt erfüllte, war auch hier vorhanden, vermischt mit den Schatten der Küche, dem Dauergeruch des Wohnens und mit dem leisen Zischendes Kochtopfes auf dem Herde. Und ich sagte: »Laßt die Irmgard allein, Mutter, die Seelen warten gerne.«

»Das verstehst du nicht, Doctor«, wurde ich verwiesen.

Dann tat sie das Geld in die große schwarze Börse, und ich merkte, daß sie es dabei flüchtig überzählte: »Ja«, sagte sie, »auf der Reise braucht man Geld … nicht viel, etwas … und gar zu zweit.«

Die Bäuerin hob den Blick nicht von dem rissigen Küchentisch: »Wollen Sie sie mir auch im Tod wegnehmen, Mutter?«

Mutter Gisson schüttelte den Kopf: »Wegnehmen, nein, … aber wenn sich ein Kind im Wald verirrt hat, da muß es einer suchen.«

Doch die Bäuerin hörte nicht auf sie: »Immer habe ich gezahlt, und trotzdem ist mir alles weggenommen worden, nichts ist mir geblieben. Wie das Wasser bin ich, das vom Berg herabrinnt, ich bin wie das Wasser, dem nichts gehört, das nichts behalten darf, nicht einmal seine Ufer. Nackt und schamlos bin ich wie das Wasser, nichts habe ich in den Händen, ins Nichts renne ich.«

War dies die gleiche Frau, die bei Irmgards Begräbnis stumm, schier teilnahmslos, ohne eine Träne dagestanden hatte?

Doch mit einer wilden, fast männlichen Bewegung wandte sie sich mir zu: »Sehen Sie mich nur an, Herr Doctor, … ja, sehen Sie mich an, ohne Scham bin ich geworden, ohne Scham, als ob ich keine Frau wäre, schamlos vor lauterer Einsamkeit. Wie ein Mann war ich, ein Mann, der Kinder gebärt, weniger als ein Mann, und auch der Miland ist zu einem Nichts geworden, kein Mann, kein Weib, so haben wir Kinder gezeugt, zwei Dienstboten waren wir.«

Mutter Gisson nahm mir die Antwort nicht ab. Und ich, zwar wissend, daß der Mensch in der Einsamkeit der Liebe verlustig, verfallen dem Hasse, schamlos wird und daß nur der Heilige eine Einsamkeit zu erringen vermag, in der die Liebe und die göttliche Scham ihm erhalten bleibt, ich sagte begütigend: »Seid nicht ungerecht, Bäuerin, Ihr habt geliebt und seid geliebt worden.«

Es hätte nicht viel gefehlt, daß sie, die wohl keine Widerrede erwartet hatte und schon gar nicht eine solche, mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätte; sie warf mir einen bösen Blick zu: »Wer keinen Vater hat, ist kein Weib, und wer kein Weib bekommt, verliert den Mann in sich … kein Grund war mehr unter unseren Füßen, den Fremden haben wir aufnehmen müssen, weil wir selbst nichts mehr gehabt haben, ja, Herr Doctor … und die Irmgard ist daran zerbrochen.«

Da endlich sprach Mutter Gisson: »Tochter«, sagte sie, »klagst du um die Irmgard? klagst du um den Vater? klagst du um dich? ich frage dich: wen klagst du an?!«

Es dauerte lange, ehe die tonlose Antwort kam: »Euch klage ich an, Mutter, … der Vater ist erschossen worden, und vielleicht hat er es selber getan …«

»Nein«, sagte die Mutter, »du lästerst.«

»Und wenn es auch der Wildschütz getan hat«, fuhr die Tochter gehässig und heiser fort, »so hat es der Vater gewollt, das weiß ich, er hat es wollen müssen, weil Ihr stärker gewesen seid als er … jedem habt Ihr die Kraft genommen, jedem, der um Euch war, dem Vater habt Ihr sie genommen … und auch mir.«

»Tochter«, sagte Mutter Gisson leise, »dein Vater hat mir die Kraft geschenkt, und ich habe sie ihm wiedergegeben mit aller Stärke meines Herzens … so haben wir es gehalten bis heute, und so werden wir es halten bis in alle Ewigkeit.«

Die Bäuerin war wieder in sich zusammengesunken, sie schaute auf die rissige Tischplatte und fuhr mit dem Fingernagel eine der eingekerbten Rillen entlang. Endlich sagte sie: »Ich glaube es nicht … erst ein Fremder, ein ganz Fremder hat kommen müssen; dem habt Ihr nichts anhaben können, der war stärker als Ihr …«

»Ja«, sagte die Mutter, »meine Zeit ist um, doch sie ist ohne Ende … der Fremde aber wird weiter wandern und vergehen … dann wirst auch du nimmer an den Haß glauben …«

»Euch glaube ich nicht, Mutter, Euch kann ich nicht glauben«, klagte die Bäuerin nochmals, »und selbst wenn es so ist, wie Ihr sagt, Ihr habt den Vater für euch behalten, Ihr habt mich nicht teilnehmen lassen, erschossen bloß lag er im Walde, und mich habt Ihr in die Einsamkeit entlassen, in den Haß, ohne Vater, ohne Kind, beraubt, verstoßen, enterbt, eine vaterlose Dienstmagd … das bin ich.«

Da geschah eine sonderbare Stille; möglich, daß der Regen draußen jetzt ruhiger floß oder langsam aufhörte, doch möglich auch, daß die Stille von Mutter Gisson ausging, denn es war, als ob nicht sie, sondern die Stille redete: »Was wißt ihr von der Einsamkeit, die ihr allesamt im Munde führt … ja, damals, als ich im Walde auf der Erde gelegen bin, dort, wo sein Blut geflossen ist, da war ich einsam, und, Tochter!, da war auch ich voller Klage und Anklage … mit meinen Händen, mit diesen Händen habe ich in die Erde gegraben, weil ich wollte, daß sie mir Antwort gebe, warum mir, mir jungem Weib, die Einsamkeit zugestoßen ist, und zum Himmel habe ich es hinaufgeschrieen … ohne Scham habe ich es getan, Tochter, auch ich ohne Scham, schamlos war mein Schreien, war meine Anklage, meine Einsamkeit …«

Ihre Stimme wurde noch stiller: »Der Himmel hat nicht geantwortet, und die Erde auch nicht … bis ich gelernt habe, daß es die falsche Einsamkeit gewesen ist, furchtbar wie sie war, ist sie falsch gewesen, und ich war nichts wie ein Kind, das man in der Dunkelheit allein gelassen hat und das schreit, ein Kind ohne Scham in seiner Furcht und voll von Anklagen … dann erst ist die wirkliche Einsamkeit über mich gekommen, nicht die eingemauerte, die falsche, für die die Finsternis in den Mauern ist und die noch schwärzere Finsternis außer den Mauern, sondern die große Einsamkeit ist gekommen, die licht ist wie ein Garten ohne Zaun … und ich habe gelernt, daß keine Antwort von außen kommen kann, weder von der Erde, noch vom Himmel, noch vom Tod, nichts kommt über die Mauer, nichts dringt durch sie, ich habe gelernt, daß die Antwort erst kommt, wenn der Himmel und die Erde und der Tod zu unserer Mitte gehören, zu der Mitte unseres lichten Gartens, in dem wir sitzen und den wir betreuen … unser Herz und seine Scham.«

Die Stille schwieg ihr stummes Lied. Waren die Gedanken der beiden Frauen bei jenem Mann, von dem für die eine alles Licht, für die andere alle Dunkelheit geflossen war? Mutter Gissons gutes Runzelgesicht, mochte es jetzt auch ein wenig ferne sein, war friedlich und verlor trotzdem nicht seinen steten Hang zu einem kleinen belustigten Lächeln, und die Miland-Bäuerin starrte noch immer in unbewegter Düsterkeit auf die Rille in der Tischplatte, der entlang sich ihr Finger bewegte, aber das Lied der Stille, den Raum erfüllend, so daß er nun mitschwang im leisen Glockenton der Heiligkeit, das Lied weitete sich, es nahm den Raum mit sich, so daß es nun Lied und Raum zugleich ist, wird zur Landschaft, wird zum Garten, zu einem lichten Birkengarten, und an seiner äußersten Grenze, dort wo das Lied schon aufhört und in den Hain des Todes übergeht, dort schmaucht ein Mann mit zerschossener Brust, die Jägerjoppe bequem geöffnet, seine abendliche Pfeife. Ja, so und nicht anders hatte wohl das Lied der Stille in seiner leisen Heiligkeit geklungen, so hatte es gelautet, denn unter seinen unhörbar fernen Glockenschwüngen sagte Mutter Gisson, selber fern und leise: »Tochter, um das Sterben herum ist es schön.«

Die Tochter schaute nicht auf, unbewegt blieben ihre Züge, und doch, unerkennbar woran es lag, hatte sich ein Hauch kindlicher Weichheit über sie gebreitet, über das Gesicht, über die ganze in sich zusammengesunkene Gestalt, und selbst der Finger auf der Tischplatte wurde zu dem eines spielenden Kindes. Aber es verwandelte sich die Weichheit zu kindlichem Trotz –, denn durch die sachte geöffnete Türe, die zur Stube hineinführt, schob sich nun Zäzilie in die Küche, und die Milandin sagte: »Kein Kind gehört mir.«

Zäzilie, die erst unschlüssig stehen geblieben war, weil sie die Großmutter und mich hier nicht vermutet hatte, kam mit ihren kleinen Holzschuhen zum Tisch hergeklappert, und unschlüssig blickte sie die Großmutter an, zutraulich und bereit, wieder zu entwischen. Die Großmutter aber schob sie der Milandin hin: »Nimm dein Kind.«

Zwischen der Milandin und ihrem Kind entstand ein Augenblick hilfloser Spannung. Und die Hand, die das Kind schon an sich nehmen wollte, fiel mutlos wieder auf den Tisch zurück, da von den etwas widerwillig verzogenen Lippen der Kleinen die Frage kam: »Ist der Vater nicht hier?«

Und sicherlich hatte Zäzilie sich bloß eingefunden, weil sie die Anwesenheit des Vaters bereits gespürt hatte, denn wirklich nach wenigen Sekunden trat Miland ein, arg durchnäßt, aber mitsamt seinen nassen Kleidern ein schattenhaft müder Automat, dessen Füße zufällig noch den altgewohnten Weg nach Hause getroffen hatten. Automatisch entledigte er sich seines nassen Rockes und lehnte sich, hemdärmelig, zum Herde hin.

»Die Irmgard ist tot, und ich bin da«, meldete sich das Kind, als wüßte es, daß es damit und nur damit den Vater packen und seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte.

