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V.

An einem Nachmittag, um die Maimitte herum, wollte die Ordination kein Ende nehmen. Eine Reihe von Patienten, darunter ein paar alte Weiblein, die die Menge ihrer Leiden unablässig in meine Hände schöpfen und immer wieder von vorne anfangen wollten, wenn sie endlich damit fertig waren, ein paar zahnärztliche Behandlungen von [der] Art, wie sie jeder Landarzt zuwege bringen muß, und dann hatte ich noch die Medizinen vorzubereiten. Denn nicht nur, daß Markenmedikamente zu teuer wären, es würde auch in den Augen der Bauern ein Arzt, der seine Medizinen nicht selber braut, nicht als richtiger Arzt gelten. So koche ich denn meine Tränklein auf dem Spiritusbrenner, mische meine Pulver, reibe die Salben auf der Glasplatte und lasse inzwischen die dentistischen Instrumente im elektrischen Kocher sieden. Meine Hände sind die Arbeit gewöhnt, sie irren sich nicht mehr, beinahe könnte ich ihnen zusehen, ich könnte, wenn es mir behagte, auch an etwas anderes denken, z. B. an den Marius, aber heute kann ich das nicht, denn seit einer Stunde quiekt das Schwein, das Sabest abgestochen hat, seinem verrinnenden Blut nach und erfüllt meine Ohren mit dem Leid der Kreatur. Wie ich schließlich meine Flaschen, Schachteln und Tiegel etikettiere, höre ich sein letztes, bereits zum Schweinsbraten hinüberführendes Röcheln. Auch an solche Dinge muß der Landarzt gewöhnt sein, und nicht nur der Arzt, sondern jeder, der hinterher die Würste ißt, und nicht nur der Wurstesser, sondern jeder, der Krieg und Mord und Blut erträgt, und das tun wir alle, aber trotzdem war ich froh, als der Tod die Luft nicht mehr mit seinem Schreien erfüllte. Ich trug meine Ware zu Frau Sabest in die Küche hinunter, damit sie dieselbe der Gepflogenheit gemäß aufhebe und den Abholenden ausfolge.

Frau Sabest nimmt die Medikamente und seufzt.

»Das arme Schwein«, sage ich.

»Nicht das Schwein«, sagt sie und seufzt wieder recht von innen heraus.

Sie seufzt mir zu vernehmlich; ich glaube nicht ganz daran. Oder es ist nur eine Höflichkeitseinleitung.

»Also wo fehlt's, Frau Wirtin?«

Sie wirft einen Blick auf das Mädchen, das beim Kartoffelschälen beim Fenster sitzt, und wir gehen in die Gaststube hinaus.

»Herr Doctor«, hebt sie an, »der Peter …«

»Den habe ich die längste Zeit nicht gesehen.«

Sie sieht sich scheu in der leeren Stube um, und flüstert mir zu: »Oh, Herr Doctor, das ist es ja eben, nicht einmal wir, seine leiblichen Eltern bekommen ihn zu Gesicht … immerzu steckt er bei [dem] Menschen … bei jenem Marius, den der Miland aufgenommen hat … Sie kennen ihn doch? …«

»Natürlich kenne ich ihn.«

»Und glauben Sie mir, Herr Doctor, der Mensch hat ihn behext.«

»Warum nicht gar, Frau Sabest.«

»Oh, lachen Sie nicht, Herr Doctor, es tut mir weh … ich will auch davon schweigen, daß der Peter, taucht er einmal auf, mit närrischen Ideen nach Hause kommt, so zum Beispiel«, und sie weist zu dem Radioapparat hinauf, »daß er das Radio abschaffen will …«

»Den Unsinn kenne ich schon, Frau Sabest, darauf brauchen Sie nichts zu geben … und wenn es nach mir ginge, würde ich auch manchmal das Radio zum Teufel wünschen …«

»Gut«, fährt sie fort, »ich will ja nicht vom Radio sprechen, obwohl ich nicht annehmen kann, daß sie ihm da recht gäben …«

»Nein, Frau Sabest, ich gebe ihm nicht recht, denn Sie brauchen ja den Apparat für Ihre Gäste.« Aber im geheimen imponiert mir die Energie, mit der der Marius seine Ideen durchsetzen will.