»Nichts ist tot«, entgegnete die Großmutter, »nichts, auch die Irmgard nicht … Kinder sollen keinen Unsinn reden.«

Miland sah sie erstaunt an: »Mutter … die Irmgard ist tot, … ich selber …« Seine Stimme riß ab.

»Ja«, sagte Mutter Gisson, »ist schon recht, du selber … aber die Zäzilie soll wissen, daß die Irmgard sich im Wald verirrt hat, bei den Birken und bei den Lärchen, bei der Quelle und bei den Moosfelsen, und daß die Großmutter hingehen und sie suchen wird.«

Der Mann beim Herde rührte sich nicht; dort stand er, der Dunst der Arbeit hing um ihn, Leder und Tabak, Erde und Müdigkeit, er stand dort als einer, der selber ins Unwegsame geraten war, und schließlich sagte er: »Verirrt.«

»Wo ist der Marius?« fragte die Bäuerin, ohne vom Tisch aufzublicken.

Er machte eine vage Geste: »Auf dem Feld, mit dem Andreas.«

Wollte sie ihn noch immer herhaben, ihn, den Träger ihres Hasses, ihn, den Fremden, der stärker als die Mutter sein sollte? wollte sie, daß er sich nochmals der Mutter gegenüberstelle? Und beinahe ohne meinen Willen sagte ich: »Kündigt ihm den Dienst auf, Bauer.«

»Das geht nicht … das kann ich nicht.« Mit automatischer Schnelligkeit hatte er dies gesagt, und nach einer kurzen Pause setzte er gepreßt, doch natürlicher hinzu: »Ich brauche seine Hand zur Wintersaat.«

Ja, er brauchte seine Hand, nicht jene des Hasses, mochte auch seine Einsamkeit nicht geringer sein als die der Bäuerin, wohl aber die Hand des Bruders brauchte er, jene, die ihm noch immer die Wahrheit des Herzens und des wahrheitspendenden Seins eröffnen sollte, die Erde besäend mit der Kraft ihres körnerschleudernden Segens. Und obwohl ich wußte, daß es um den Bauer so bestellt war und daß er sich deshalb immer noch an den Marius klammerte, mußte ich auf meiner Meinung bestehen: »Miland, Ihr dürft ihn nicht behalten.«

Und da war es, als entstünde der Bäuerin plötzlich Verständnis für den Mann, mit dem sie sonst so selten eines Sinnes gewesen war, und als begänne sie, mein Wissen um ihn zu teilen, ja, mehr noch, als bäte sie mich, als bäte sie ihre Mutter, ihn zu schonen und ihm nicht den letzten Halt zu rauben, denn wie von einem plötzlich aufbrechenden Mitleid für ihn beseelt und keineswegs nur, um mir zu widersprechen, pflichtete sie ihm bei: »Nein, Herr Doctor, es geht nicht.«

Mutter Gisson sah den auf sie gerichteten, fragenden flehenden Blick der Tochter, indes ihre Miene wurde so abweisend wie die eines Menschen, der mit Wichtigem beschäftigt ist und sich nicht von Kindereien behelligen lassen will. »Bauer«, sagte sie, »du brauchst ihm nicht aufzukündigen; der Fremde zieht, wie er gekommen ist.«

Aus der dunkel verschatteten Ecke beim Herd, in der Miland lehnte, erklang es gleich tiefem Erschrecken: »Mutter … Mutter, sagt das nicht … das darf nicht sein.«

»Es ist so.«

»Mutter, dann wäre alles umsonst gewesen … auch die Irmgard …«

»Die Irmgard ist tot«, zwitscherte Zäzilie, die grausam und machtgierig auf dieses Stichwort gelauert hatte.

Und Miland, von seinen Schatten umgeben, ließ sich weiter in das Entsetzen tragen: »Wenn er die Felder nimmer säen soll, wenn die Saat nimmer aufgehen soll, einsam ich, einsam die Erde, dann gibt es auch keine Gemeinschaft mehr mit dem Kinde …«

»Er wird nicht mehr für dich säen.«

»Mutter, dann war das Opfer nichts als ein Zufall … Mutter, nutzlos ist es gewesen.«

»Gewiß«, sagte Mutter Gisson, »es war nutzlos.«

Der Mann schwieg, und die Schatten, die ihn umhüllten, wurden dichter vor Reue und Scham.

Allein Mutter Gisson scherte sich nicht darum: »Welche Felder soll der Fremde dir säen, Bauer?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht mehr, Mutter, ich kenne die Felder nicht mehr … erst wenn er sie gesät haben wird, werde ich sie wieder kennen.«

»Du kommst vom Feld, Bauer, aber du siehst nur mehr die Finsternis.«

»Nichts ist um mich herum als Finsternis, Mutter, und ich gehe in die Finsternis.«

»Ja«, sagte Mutter Gisson, »so ist der Mann. Aus der Finsternis kommt er, in die Finsternis geht er, dunkel ist das Blut, aus dem er geboren wird, dunkel der Tod, der ihn erwartet, zwischen den beiden Finsternissen ist er eingemauert … ist's nicht so, Herr Doctor?« In ihren Augen blinkte wieder ihre Belustigtheit auf, und sie wartete gar nicht meine Bestätigung ab, sondern fuhr fort: »Und weil das so ist und weil er angefüllt ist von der Furcht vor der Finsternis des Todes, da meint so ein Mann, daß man bloß den dunklen Anfang bis zum Tod hinziehen muß, damit der Tod auch gleich zum Anfang gehört, damit auch er wieder zur Geburt wird und zur Dunkelheit des Blutes. So ein Mann will gar nicht aus seiner Finsternis heraus, er will das ganze lichte Leben in der Finsternis ertränken, damit der Anfang zum Ende kommt. Ja, Herr Doctor, so ist's, wenn du's nicht wissen solltest.«

»Es wird schon so sein, Mutter«, sagte ich.

Sie wurde wieder ernst: »Die Finsternis seines Anfangs und die Finsternis des Endes, er zieht sie bis in die Mitte, das ist der Rausch, den er sauft, das ist der Tanz, den er springt, das ist der Schrei, den er schreit, und das sind die Opfer, die er schlachtet, das ist die Gemeinschaft, die er sucht in der falschen Einsamkeit seiner Finsternis, die Gemeinschaft des Anfangs, die Gemeinschaft seines dunklen Blutes will er bis zum letzten Ende haben, und für sie schickt er das Blut der Opfer aus, die Mitte will er darin ertränken. Aber den letzten Sprung, den er springt, und den letzten Schrei, den er schreit, er spürt ihn nimmer, er hört ihn nimmer, nichts ist um ihn herum, nur mehr die Finsternis, nutzlos das Blut der Opfer.«

Es entstand ein Schweigen. Und da sah ich zum ersten Male, daß die Miland-Bäuerin zu weinen vermochte; zwei Tränen fielen auf den Küchentisch und bildeten zwei feuchte Flecken in den Rillen. »Irmgard«, sagte sie leise und schneuzte sich.

Doch Mutter Gisson hob wieder zu sprechen an, und geschah es auch ganz ruhig und selbstverständlich und umgeben von einer gewöhnlichen Bauernküche, in der ein blanker Radioapparat auf dem Bord stand und die Suppe auf dem Herde kochte und summte, geschah es auch an einem ganz gewöhnlichen Oktobermittag, es war dennoch, als würde Mutter Gisson, als würde die alte Frau in ihr, der alte Mensch in ihr, als würde die uralt-zeitlose, zeitlos-junge Seele hinabsinken zu den Schatten noch älterer Erinnerung, da sie sprach:

»Ich habe die Herden gesehen, die Widder und die Lämmer und viele Rinder, sie sind zur Grenze alles Landes und aller Berge gekommen, es waren viele und wurden mehr und immer mehr, ohne Blöken, ohne Brüllen, stumm, denn das Blöken und Brüllen haben sie hinter sich gelassen, weil ihre Kehlen durchschnitten waren. So sind sie angetrampelt gekommen, Herde um Herde, und hinterdrein die Menschen mit Geschrei und mit Ochsenziemern und blutigen Messern, die Menschen voll dunkler Angst und dunkler Wut, besoffen waren sie vom Blut, und die haben die Tiere vor sich hergetrieben, damit sie ihnen die Grenze durchstoßen und ihnen den Weg freimachen mögen. Kein Zaun war an der Grenze, die Tiere sind hinüber, sie haben sich auf den Wiesen und in den Gartenwäldern verstreut, sie hatten es gut, sie haben gegrast und haben sich niedergelagert zum Wiederkäuen. Aber die Menschen, die hinterdrein Laufenden, Männer und Weiber, sie sind nicht über die Grenze gekommen, da war sie wie eine unsichtbare Mauer, und die, die auf den Rindern geritten sind oder sie an den Hörnern gepackt hatten, die wurden abgeschüttelt, sogar die Schafe waren stärker als sie, sie wurden alle von der Schranke zurückgestoßen, und was jenseits der Schranke war und geschah, die Wiesen und Gärten und die Tiere, wie sie weiden, das war für sie blind und wie ein Nichts, in die schwarze Finsternis haben sie hineingeschaut, und nur der Geruch der Herden, ihr Blut und ihr Mist und ihre Wärme, das war noch in der Luft. So habe ich es gesehen. Und das waren die Opfertiere.«

Es mag sein, daß es ein Traum war, der da aus ihrer Erinnerung aufgetaucht war, aber der Schatten der Wirklichkeit lag über ihm. War es nicht eine Stimme aus fernstem Wald, eine Stimme von der Grenze aller Länder und Berge, die den Traum erzählte! Denn Schatten um Schatten liegen vor den Augen des Menschen, doch auch Schatten um Schatten liegen hinter seinen Augen, Wand um Wand, und die Stimme, die aus den innersten Wänden der Seele dringt, wird unsichtbar, und was sie spricht, ist nur mehr die Wahrheit.

Wir, die wir hier die Stimme hörten, wagten nicht, die nun wieder eingetretene Stille zu unterbrechen. Indes, als berührte es mich dringlicher denn die anderen, zeichnete sie mich aus: »Ja, Herr Doctor, das ist lange her, viel länger als du denken kannst, viel länger, … und ich habe die Scham des Menschen gesehen, ich habe gesehen, wie er sich geschämt hat, da er von der Grenze zurückgestoßen worden ist und nichts mehr geschaut hat, als die Blindheit und das Nichts und die Nutzlosigkeit …«

»Ja«, sagte Miland aus der Dunkelheit beim Herde.

Und während die Stimme aus dem dunkler werdenden Schattenhain des Todes drang, sprach sie im Diesseitigen freundlich die Tochter an:

»Schamlos werden die Weiber, die den Männern auf dem Weg der Finsternis folgen, die mit ihnen den Tod ins Leben hineinziehen wollen, so schamlos werden sie, wie der Mann erdrückt von Scham wird, wenn er die Augen dann öffnet; falsche Einsamkeit ist um sie und falsche Gemeinschaft, der Mann kein Mann mehr, und die Frau nicht mehr Frau, da rufen sie nach dem Erlöser, der ihre Finsternis ausspricht und sie heiligt, da rufen sie nach dem, der stärker sein soll als die Mitte des Lebens und des Herzens, sie rufen den Fremden, der aus der Finsternis kommt, damit er sie tanzen macht in ihren Tod hinein.«

Da klagte die Miland-Bäuerin gleich einem kleinen Mädchen, das vor Schluchzen nicht reden kann: »Habe ich getanzt, Mutter? habe ich je es getan? während die anderen auf dem Tanzboden waren, habe ich des Vaters gedacht, den ich nicht gekannt habe …«

Mutter Gisson antwortete ihr nicht sogleich, doch als sie es tat, schwebte ein Lächeln in der Dunkelheit und in der fernen Stimme:

»Vom Fremden hast du erwartet, daß er dir den Vater zurückbringt, weil der Fremde aus der Finsternis gekommen ist. Das war dein Tanzplatz.«

Und dann sagte sie:

»Ich habe gelernt, daß wir in unseren Tod nicht hinüberzusterben brauchen, sondern hinüberleben können, und daß ein solcher Tod nicht umsonst und nutzlos ist, selber lebend wird dann der bittere Tod, und was lebend ist, ist niemals nutzlos, und ich habe gelernt, daß ich nicht zum Ende hinschauen soll, wenn ich es sehen will, sondern in die Mitte, und die ist da, wo das Herz ist … ja, so stark ist die Mitte, daß sie über den Anfang und das Ende hinausreicht, daß sie hineinreicht in das, was dunkel ist und was die Menschen fürchten, weil sie dort nichts sehen, als das Nichts und die Finsternis … aber wenn die Mitte so gewachsen ist, dann wirft sie ihre Helligkeit bis über die Ränder und die äußersten Grenzen, dann ist kein Unterschied mehr zwischen dem, was vergangen ist, und dem, was kommen wird, wir dürfen hinüberschauen zu ihnen, die gestorben sind und mit ihnen reden, und sie leben mit uns.«

Sprach sie zu den beiden Milands? sprach sie zu mir? sprach sie zu dem Totenchor, der lauschend im Walde ruht, die durchsichtigen Rücken an die Stämme der Birken gelehnt, staunenden Mundes solch Botschaft des in den Tod reichenden Lebens aufzunehmen? Sie sprach für die Lebenden und Toten zugleich, denn sie waren ihr eines. Die Milandin hatte aufs neue den Kopf gesenkt, erloschenen Antlitzes, das nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören schien, doch Miland war nun vorgetreten; er hielt die eine Hand auf den Tisch gestützt, während die andere automatisch nach Zäzilie gegriffen hatte, und er lauschte angespannt, wie einer, der im schweren Nebel steuert.

Und nochmals ertönte die Stimme aus dem Hain der Toten:

»Das habe ich gelernt, damals als mir der Mensch, den ich liebte, im Wald erschossen worden ist, und seit damals lebe ich im Tode und doch in der Mitte des Lebens, und meine Einsamkeit ist keine Einsamkeit mehr … tot sind nur die leeren Worte und sie führen in einen Tod, der ein Nichts ist und eine Finsternis, was aber wahrhaft hier geschieht, das reicht über den Tod hinaus und macht ihn lebend, jedes Kind, das in Liebe gezeugt und geboren wird, jedes Feld, das bestellt wird, jede Blume, die gepflegt wird, das Kind ist das Wissen, und das Feld ist das Wissen, und die Blume ist das Wissen, und es kann nicht verloren gehen, es ist größer und stärker als die Zeit und es ist die Freude, die keine Opfer braucht und keinen Tanzplatz am Rande des Todes, damit sie wiedergeboren wird, sondern die immer da ist, von Ewigkeit zu Ewigkeit, und nie verloren geht, weil nichts, was wahrhaft geschieht je verloren gehen kann …«

Mutter Gisson hielt inne, und dann lachte sie ein wenig, und mit ihrer guten warmen Stimme des Diesseits sagte sie: »Aber für den, der es nicht erlebt hat, sind auch dies leere Worte, und deshalb dürfte ich es auch gar nicht sagen … so lange du den Vater, den du nicht gekannt hast, draußen suchst, wirst du ihn nicht finden, so wenig wie du den Tod auffinden kannst und seine lebendige Wiedergeburt, noch die Wahrheit des Herzens … lebt er[st] selber die Wahrheit der Mitte, säet erst selber euer Feld, betreut erst euren Garten … seid ihr nicht zu zweit? so sehr zu zweit, daß ihr Kinder zu eigen habt?«

Miland, verharrend in seiner angespannten Haltung, schüttelte starr den Kopf: »Wie können wir zu zweit sein, da ich das Kind geopfert habe? was kann wiedergeboren werden, da die Wiedergeburt zur Finsternis geworden ist und zur Scham? wie kann es noch Gemeinschaft geben und die Wahrheit, da ich nicht einmal die mit [dem] Kinde habe finden dürfen? ich sehe nicht mehr die Wahrheit des Herzens, ich sehe nur die Scham …« Und beinahe stürmisch verlangte er meine Zustimmung: »Habe ich nicht die Irmgard geopfert, Herr Doctor? ich, ich selber?!«

Mutter Gisson war aufgestanden. Nun nahm sie Milands Hand: »Miland«, sprach sie, »glaubst du, daß es dir in deiner Einsamkeit nützt, wenn du die Kleine da nicht losläßt? hast du nicht auch die Irmgard so an dich gehalten? In der falschen Einsamkeit bist du, in der Finsternis, die am Anfang steht und aus der der Rausch kommt, und deshalb kannst du dein Fleisch und Blut nicht loslassen, willst den Rausch mit ihm, nicht die Wahrheit und nicht die Gemeinschaft, willst mit ihm dorthin, wo nichts ist. Miland! deshalb ist auch die Irmgard dorthin geraten.«

Es war, als ob Miland unter der Berührung ihrer Hand langsam seine Starrheit verlöre; der Arm, mit dem er das Kind umfangen hielt, wurde locker und fiel herab, und seine Stimme wurde unsicher, weich und fragend: »Mutter, gibt es noch einen Weg für den, in dem die Scham wohnt?«

Doch da hob die Bäuerin den Blick, den immer noch tränenumflorten, hob das Gesicht, in dem die Züge ihrer Mutter und die Irmgards eingezeichnet waren, und anstelle der alten Frau antwortete sie: »Gib mir das Kind, Mann … und komm zu mir.«

Der Mann blieb regungslos; gleichsam ohne Verständnis schaute er in die Augen der Frau, ein Mann, der sich erinnert und die Erinnerung noch sucht, ein Mann, der das Meer seines Gedächtnisses plötzlich vor sich liegen sieht, die sanften Wellen des Morgens, rauschend das Einst und das Künftige. Er blieb regungslos, wie einer, der es nicht glaubt.

Da nahm Mutter Gisson kurzerhand die Zäzilie und setzte sie auf den Schoß der Bäuerin.

»Ist es recht so?« fragte sie.

Und Miland sagte: »Ja.«

Auf dem Bord stand der Radioapparat, auf dem Herde zischte es leise im Topfe, das Geschirr an der Wand glänzte weiß durch den herbstlichen Schatten des Raumes, und einen Augenblick lang war ich enttäuscht, weil die Toten bemüht worden waren, um die Herzen dieses Ehepaars wieder ins Hausväterliche und Hausmütterliche zurückzuleiten. Aber im gleichen Augenblick schämte ich mich auch schon dieses Gedankens, der – am Radio heftend – dem Geschehenen nicht gerecht wurde. Denn die Zwiesprache der Lebenden ist kein geringeres Wunder als das der Toten, und die Mitte unseres Lebens und unseres Wissens ist die Schlichtheit, in der allein das Aufatmen des Herzens ist, seine Zwiesprache und seine Wahrheit, beschlossen das Unendliche in einem einzigen Atemzug des Endlichen. Und auch ich fühlte dieses Aufatmen, in dem die Lösung eines Bannes sich ankündigt.

Mutter Gisson war stehen geblieben und zog ihre schwarze Wolljacke an. »Ich gehe jetzt«, sagte sie, gewissermaßen um die Ereignisse zu beschleunigen. Und als sie sie anhatte, wiederholte sie: »Bauer, ich gehe jetzt, der Suck wartet mit dem Wagen beim Wirtshaus.«

Miland lächelte nur sinnend und ohne seine Haltung zu verändern: »Ich werde selber säen …«

»Vater«, greinte Zäzilie, der es auf dem Schoß der Mutter nicht paßte und zu ihm zurückwollte.

Da sagte Miland: »Bleib' bei der Mutter«, und zu den beiden hintretend, gab er seiner Frau die Hand.

Mutter Gisson nahm ihren Schirm: »Gut ist's«, sagte sie und war daran, unbemerkt zu entweichen.

»Halt«, rief ich, »halt, Mutter, ich gehe ja mit Euch.«

»Dann mach' rasch.« In ihrer Eile war etwas, das darauf schließen ließ, daß sie nicht ganz leicht wegging.

Die Bäuerin aber hatte unser nicht geachtet; sie hielt die Hand des Mannes umfangen, und während sie sich die letzten Tränen aus den Augen wischte, fragte sie jetzt: »Hast nicht schon Hunger? ruf die Buben zum Essen.«

Da war Mutter Gisson bei der Türe draußen, und ich hatte nicht einmal Zeit, meinen Mantel umzuwerfen, so geschwind mußte ich ihr nacheilen, um sie einzuholen.

Sie stand auf der Straße, mit ihrem großen Baumwollschirm beschäftigt; erst jetzt fiel mir auf, daß sie unter der Wolljacke ihr schönes Kleid anhatte; es war, als [ob] sie darin Staats- und Abschiedsvisiten machen wollte.

»Na also, Her Doctor, da bist du ja … es war Zeit, daß wir heraus gekommen sind.« Sie schaute mich ernsthaft an: »So war es doch nicht so ganz nutzlos gewesen … was?«

»Ja, aber es war Euer Verdienst, … nicht das des Herrn Marius …«

»Und doch hat er auch dafür kommen müssen.«

Es regnete nur mehr leicht; Mutter Gisson hielt trotzdem den Schirm auch über mich, obwohl ich dies in meinem Lodenmantel sicherlich nicht brauchte. Trapp, mit etwas eingezogenem Schweif, schnüffelte in jedes Hoftor hinein, ob nicht Lebewesen zu entdecken wären; aber die Höfe lagen verlassen und naß da, von den Komposthaufen rann es braun herunter, und die Hühner hatten sich untergestellt.

»Mutter Gisson«, sagte ich, »hier habt Ihr Ordnung geschaffen, an Euch ist es auch, daß mit dem Marius überhaupt ein Ende gemacht wird … heute soll er angeblich den Unfug mit dem Stollen beginnen.«

»Er nicht, er hütet sich, das besorgt der Wenzel mit den Burschen.«

»Na, das kann eine nette Rauferei mit den Oberdörflern geben, höchste Zeit eigentlich, daß ich hinauf komme …«

»Es gibt keine Rauferei … den Suck habe ich herunter genommen, und die übrigen wird der Mathias im Zaum halten …«

»Hm, das ist jedenfalls erfreulich, aber besser wäre es noch, wenn Ihr dem Menschen endgültig das Handwerk legen wolltet … das wäre eigentlich Eure Pflicht, Mutter.«

»Pflicht? im Gegenteil, ich räume ihm das Feld, im Stollen und überall … beim Miland war es was anderes, aber sonst geht mich das nichts mehr an …«

»Die Leute brauchen Euch dringender als den Marius, viel dringender!«

»Nein, sie brauchen mich nicht … was ihnen der Marius bietet, kann ich ihnen durch nichts ersetzen … meine Zeit ist um, auch wenn du mich noch hier herumgehen siehst, Herr Doctor … das sieht nur so aus …« Und Mutter Gisson lachte, ein wenig ferne und ein wenig geheimnisvoll.

Wir waren beim Eck der Kirchengasse. Durch die Dorfstraße strich jetzt ein leichter Ost, er wehte bis zu der Nebelwand, hinter der der Kuppron und der Venten lagen, benagte den Nebel und fraß die herunterfallenden weißen Fetzen auf. Und Mutter Gisson, den Schirm schräg haltend, sagte: »Mit dem Regen, wird's bald gar sein, aber Schnee kann's noch geben, wann wir oben sein werden … fahrst mit uns, Herr Doctor?«

»Ja, wenn ihr so lange wartet, bis ich mit der Ordination fertig bin … aber, Mutter, Ihr sollt nicht immer davon reden, daß Eure Zeit um ist. Mögt Ihr auch schon wo anders sein, als wir andere, gerade deshalb seid Ihr hier nötig, noch viele Jahre … Euch kann niemand so leicht ersetzen.«

»Vielleicht wird's die Agathe einmal tun, so in dreißig Jahren … aber das verstehst du nicht«, wurde ich abgefertigt.

»So, die Agathe … also ihrethalben geht Ihr zur Sabest …«

Sie nickte: »Ja, auch deshalb, man muß es beiden leichter machen.«

Wir waren beim Wirtshaus angelangt: »Also oben passiert heute nichts, Mutter Gisson?«

»Kannst ruhig sein, bestimmt nichts.«

»Und wie sieht es mit dem Gold aus?«

»Der Berg wird schon keines hergeben.«

»Na, dann wird ja der Marius ohnehin erledigt sein.«

»Deswegen? aber Herr Doctor! wie kannst denn so was glauben … es ist doch nur wichtig, daß man den Menschen etwas verspricht, doch nicht, daß man es hält … die Menschen haben immer nur von der Hoffnung gelebt.«

Und damit traten wir ein.

In der Gaststube saß Suck und trank einen Glühwein. Bei unserem Anblick stellte er das Glas bedächtig hin.

»Fahren wir schon, Mutter Gisson. Ich hab' den Gaul im Stall.«

»Nein, nein, bleib nur sitzen; ich muß erst zur Sabest-Minna, und vielleicht fährt der Doctor auch mit uns.«

»Ich habe Zeit«, sagte Suck zufrieden.

Mutter Gisson ging zur Wirtin in die Küche, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß noch keine Patienten da waren, setzte ich mich für einen Augenblick zu Suck hin.

»Trinken Sie auch einen Glühwein, Herr Doctor, das wärmt.«

Das ließ sich machen; ich bestellte mir auch einen.

Suck machte einen zufriedenen Eindruck. Die Löcher in seinen Wangen, die der Schmerz um den Tod der Frau dort gegraben hatte, waren wieder aufgefüllt.

»Also Suck, jetzt haben sie es doch durchgesetzt, jetzt sind sie wirklich beim Stollen oben …«

Suck deutete zur Küche hin: »Wenn sich die nicht ins Mittel gelegt hätte, wären die nicht bis zum Stollen gelangt … davon können Sie überzeugt sein, Herr Doctor … aber wenn die Mutter Gisson etwas befiehlt, läßt sich nichts machen … da heißt's gehorchen …«

»Hm, ja.«

»Damals im August, da hätten Sie uns schießen lassen sollen, Herr Doctor, … jetzt ist's zu spät.«

»Nur weil Mutter Gisson es verboten hat?«

»Nicht nur … aber sie weiß, was sie tut … auf die Oberdörfler ist kein Verlaß mehr, die Jungen sind alle zum Wenzel abgeschwenkt … und seit der Geschichte beim Kalten Stein sind sie ganz verrückt; es hat ihnen ja doch gefallen.«

»Passen Sie auf, Suck, am Ende werden sie sogar nun noch das Gold ausgraben und wir werden die Lackierten sein …«

Suck schmunzelte listig: »Der Berg wird sich schon wehren.«

»Soll's vielleicht wieder ein Erdbeben geben?« Diese Bergmystik ging mir doch noch immer nicht ganz ein.

»Mag sein, warum nicht … aber der Berg hat auch andere Mittel.«

In der Tat, er hatte noch andere Mittel; das sollte sich noch am gleichen Tage zeigen.

Ich hatte meinen Wein bekommen – auch Suck ließ sich noch zu einem zweiten herbei, vielleicht war's das dritte, und ich war in die Ordination hinaufgegangen, da sich inzwischen ein Patient zur Zahnbehandlung gemeldet hatte. Kaum war ich damit fertig geworden, als ich zum Telephon in die Küche gerufen wurde. Ich eilte hinunter, etwas beunruhigt, denn ohne ernstlichen Grund telephonierte die Karoline äußerst selten; der Apparat war ihr jedesmal aufs neue unheimlich.

Es war die Karoline: »Der Herr Doctor soll zum Telephon kommen …«

»Ja, ich bins ja … was gibt's Karolin'?«

»Hallo.«

Das Hallo hatte sie gelernt.

»Ja, also?«

»Herr Doctor? … Herr Doctor, der Ludwig ist da …«

»Was für ein Ludwig?«

»Der Ludwig ist da …«

»Der Schmied?«

»Ja, der Ludwig.«

»Zum Teufel, reden Sie doch, Karolin' … was will er?«

Schweigen; ich höre, daß sie mit dem Ludwig flüstert. Hierauf: »Einen verrenkten Arm hat er, sagt er …«

»Ach was … rufen Sie ihn zum Apparat, ich möchte mit ihm selber sprechen …«

Wieder das flüsternde Unterhandeln, diesmal gefolgt von einem beglückten Lachen Karolinens: »Er hat noch nie telephoniert, sagt er, er traut sich nicht … Sie sollen zum Bergwerk hinauf kommen, ein Unglück ist dort geschehen …«

»Verdammt … was ist geschehen? so fragen Sie ihn doch …«

Beim Telephon baumelte eine Schnur mit einem stumpfen Bleistift daran; es gelang mir, sie abzureißen. Endlich, noch immer mit Kichern über Ludwigs Telephonfeigheit untermengt, kam die Antwort: »Es ist was eingestürzt … vielleicht ist einer tot.«

»Der Ludwig soll auf mich warten … ich komme.«

»Hallo.«

»Ja, Schluß, ich komme zuerst nach Hause; er soll warten.«

Ich stürzte in die Gaststube: »Suck! die Schweinerei ist da …«

Er nickte gelassen: »Aha … am Berg.«

»Natürlich, wo denn?! … spann' an, Suck, ich renne indessen zum Schmied … so eine Schweinerei.«

»Schon recht, Herr Doctor.« Behäbig und zufrieden erhob er sich.

»Hoffentlich ist der Schmied da.«

Hinter mir tönte noch Sucks: »Aber ja, wo soll er denn sonst sein!« nach, und ich war auch schon zur Türe draußen, den Schmied und seine Feuerwehr zu alarmieren.

Der Schmied war da; und er war gerade daran, lange Zimmermannshaken zu verfertigen.

»Schmied, im Berg ist richtig schon was geschehen … laß' deine Leute zusammen blasen …«

»Teufel …«

»Ja, deinen Gesellen hat's auch erwischt, aber es soll auch Tote geben … das kommt von der Gewissenslosigkeit …«

Er strich sich über den Bart: »Ja, hast recht … die jungen Leute sind dumm … aber begreifen tu' ich sie trotzdem … was werden wir oben brauchen?«

»Ein paar Leitern höchstens, die Beile … und vor allem die Sanitätsausrüstung …«

»Ja, ja …«

Wir waren beide schon wieder auf der Straße, er, um seinen Hornisten zu suchen, ich auf dem Rückweg ins Wirtshaus.

Im Hof war Suck gerade daran, das bereits angeschirrte Pferd an die Deichsel zu stellen. Der Wind blies in das Wagendach hinein, daß das ganze leichte Gestell zitterte; auf dem feuchten Erdboden klebten schon die ersten herbstlich gelben abgefallenen Kastanienblätter.

»Haben Sie Mutter Gisson verständigt, Suck?«

»Noch nicht.«

»Ich muß wohl alles allein tun.«

Die Treppe hinauflaufend, in die Sabest-Wohnung eindringend, traf ich die beiden Frauen in der schön kaffeedurchschwängerten Stube, und sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß Frau Sabest zuerst gar nicht imstande war, die Nachricht, mit der ich sie aufgescheucht hatte, zu erfassen. Dann freilich, die Hände abwechselnd an die Schläfen haltend und sie wieder faltend, sagte sie: »Gott sei Lob und Dank, daß der Peter nicht mehr dabei war.«

Mutter Gisson blieb merkwürdig unbeteiligt: »Das war geschwind«, sagte sie bloß und trank weiter an ihrem Kaffee. »Wenn der Suck fertig ist, fahren wir.«

»Er ist fertig.«

»Gut.« Sie trank rasch aus, stellte die Tasse ab und erhob sich. Doch während sie die Jacke anzog, wandte sie sich wieder an die Wirtin: »Und sag' nicht, daß dein Leben zu End' ist, Minna, eher wär's zu Ende gewesen, wann alles so geblieben wäre, wie es war.«

Frau Sabest seufzte: »Schwer ist's doch.«

»Ja«, sagte Mutter Gisson und öffnete die Türe.

Auf der Treppe aber nahm sie den Gedanken nochmals auf; sie blieb stehen und drehte sich zu der ihr nachfolgenden Sabest Minna um: »Ja, schwer ist es, und schwer wird es noch sein, auch für dich, Minna, aber das Leben ist niemals zu Ende, das fangt immer wieder von neuem an …«

Dann ging sie weiter.

Wir standen im Hofe.

»So, Suck«, sagte Mutter Gisson, »hilf mir hinauf … also ich dank' dir recht schön für den guten Kaffee, Minna, und jetzt fahren wir.«

»Und ich dank' dir auch recht schön für den Zuspruch und daß du gekommen bist«, sagte Frau Sabest förmlich und war blond in ihrem schwarzen Trauerkleid.

Von der Straße her tönten die ersten Sammelsignale der Feuerwehr.

»Nichts zu danken, Minna«, sagte Mutter Gisson aus dem Wagen heraus, »keine Ursache.«

Ich kletterte gleichfalls hinauf, und Suck ruckte an den Zügeln. Der Leonberger Pluto kam daher, herrenlos, sein Gesicht war noch trauriger als sonst, und traurig sah er uns nach, Trapp beneidend, der neben Suck auf dem Bock sitzen durfte.

Auf der Straße liefen bereits die Leute zusammen; vor der Schmiede stand der Meister, den Hauptmannshelm auf dem Kopf, das Beil umgegürtet. Der Trompeter war jetzt in der Kirchengasse.

Der Schmied winkte uns, und wir hielten einen Augenblick an: »Fahrst nicht mit uns, Herr Doctor?«

»Nein, ich muß erst heim, den Ludwig verbinden … der wartet dort … ich komme dann schon nach.«

Wir fuhren wieder an.

Es war der hochräderige Wagen mit den Rohleinenkissen, der nämliche, der sonst den Pfarrer beförderte, und ich saß mit Mutter Gisson rückwärts unter dem aufgeklappten Dach, dessen schmutzig gelbe Innenseite alte und neue Regenstreifen aufwies. Aber es hatte zu regnen aufgehört, und als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten, waren die Wälder auf den Berghängen bereits sichtbar.

»Fahr' zu, Suck«, mahnte ich.

Suck auf seinem niedern Bock knapp vor uns, so daß wir über seinen Kopf hinwegblicken konnten, war nicht aus seiner Ruhe zu bringen: »Ich kann das Roß nicht totschinden.« Nichtsdestoweniger machte er »Tzt, tzt«, zu dem Roß hin, freilich ohne sein langsames Gezottel beschleunigen zu können.

Hinter uns klang, leiser werdend, noch immer das Trompetensignal, beunruhigend und aufregend. »Weiß der Himmel, wie viele da oben schon tot sein mögen, Suck!«

»Zu wenig«, antwortete er.

»Suck«, sagte ich, »wahrscheinlich ist der Stollen eingestürzt … lebendig begraben werden, ersticken, das ist eine fürchterliche Sache.«

»Ja, ja«, meinte er, »das ganze Erdreich ist aufgeweicht von dem Regen … das kann auf einen Menschen schon recht fest drücken, das ist hübsch schwer … aufgeweichte Erde gerät leicht ins Rutschen … ja, ja, wenn man etwas anpackt, von dem man nichts versteht.«

»Trotzdem kann's nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, Suck«, sagte Mutter Gisson, und es war mir, als meldete sich in ihrer Stimme allerlei Mißtrauen.

»Das sind schon die rechten Dinge«, antwortete Suck mit der Welt zufrieden.

Der Wind blies hinter uns drein, das Wagendach schwappte dumpf wie eine Trommel ohne Spannung, die dünnachsigen Räder quietschten und knirschten, und links und rechts von uns strich die Kälte mit flacher, starrer und doch ein wenig feuchter Hand über die Felder und Hänge, während sich oben die Berge immer mehr des Nebels enthüllten und schon die ersten winterlichen Schneeflecke auf den Tannenwipfeln sichtbar wurden. Wir schwiegen, und nicht einmal vom Wetter sprachen wir.

Es war etwa zwei Uhr, als wir bei der Abzweigung zu meinem Haus anlangten und ich abstieg.

»Wirst heute noch harte Arbeit haben«, sagte Mutter Gisson und gab mir die Hand.

»Ja, Mutter, wahrscheinlich.«

»Ich komme dann auch zum Stollen«, rief mir Suck nach und ließ den Gaul wieder anziehen.

Ziemlich atemlos kam ich zu Hause an, denn einen Menschen mit einem ausgerenkten Arm soll man nicht warten lassen, und der Ludwig wartete schon lange genug. Und der Arm war tatsächlich in einem bösen Zustand, nicht nur ausgekegelt, sondern überdies noch gebrochen, und das war eine verteufelte Angelegenheit, denn ich konnte des Bruches halber kaum anpacken, geschweige eine Hebelwirkung ausüben. Im ersten Moment glaubte ich, ihn ins Spital schicken zu müssen. Schließlich gelang es doch, nachdem ich zuerst einmal die Bruchstelle geschient hatte. Wir schwitzten beide, der Patient vor Schmerzen und Anstrengung, ich, weil ich meine letzten Kräfte hatte hergeben müssen. Und dann waren wir beide stolz, der Bursch ob seiner Tapferkeit, ich ob meiner Muskelkraft, und wir lobten einander sehr, als ich so weit fertig und nur mehr mit dem Eingipsen beschäftigt war. Erst als wir hernach einen Kognak tranken, wurde ich inne, daß ich über die Arbeit den eigentlichen Unglücksfall vergessen hatte.

»So, jetzt erzähl' mir noch die Sauerei, die ihr da angerichtet habt … ich muß ja sofort hinauf …«

»Ich gehe mit Ihnen, Herr Doctor.«

»Bist du verrückt? ein Wunder, daß du in der Verfassung überhaupt herunter gekommen bist, und jetzt willst du nochmals hinaufsteigen.«

Er lachte: »Aber, Herr Doctor, das muß man doch aushalten, das ist doch nichts.«

Und er ließ sich nicht abhalten. Ich hatte alles vorrätige Verbandzeug und was ich sonst brauchen konnte eilends zusammengesucht und in meinem Rucksack verstaut, und dann machten wir uns auf den Weg, er neben mir und den Hergang erzählend:

Ja, eigentlich sei kaum etwas zu erzählen. Seit gestern arbeiteten sie an der Freilegung des Stollens. Die ersten hundert Meter seien eine Kleinigkeit gewesen, es sei nur Schutt herauszuführen gewesen und sie hätten gesungen, und wenn sie dabei auch an das Gold gedacht hätten, das sie heraus holen wollten, so hätten sie eigentlich doch nicht daran gedacht, denn der Wunsch, immer tiefer in den Berg zu kommen, immer weiter drinnen in ihm zu singen, sei immer größer geworden, so groß, daß sie schließlich wohl überhaupt nichts anderes mehr gedacht hatten.

»Wissen Sie, Herr Doctor«, sagte er, »wenn man im Stollen singt, gibt es kein Echo, wenn man aber bis zum Mittelpunkt des Berges gelangen könnte, dorthin, wo das reine Erz liegt, dort müßte die Quelle des Echos sein, das man draußen hört … und dorthin haben wir gewollt.«

»Hm, auch der Wenzel will jetzt das Echo statt des Goldes? das glaube ich nicht … keinesfalls war es das Echo, das dir den Arm ausgekegelt hat.«

»Der Wenzel? auch der hat mitgesungen … und ihm ist es wohl nur mehr darauf angekommen, immer tiefer zu kommen, immerzu hat er uns angetrieben … ja, aber nach etwa hundertfünfzig oder zweihundert Metern ist das Wasser gekommen, schillerndes Wasser mit Tropfen wie Schlangenaugen … aus dem Felsen ist es hervorgesickert, und an dem verfaulten Holz der alten Zimmerungen ist es gesessen, und noch eine Strecke tiefer hat das Wasser aufgehört, und es war statt dessen die Erde da, Erde wie ein Sumpf, der von allen Seiten, auf einmal eindringt, Herr Doctor, Erde voll weicher Blasen …«

»Also dort ist es geschehen?«

Ja, dort sei es geschehen. Der Wenzel, der auch ein Zimmermann sei, habe befohlen, daß nun abgezimmert werden müsse. Sie hätten also das Holz, das ihnen der Herr Lax gebracht hätte, hereingeschafft, hätten abgepölzt, verspreizt und die Bohlen verklemmt, fünf Mann wären an dieser Arbeit gewesen, und bei jedem Hammerschlag hätten sie gesungen, während der Wenzel seine Anweisungen gegeben hätte … und auf einmal hätte es in der Erde ein Echo gegeben, nur so eine Art Echo, ein Gurgeln eher, aber vielleicht hätte ihr Singen da unten auch eher wie ein Gurgeln geklungen, und schon hätten die Pölzungen nachgegeben: er wollte noch eine Deckenbohle stützen, da hat es ihm den Arm abgedreht, drei von ihnen konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber den Leonhard und den Wenzel hat es erwischt.

»Das ist alles, Herr Doctor.«

»So, das ist alles … und was ist mit dem Wenzel und dem Leonhard geschehen?«

»Das weiß ich nimmer … wie ich selber herausgekommen bin, kann ich ja auch nimmer sagen … ich weiß bloß, daß mir und den beiden die Erde eingebrochen ist und daß sie sie erwischt haben muß … aber vielleicht können sie doch noch lebend herausgebuddelt werden … ich bin heruntergelaufen, denn einer mußte es ja tun, und mitarbeiten hätte ich ohnehin nicht können, und ich hab' mir auch gedacht, daß es besser ist, wenn der Dreckarm gleich gericht' wird …«

»Schmerzt der Dreckarm?«

»Na, es geht an … noch ein Schnaps wäre gut.«

»Ist euer Patron oben? der Krimuß?«

Wir hatten nicht die Dorfstraße genommen, sondern den kürzern Pfad, der am Berghang entlang führt, und stießen jetzt auf den Knappenweg. Von den Bäumen tropfte es, die Schneeflecke auf dem Waldboden wurden zahlreicher und zahlreicher, wuchsen zu immer größern Inseln zusammen, aus denen freilich noch das Gras und die grünen Erikastauden herausschauten, manchmal fiel ein Schneebrocken schwer und naß von einem Zweig, der dann langsam nachwippte, und die Luft des Waldes war von einer dunklen Durchsichtigkeit, die sich hoch oben über den Wipfeln, und zwischen diesen wieder hereinblinkend, zu einem festen weißen Grau verdichtete. Da wir trotz der Verletzung Ludwigs rasch vorwärtskamen, holten wir eine ganze Anzahl Leute ein, die auf die Unglücksbotschaft hin sich mit Krampen und Schaufeln ausgerüstet hatten und gleich uns zur Hilfeleistung dem Zwergenstollen zustrebten, auch den gemächlich hinansteigenden Suck holten wir so ein, und als wir bei der Kapellenwiese aus dem Wald traten, da waren wir schon ein recht stattlicher Trupp, der sich vielfüßig durch den hier bereits dichten naß-körnigen Neuschnee emporarbeitete.

Weiß waren die Brombeerstauden, die noch ihre Blätter trugen, braun lagen die geknickten welken Farnkräuter auf der winterlichen Fläche, vor uns stand die Bergkapelle, still, unbeachtet, unbenutzt, die geweihten Steine bergend, Tauschnee tropfte von der einen Seite ihres Daches herab, mächtig und kalt und nahe standen die Kuppronwände hinter ihr, und das Schlangenhaupt über dem Stolleneingang trug gleichfalls ein kleines Schneehäubchen. Doch in der Runde, in der großen Klarheit ihrer durchsichtig dunklen Luft waren die Berge gewaltig gegen den schneefarben glatten Himmel aufgerichtet, hartkonturiert ihre Gipfel und Felsen, bedeckt mit Weiß bis tief unter die Waldgrenze herab, an den Südhängen noch etwas tiefer in das Grün hineinreichend, und in all der Helle hatte das Gestein, das an jeder Stelle dem Schnee entwuchs oder ihn abgeschüttelt hatte, die Farbe einer gelblich schwarzen Finsternis: eine große und sichere Kühle, heiter in ihrer Sicherheit, spannte sich in der Runde, so krönte der Kranz des Winters das grüne und braune Tal, in dem noch weich der Herbst ruhte.

Aus der Richtung des Zwergenstollens tönte hie und da ein Ruf, hie und da ein Axtschlag, und der Schall setzte sich fort, getragen von der porzellanenen Weichheit des Echos, in dessen Spiegeln und Aberspiegeln. der Winter dem Herbst, der Herbst dem Winter, einander zusingend, sich Antwort und Gegenantwort gaben.

Hohe Erde, in der das Echo klingt, spiegelnder Garten, der die Mitte des Seins umschließt! Suchte nicht auch ich den Quell des eigenen Echos, da ich nach dem Blick fahndete, der aus mir hinausdringt, das Seiende umfassend, mich zu ihm hintragend? war ich nicht gleichfalls in der Gefahr gewesen, von dem sinkenden Traum verschüttet zu werden, vom Sumpfe erstickt? Oh, heilige Heiterkeit der Erde, heitere Heiligkeit der Mitte, holde Scham des Herbstes, enthüllt und verhüllt vom kommenden Schnee! Nimmer können wir weiter gelangen, als zu jener schwebenden hohen Mitte, in der das Erfassende und das Erfaßte sich einen, Quell des Echos und Aber-Echos, das die Erkenntnis ist, göttlich und irdisch zugleich, das Jenseitige im Diesseitigen öffnend: dies ist die Wohnstatt der Heiligen, die ihr menschliches Leben leben und doch dem Göttlichen zugewandt sind –, wohin auch immer ihr Blick fällt, da ist ihnen die Erde hoch und erhaben, wohin immer sie horchen, da erklingt ihnen der Spiegelgesang des Echos, denn durch das Nahe hindurch die Ferne sehend, ist ihr Leben zur liebenden Erkenntnis und damit zur Heiligkeit geworden, im Unzulänglichen schamhaft und demutsvoll das Unsterbliche enthüllend und verhüllend, und je tiefer sie hinabtauchen in die Einsamkeit ihres Selbst, je höher sie emporschweben zu den Höhen des Unbenennbaren – und wer vermag dann noch zu sagen, wo das Oben, wo das Unten ist! – desto schwebender, strahlender, heiterer wird ihnen die irdische Wohnstatt der Mitte, erfüllt von der Sicherheit der Horizonte.

Durch solch erhabene Wohnstatt zogen wir hinauf, freilich ohne viel von ihr zu merken oder von ihr merken zu wollen. Die Leute stießen ihre Schaufeln als Bergstöcke in den Schnee, um besser hinanklimmen zu können, scharf und schlapfend drangen die Geräte in die weiche Masse ein, und so kamen wir unter beträchtlichem Lärm bei der Kapelle an. Kein Wunder, daß die meisten auf das Goldunternehmen mit erneuter Kraft schimpften und nur wenige es verteidigten; aber wenn sie auch schimpften und viele sogar behaupteten, es habe der Berg sich nun gerächt, so wenig sie sich des Mordes an Irmgard geschämt hatten, sowenig war ihnen die neuerliche Düsterkeit ein Anlaß zur Scham, und das Grauen, das sie trotzalledem erfüllte, war sicherlich keines der Scham, sondern weit eher ein erwartungsvolles, durchaus bereit, nunmehr Hekatomben von Toten auszugraben.

Beinahe weihnachtlich war das kurze Waldstück zwischen der Kapelle und dem Stollen, doch der Weg war hier von den vielen Füßen und von den Holztransporten Laxs gut gangbar geworden, und wir gelangten nun bald zu unserem Ziel, zur Lichtung vor dem Zwergenstollen: hier, von Christbäumen in stiller Feierlichkeit würdevoll umfaßt, geschah ein aufgeregtes, würdelos lärmendes Hin und Her, bienengleich vor dem schwarzgähnenden Flugloch des geöffneten Schachteinganges fand es statt, schwarzzertreten und dazwischen von müden Grasbüscheln durchsetzt war der Schneeboden, mittendrin lag lose das Bauholz aufgestapelt, während rechts von uns, auf der Waldböschung, eine primitive Werkzeughütte errichtet worden war, richtiger eine Art Flugdach mit drei Schutzwänden, teilweise an den Baumstämmen befestigt, und daneben ein, offenbar zum Abkochen bestimmtes Feuer[, das] seinen scharfweichen Holzrauch in die Kühle und zu uns herüber wehen ließ; dort stand auch Lax, seine starke Stimme überschrie den Platz und schien dem ganzen Getriebe irgendwie Sinn und Richtung geben zu wollen. Natürlich war es überflüssig, denn zweifelsohne waren viel zu viel Leute da; in dem engen Stollen konnten doch nur wenige arbeiten.

Er gab es auch sofort auf, als er uns gewahr wurde und kam heran, mit ihm noch einige andere. Ich bemerkte auch ein paar Feuer[wehr]leute, die es sich nicht hatten nehmen lassen, Uniform anzulegen.

»Schöne Bescherung, Herr Doctor«, sagte Lax und hatte wohl keine Ahnung, daß er an der Bescherung mitschuldtragend war.

»Ja, allerdings … was gibt es für mich zu tun?«

Er war doch etwas betreten: »Den Wenzel haben wir glücklich herausgebracht … für den scheint es noch glimpflich abgelaufen zu sein … aber der Leonhard … ja«, er wandte sich ab, »… ja, nicht viel Hoffnung.«

»Wo ist der Wenzel?«

Er wies zu der Zeughütte hin.

Auf dem Waldboden unter dem Flugdach war der Wenzel ausgestreckt, mit zwei Mänteln zugedeckt, eine zusammengerollte Jacke unterm Kopf, schneefahl das faltenreiche listige Gesicht, geschlossenen Auges.

Ich kniete bei ihm nieder: »Wenzel.«

Er öffnete langsam ein Auge und blinzelte mich schräg an: »Herr Doctor.«

»Ja, Wenzel.«

»Kann nicht reden«, sagte er mühselig.

Glimpflich war das keineswegs, was ihm da zugestoßen war.

»Na, vielleicht geht's doch … wo tut's denn weh?«

Ein Schimmer des alten Spotts trat in das Gesicht: »Fragen Sie lieber, wo's nicht weh tut.«

»Hm.«

»Kalt, Herr Doctor«, sagte er leise.

»Ja, wir müssen auch trachten, Sie von hier wegzubringen … können Sie sich bewegen?«

Sein Versuch zur Lustigkeit geriet in ein greisenhaftes Lächeln: »Lieber nicht, Herr Doctor.«

Nach einer Weile: »Kann mich nicht bewegen.«

Man sah, daß ihn die Anstrengung furchtbare Schmerzen gekostet hatte; nachdem sie abgeklungen waren, sagte er: »Herr Doctor, mich hat's … lassen Sie mich da verrecken … Pech gehabt … kleiner Betriebsunfall …«

»Mit dem Verrecken haben Sie Zeit, Wenzel.«

Er stöhnte bloß.

Der Verdacht eines Wirbelbruchs war in mir aufgestiegen; es schaute durchaus nach einer Rückenmarkverletzung aus. Was alles an dem Mann zerbrochen und zerquetscht war, ließ sich hier überhaupt nicht feststellen; ich konnte ihn ja nicht einmal anders betten. Von einer Untersuchung konnte keine Rede sein. Aber auch der Transport mit der unzulänglichen Feuerwehrbahre war ein schier unlösbares Problem.

In rechter Verzweiflung hockte ich neben ihm auf den Boden. Vor dem Schuppen standen die Leute und sahen mir voller Spannung zu: hie und da kam ein Rauchschwaden vom Feuer herein.

Schließlich, damit überhaupt etwas geschähe, herrschte ich die Umstehenden an: »Bringt die Tragbahre her.«

Wenzel öffnete jetzt die Augen: »Quälen Sie mich nicht unnütz, Herr Doctor.«

Der Schmied kam: »Wie steht's?«

»Er hat schon was abbekommen … aber es könnte ärger sein.«

Beinahe war es, als ob Wenzel lachte; es war ein heiseres Pfeifen. Doch dann sagte er: »Schmied, das Holz ist angesägt worden.«

»Was?«

Mühselig wiederholte er: »Die Pölzpfosten sind angesägt worden … daher ist es gekommen … ich versteh' mich darauf …«

»Jetzt versteh' dich aufs Gesundwerden«, sagte der Schmied, »statt an so was zu denken.«

Die Züge des ehemaligen Schelms wurden haßerfüllt: »Ich verreck' … die Hunde …«

Ich schaute den Schmied an; er nickte mir zu, als ob er die Vermutung des Wenzels für nicht unglaubwürdig hielte. Angesägt? der Suck? der Mathias?

Der Wenzel fuhr mit noch schwächerer Stimme fort: »Der Marius …«

»Ja? soll ich ihm was bestellen?«

»Er hat mit der Sache da nichts zu schaffen … das war meine … meine Sache allein … Herr Doctor … nur ich …« Er röchelte erschöpft.

»Ja, Wenzel, seien Sie unbesorgt.«

Er verriet nicht, ob er mich noch gehört hatte; er war in seinen Dämmerzustand zurückgesunken.

Man mußte unbedingt den Versuch wagen, ihn ins Spital zu schaffen, so aussichtlos dies auch sein mochte, und ich fragte den Schmied: »Kann einer von deinen Leuten telephonieren?«

Er dachte nach: »Ja, der junge Lax wird's können.«

»Dann schick' ihn hinunter, daß er im Krankenhaus anruft … es ist jetzt vier, bis um neun Uhr könnte das Rettungsauto bei mir sein …«

Aber was nun? am klügsten wäre es, ihn sofort, noch bei Tageslicht, hinab zu bringen. Im Schacht mochten sie ja noch stundenlang arbeiten; bis sie den Leonhard gefunden haben würden, wäre ich längst wieder heroben.

Ich ließ mir noch ein paar Mäntel reichen und packte den Wenzel darin ein. »Komm, Schmied«, sagte ich, »wir schauen einmal zum Stollen.«

»Ich muß ohnehin wieder hinein. Wir haben jetzt Schichtwechsel.«

»Wie oft wechselt ihr?«

»Alle Stunden. Sechs Mann beim Graben und Zimmern, vier beim Materialabführen.«

Über dem Platz lag die ungesunde Spannung des Wartens, jene Spannung, die sich auf die Dauer nur mehr in Witzen oder in Streiten Luft zu machen vermag. Die Leute waren zur Hilfeleistung gekommen, sie hätten gerne Hand angelegt, so aber werden sie erst nach Stunden in eine Schicht eingeteilt werden können. Untätig irrten und standen sie herum, in einer Gruppe wurde bereits heftig gegrölt.

Vor dem Stolleneingang war Lax gerade daran, die nächste Schicht auszuzählen.

Kampflustig unterbrach ihn der Schmied: »Ich kann nicht jeden brauchen …«

»Aha, der Herr Feuerwehrhauptmann.«

»Ja, jetzt hab' ich das Kommando und die Verantwortung.«

Der Bergmathias war, erdkrustig sein Gewand, erdkrustig sein roter Bart, ein Beil in den Händen, aus dem Stollen heraus gekommen; er lachte: »Ein Unterdörfler kann da überhaupt nicht kommandieren, weil ihr allesamt nichts vom Berg versteht.«

Ich erkundigte mich nach dem Fortschritt der Arbeit.

»Langsam, langsam … alle halben Meter frisch abpölzen.«

Neben dem Eingang lag bereits ein großer Haufen der herausgeführten Erde, einer reinen stark braunen, stark kieshältigen feuchten Erde, der man den Mord nicht ansah. Von Zeit zu Zeit wurde ein Schubkarren davon herausgefahren, und im Laufschritt mit dem leeren Karren rannte der Mann in den Stollen zurück.

Auch wir traten jetzt ein. Mit modrig warmem Luftzug kam uns fernes Gehämmer und dumpf klirrender Schaufelschlag entgegen, an den vielfach ausgemauerten Wänden steckten Fackeln und Kienspäne, vielfach in alten Haltern, und der Weg führte in sanfter Steigung aufwärts. Wenn sie den Wenzel hier niedergelegt hätten, statt draußen in der Winterkälte, wäre es besser gewesen.

Doch dann wandte sich der Weg, und es ging ziemlich steil abwärts und in die Zone der Feuchtigkeit, von der Ludwig gesprochen hatte; die alte Schachtzimmerung wurde immer bröckliger und moderiger, immer öfter wurde sie von dem weißen Holz der heute aufgeflickten Ausbesserungen unterbrochen, Wasser tropfte und rieselte, und der laue Kelleratem war von dem scharfen Geruch frischgebrochner Erde geschwängert. Die Männer mit den Schubkarren, denen wir begegneten, hatten hier recht schwer heraufzuarbeiten, nun kamen auch die Arbeitsgeräusche näher und näher, und nach einer nochmaligen leichten Biegung des Ganges verbreiterte er sich, und es war, als träten wir in eine geräumige Kammer, die zwar stirnseitig mit Erde abgeschlossen, sonst aber überall mit frischem Holz abgestützt und verschalt war: dieses warme und von ein paar Windlichtern hell erleuchtete Gelaß war die Unglücksstätte.

Die Zimmerleute hämmerten an der Verschalung; an der Erdwand schaufelten vier Mann und füllten die Schubkarren.

Ludwig stand dabei: »Es kann nimmer weit sein … mich hat es dort erwischt«, er zeigte nach rückwärts, »und der Leonhard war nicht so weit von mir entfernt, wir haben ja noch miteinander gesprochen.«

Ich hatte jedes Gefühl für Entfernung verloren; sicherlich waren wir bloß ein paar Minuten unterwegs gewesen, aber auch dies hätte ich nicht mehr sagen können; ob wir nun dreihundert oder sechshundert Meter oder noch mehr eingedrungen waren, ich hätte alles geglaubt: »Wie tief mag es wohl noch hinuntergehen?« fragte ich.

»Tief, sehr tief«, antwortete der Bergmathias, »aber wahrscheinlich ist das alles ersoffen.« Er streifte ein paar Tropfen von der Decke, als wollte er sie mir zeigen: »Das gleiche Wasser wie im Grünsee.«

Das Bild eines unterirdischen Sees, in dessen Mitte der Quell des Echos aufsteigt, ein Bild, selber sehnsüchtig aufsteigend aus dem Meer aller Gedanken, der Erinnerungen und des Denkbaren, vereinigte sich seltsam mit dem Bilde der Höhe, durch die das Echo zieht, mit dem Bilde des Äthersees, der zwischen seinen Schneeufern den Herbst auf seinem Grunde noch birgt, und es war wie eine letzte Verlockung.

Hinter mir rammten die Burschen einen Pfosten ein und sangen, angesichts des Todes, dazu das alte unzüchtige Pilotierlied:

»Schöne Mariedl jetzt hauen wir ihn ein,
Hauen wir ihn ein,
Und einmal auf (Pumm)
Und zweimal tief (Pumm)
Und dreimal auf (Pumm)
Und viermal tief (Pumm)
Schöne Mariedl jetzt hauen wir ihn ein (Pumm)
Schöne Mariedl jetzt hast ihn drin.«

»Mein Gott, vielleicht lebt er noch!«

»Dann freut er sich, wenn er uns hört«, meinte einer der Pilotierer.

»Der ist tot«, sagte der Bergmathias.

»Schöne Mariedl, jetzt hauen wir ihn ein,
…«

War das der Totengesang, den sie dem toten Mann sangen? dem Mann, den es hineingeschlagen hat in den Schoß der Erde? eine kleine, eine wahrlich unscheinbare Totenklage, so klein, wie das Unermeßliche klein wird im Schoß der Erde, dennoch unermeßlich, ohne Zeitentfernung, ohne Raumentfernung, trotzdem noch immer unermeßlich alles in sich enthaltend, wie in einem Keim. Und auf einmal fiel es mir auf, daß ich mir den toten Leonhard, den ich doch als Lebendigen in seiner ganzen Länge gekannt hatte, bloß in der Zwergengröße des Wenzels vorstellen konnte, ja, kleiner noch als den Wenzel, und daß man bloß über dieses tote vergrabene Wichtel hinwegzusteigen brauchte, um zu den Tiefen des silbernen Sees da unten gelangen zu können.

»…
Und sechsmal tief (Pumm)
Schöne Mariedl jetzt …«

»Da ist er!«, schrie einer der Grabenden.

Der Gesang verstummte nun doch.

Etwa in halber Mannshöhe ragte ein Schuh aus dem Erdmaterial und wies mit der genagelten Sohle zur Decke empor.

Alle schwiegen nun jetzt. Der Bergmathias warf die Jacke und dann auch das Hemd ab und begann mitzuarbeiten. Es war nicht einfach, denn der nach und nach freigelegte Körper mußte immer wieder durch nachgeschobene Bretter gegen den Druck der nachschiebenden Erdmassen gesichert werden. Er lag schräg abwärts, den Kopf gegen den alten Stollenboden gepreßt. Endlich konnte man ihn herausziehen.

Ich war voller Ungeduld, denn oben hatte ich den Wenzel, von dem ich nicht wußte, ob [er] nicht wieder erwacht war, und es war geradezu eine Erleichterung, als ich konstatieren konnte, daß bei dem Leonhard nichts mehr zu machen war: er war nicht einmal erstickt; es hatte ihn glatt erschlagen.

Die Männer standen stumm herum. In die Höhlung, aus der sie den Körper gezogen hatten, rieselte das Erdreich, rieselte Wasser, die eingeschobenen Bretter bogen sich und knackten. Und ich bemerkte, daß wir alle immer wieder auf diese Höhlung schauten, als erwarteten wir, daß da noch etwas nachfolgen müßte, ein Tier, eine Schlange oder eine schwarze Katze, oder sonst irgend etwas Unmögliches. Und ohne daß es jemand befohlen hätte, und obwohl es doch ohne jeden Sinn und Zweck war, begannen zwei der Leute mit Brettern das gewesene Grab zu verschalen.

»Ich gehe«, sagte ich, »ihr bringt ihn ja hinaus.«

Mathias übernahm es, für die Leiche zu sorgen, und ich ging. Auf dem Rückweg sah ich erst, wie kurz die Strecke war; sicherlich nicht einmal dreihundert Meter. Die Steigung war sofort genommen, das Halbrund des Stolleneingangs tauchte auf und vergrößerte sich sehr rasch. Da traf ich die unter dem Kommando des Schmieds einrückende neue Arbeitspartie. Ich bedeutete ihnen, daß sie umkehren könnten; die Arbeit sei beendet.

»Ja«, sagte der Schmied, »erschlagen … da hat er wenigstens einen schönen Tod gehabt.«

»Schmied«, sagte ich, »da stelle ich mir einen schönen Tod anders vor.«

»Nein«, sagte er, »der schöne Tod ist wild wie das Feuer.« Und er ging weiter, um nach dem Leonhard und seinem schönen Tod zu sehen.

Ein paar aus der Mannschaft wandten sich mit zum Ausgang. Die Menge der Wartenden hatte sich inzwischen dort noch vermehrt. Als ich ihnen das Geschehnis meldete, nahm einer nach dem andern Hut oder Mütze vom Kopf, und im gleichen Augenblick gellte ein Aufschrei über den Platz, aufsteigend zu den stillen Wipfeln der weihnachtlichen Bäume, verhallend und nochmals verhallend in den Wänden: es war die Mutter Leonhards, die alte Frau Nistler, die ein wenig abseits in einer Gruppe von Frauen gleichfalls gewartet und die ehrfürchtige Geste verstanden hatte.

Aber ich hatte keine Zeit, mich um sie zu bekümmern; ich mußte zum Wenzel. Da allerdings gab es noch eine Überraschung und eine peinliche auch noch dazu.

Denn vor dem noch immer mit geschlossenen Augen unbewegt daliegenden Wenzel war der Marius aufgepflanzt, neben ihm der Krimuß und der Lax, und der Marius, der sich offenbar schon in Hitze geredet hatte, hielt an den Verletzten eine Ansprache:

»Wenzel«, sagte er gerade, »du meinst, daß das Holz angesägt worden sei … weißt du, daß du damit einen argen Verdacht aussprichst? auch der Herr Bürgermeister wird sogleich kommen, und du wirst deine Anklage vertreten müssen … hatte ich dich nicht immer darauf aufmerksam gemacht, daß du alles, was du tust, auf eigene Verantwortung machst? habe ich dir nicht befohlen, zu warten, bis die Zeit reif ist und der Berg selber uns rufen wird? Und er hätte uns gerufen, in Reinheit und Größe hätte er uns gerufen, denn schon hat er den ersten Ruf ergehen lassen! Du aber warst ungeduldig, du hast mich verlacht, und jetzt willst du die Verantwortung abwälzen und erhebst haltlose Anklagen …!«

»Lassen Sie den Mann jetzt in Ruhe«, herrschte ich den Narren an.

Der hielt kurz inne und schaute mit zornig gerunzelten Brauen auf den wunden Zwerg, denn dieser hatte ihm, entgegen meiner Annahme, anscheinend doch zugehört und hatte nun die Augen geöffnet, Augen, in denen nichts von ihrer einstigen Schelmenhaftigkeit und auch nichts mehr von ihrer steten Haßbereitschaft zu entdecken war, sondern Augen, die groß und schwer und ernst auf dem Marius ruhten.

Lax, die Pause benützend, warf rasch ein: »Das gelieferte Holz [war] tadellos und intakt … wenn das Unglück aufs Holz zurückzuführen ist, so hat's wirklich so ein Lump angesägt.«

Indes wollte der Marius seinen Redefluß weder durch mich, noch durch den Lax unterbrechen lassen; er fiel in den singenden Tonfall, den ich zur Genüge an ihm kannte: »Nur wer die Stimme vernimmt und auf sie horcht, darf handeln, nur ich darf es tun, nur ich, denn mir sind die Stimmen der Berge geschenkt worden, ich lausche ihnen. Aber der Berg hat geschwiegen und mich noch nicht zu ihm befohlen …«

Da konnte der Krimuß nimmer an sich halten: »Wird er weiter schweigen? wird er verschlossen bleiben? wird er das Gold nicht hergeben?«

Und der Narr nach alter Zaubererart entgegnete, indem er sich neuerdings gegen den Wenzel wandte: »Du hast das Verbrechen begangen, du hast mir nicht gehorcht, du hast den Berg beleidigt, und wenn er jetzt schweigen wird und sich aufs neue verschließt, so hast du die Verantwortung auf dich geladen.«

Und da war es, als ob der Haß und vielleicht sogar ein schelmischer Haß in des Wenzels Auge wieder einkehrte, stark genug, damit er das vernehmlich aussprechen konnte, was sich die ganze Zeit über in ihm geformt hatte, ein Wort nur, und das war:

»Scheißkerl.«

Dann aber, von der Anstrengung überwältigt, von Schmerzen neuerdings gepackt, stöhnte er auf und schloß wieder die Augen.

Der Marius duckte sich wie ein Tier, das losspringen wollte so weit ich ihn kannte, hätte er es gewiß nicht getan –, aber Lax, laut auflachend, hatte auch schon seinen Arm gepackt: »Sag's noch einmal, Wenzel«, jauchzte er voller Vergnügen.

Marius riß sich los, wandte sich ab: »Er ist ohnehin gelähmt und bleibt gelähmt; der Berg hat ihn gestraft.« Er sagte es und spuckte aus.

Jetzt hatte ich aber genug; schon begann es um die Lichtung bläulich zu dämmern, es war die höchste Zeit, den Verwundeten abzutransportieren, und in heller Wut schrie ich: »Habt ihr nicht an dem einen Toten genug, der da unten liegt?!«

Lax wurde ernst: »Der Leonhard …«

»Ja«, sagte ich immer noch wütend, »tot, erschlagen, verschüttet.«

Das Gelbe des Gesichts des Krimuß erwachte aus der stumpfen Bestürztheit, in der es bisher verharrt hatte, es hellte sich auf: »Das Gold! jetzt … jetzt ist der Berg wieder versöhnt …«

Und Marius, bei all seiner Narrheit, seinen Vorteil wahrend und zweifelsohne bestrebt, sich den Krimuß zu sichern, griff es auf, ja, mehr noch, er verwandelte es unverzüglich in echte Narrheit und Besessenheit, da er sofort nach innen gewandten Blick[s] in seinen Prophetenton zurückfand: »Toter Mann im Berg, erschlagen vom Berge, der sein Blut trinkt, damit der Zwerg wieder zum Riesen werde, aus dem Un-Mann wieder der Mann, aus der Stummheit wieder die Stimme … wenn er das Sühneopfer angenommen hat, das Verbrechen verzeiht, dann wird er seine Stimme erheben und mich rufen …«

»Meinetwegen«, sagte ich, »aber jetzt habe ich hier zu tun … Lax, tun Sie mir endlich den Gefallen und führen Sie die beiden da fort …«

»Ich gehe schon, Herr Doctor«, sagte Marius höflich und entfernte sich, gefolgt von Krimuß.

»So ein hundsföttischer Narr, so ein Kerl«, sagte Lax »aber passen Sie auf, Herr Doctor, der schafft's, der holt noch das Gold.«

»Lax«, sagte ich, »das Gold interessiert mich jetzt blutwenig … ich muß diesen Mann ins Tal bringen.«

So ungern ich es auch tat, so gefährlich es auch unter gegebenen Umständen war, ich gab dem Wenzel eine kräftige Morphiuminjektion, darauf gefaßt, bei einem Nachlassen des Herzens mit einer Dosis Coffein nachhelfen zu müssen. Dann schnitt ich aus dem Leinenboden der Tragbahre einen breiten Streifen heraus, damit der Patient möglichst mit freiem Rücken darauf zu liegen käme, und nachdem ich mich seines inzwischen eingetretenen tiefen Dämmerschlafs vergewissert hatte, hoben wir ihn vorsichtig auf das Gestell, und ich gurtete ihn an. Ich suchte mir ein paar verläßliche und kräftige Leute aus, die sich beim Tragen ablösen sollten, ein paar der Fackeln wurden mitgenommen, und wir machten uns auf den Weg.

Der Platz aber, den wir passieren mußten, war jetzt ganz still geworden. Denn der Tote, den man inzwischen aus dem Berg herausgebracht hatte, lag nun in der Mitte dieser weihnachtlichen Lichtung, gebettet auf zwei weißen Fichtenbrettern, die an ihren Kanten vom Zugriff der Hände schwarz geworden waren, er war mit einem Stück Jute zugedeckt, seine Mutter kniete vor ihm, und ringsum stand die schweigende Menge, schwarz in der Sanftheit des abendlichen Schnees.

Doch neben der Mutter, in leichter Grazie das eine Knie auf dem Boden, den Ellenbogen auf das geknickte zweite Bein gestützt, hatte sich der Marius niedergelassen, und als wir vorbeikamen und für einen Augenblick anhielten, dem Toten zu Ehren, hörte ich, wie der Narr zu der Mutter sprach: »Härmt Euch nicht, Mutter, denn Euer Sohn ist für eine große Sache gefallen, und nicht nur wir, die wir hier um Euch herum sind, auch unsere Kinder und Kindeskinder werden seines Heldentodes in Dankbarkeit gedenken.«

Und die Mutter jagte den Schamlosen nicht fort, keiner tat es, vielmehr sagte sie, gierig des Trostes, den er ihr vorgaukelte: »Ja, Herr Ratti.«

Er aber: »Und wenn der Bergbau blühen wird, dann sollt auch Ihr, die jetzt um Euern tapfern Sohn so trauert, nicht vergessen werden … jeder weiß, was er Euch schuldig ist …« Und er wandte sich an die Umstehenden: »Ist es nicht so? stehen wir nicht ein, alle für einen?«

Niemand wagte eine Widerrede, vielleicht weil das Schweigen des Todes und des Schmerzes stärker ist als jede menschliche Meinung, vielleicht aber auch, weil sie sich alle eines Sinnes mit dem Marius wähnten.

Und der Marius, der sich so den Tod zum Bundesgenossen gemacht hatte, fuhr fort, denn sein Reden war immer ohne Ende: »In jedem Stück Gold wird sein Name blinken …«

Da rief eine Stimme, und ich erkannte die Sucks: »Fallt doch nicht auf dieses saudumme Geschwätz hinein …«

Ein unwilliges Gemurmel erhob sich, und man hörte unwillige und bösartige Rufe: »Suck, halt's Maul.«

Krimuß aber schrie heiser: »Das Gold, wir werden's jetzt kriegen …«

»Einen Dreck werdet ihr kriegen!«, antwortete Suck, und man hörte, wie er sich im Wald entfernte.

Ich hätte gerne der alten Frau Nistler die Hand gedrückt, so aber sagte ich zu meinen Leuten: »Gehen wir.« Schließlich hatte ich Dringenderes zu tun, als mich dem närrischen Gehaben zuzugesellen, und wir durften nicht zögern, wenn wir über den Steilhang unterhalb der Kapelle, den ich recht sehr fürchtete, noch bei Tageslicht kommen wollten. Das erste Stück des Waldweges nach der Kapellenwiese war ja ebenfalls noch arg genug.

Allein, es ging über alles Erwarten gut vonstatten, auch über jenen Steilhang. Der Zwerg war leicht zu tragen. Wir bildeten eine Doppelkette und gaben die Bahre von Hand zu Hand weiter, so daß sie immer waagrecht blieb. Eine Anzahl Leute, die nicht mehr auf den Leonhard hatten warten wollen und mit uns gegangen waren, halfen mit. So wurde der Steilhang überwunden, dessen Schnee im Abendschatten bereits ganz fest geworden war. Unten aber lag milde das herbstliche Tal, und hinter dem Kuppron mußte sich wohl ein Wolkenriß gebildet haben, denn das Weiß auf den gegenüberliegenden Höhen hatte sich in einen rosafarbenen Hauch verwandelt, in einen rosa Silberhauch, der wie ein letztes, allerletztes Atmen eines Echos war, wie das ausklingende Echo einer brennend roten großen Scham.

Ohne weitern Zwischenfall kamen wir durch den langsam dunkelnden Wald, erreichten wir die milde dunkelnde Zone des Herbstes, und auf der letzten Wegstrecke vor meinem Hause mußten wir die Fackeln anzünden. Und pünktlich nach acht Uhr langte das Rettungsauto ein, den Wenzel abzuholen, den Schelmenzwerg, der nur manchmal aus einem Auge jetzt blinzelte und apathisch alles mit sich geschehen ließ.


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