»Ach«, fährt sie fort, »nicht nur für die Gäste, denn früher saß er bei mir und gemeinsam hörten wir zu …«

»Kinder werden älter, Frau Sabest, und so viel ich weiß, ist er Ihnen auch ohne den Marius schon vielfach entwischt.«

Sie trocknete eine Träne: »Ja, Herr Doctor, Sie meinen die Strüm Agathe, und Sie wissen wohl auch, daß ich manches gegen eine einfache Häuslertochter einzuwenden hatte … aber heute, da er es ihm verboten hat …«

»Aber, aber, da gibt es doch kein Verbieten, dafür wollen wir schon die Agathe sorgen lassen … wer weiß denn überhaupt etwas vom Verbieten …«

»Das ganze Dorf, Herr Doctor, vergessen Sie nicht, daß ich im Laden stehe und vieles höre, und schließlich auch die Schande, die mich selber betrifft … ach, die Selbanderin, die Frau Lax, die … nun, ich will keine Namen nennen … sie alle tragen's mir zu, daß der Peter von dem Mann, von dem hergelaufenen Lumpen behext, ja, vielleicht zu noch Ärgerem und Schweinischerem verführt worden sei … oh, Herr Doctor, lachen Sie nicht, das ganze Dorf ist ja schon voller Gelächter. Und zu wem soll ich denn kommen mit meinen Sorgen, wenn nicht zu Ihnen?«

»Hm.« Ich muß an die Chauffeure denken und an ihren Zorn gegen den Marius denken, den sie ein Schwein nannten, weil er ihnen Keuschheit predigte.

»Sie lachen nicht, Herr Doctor?«

Nein, ich lachte nicht. Hinter dieser rüstigen und wissenden Frau, die mit dem Leben und auch mit seinen Genüssen gut auszukommen scheint, stand nun ein kleines Mädchen, das von nichts weiß und sich jetzt vermutlich wunderte, ein anderes Menschentier zur Welt gebracht zu haben. Oh, die wirklichen Gewalten des Lebens hält sich der Mensch so lange als nur irgend möglich vom Leibe, und so lange es angeht, tut er alles, um sich über sie hinwegzutäuschen. Ich kenne das.

»Was sagt denn Ihr Mann dazu, Frau Sabest?«

»Er gehört zu jenen, welche lachen … ich glaube sogar, daß er dem Lumpen wohlwill … er sagt, jedes Tier weiß, mit was es sich paart … aber vielleicht schneidet er dem Lumpen doch die Gurgel durch, wenn ich es von ihm verlange …«

Wenn sie es im Bett von ihm verlangt, so tut er es vielleicht, hierzu halte ich den Sabest für fähig. Aber den Rat gebe ich ihr nicht. Wahrscheinlich weiß sie es ohnehin.

»Ich will der Sache nachgehen, schöne Frau Wirtin, vorausgesetzt, daß Sie sich nicht kränken … dazu sehe ich vorderhand keinen Anlaß.«

Jetzt lächelt sie. Ich tätschle ihr ein wenig die volle Wange und begleite sie noch, die Toreinfahrt überquerend, zum Laden hinüber, um meine Tabakration zu erstehen. In dem kleinen Laden riecht es nach allerlei, vor allem aber nach Blaudruck und sonstigen Kattunerzeugnissen, deren Ballen etwas schräg – damit man gleich die Muster sehe – in den Fächern liegen. Es gibt hier alles, was die Bäuerin braucht; der Laden ist eine Goldgrube, obwohl ihn Sabest als nebensächliches Anhängsel behandelt. Aber das tut er bloß nach außen hin.

»Ja«, sagt sie noch, »und auch den Laden macht er schlecht, Kramladen schmäht er ihn, uns aber als Krämer.«

»Schluß damit«, sage ich, »Sie haben mir versprochen, sich jetzt nicht weiter zu kränken.«

Sie nickt mir vertrauensvoll zu, und ich verlasse den Laden durch die auf klingelnde Türe.

Die Straße, nachmittäglich frühlingshaft, war weiß und staubig, aber der Staub hatte noch nicht die beißende Schärfe des Sommers; es gab noch viel Feuchtes und Duftschwangeres in der Luft, und inmitten dieser älplerischen Dorf Straße mußte ich an Meeresküsten und grüngewellte Frühlingsdünen denken. Einen Augenblick lang überkam mich Wandersehnsucht, Sehnsucht, noch einmal jung sein zu dürfen und zu wandern, dem Marius gleich von Ort zu Ort ziehend, meinetwegen selber ein Narr wie dieser Marius, ein lächerlicher Weltverbesserer, dennoch ein Wanderer. Ja, das war meine plötzliche Sehnsucht, und für den Augenblick, den sie währte, war sie mir wichtiger als die Klagen der blonden Wirtin, und ich verstand den Peter trotz meines bessern Wissens um das Narrentum des Marius und all dieser fahrenden Gesellen, die in ihrer Verwirrtheit und sonderlingshaften Unstetheit nichts anderes sind als Vorversuche der Natur, ihre unzähligen Fehlversuche, ehe ihr die Erzeugung eines wirklichen Genies glückt, dies alles wollte ich in meiner Sehnsucht nicht wissen, denn ich fühlte, wie die Welt selber in frühlingsmäßige Bewegung geraten war. Es beglückte mich, daß die Kuppronwand schneefrei ins Dorf herein grüßte, freundlich mir, freundlich dem Marius, freundlich jeglichem Wanderer, und vom Kirchturm schlug es halb vier. Die Almhütte am Kamm oberhalb der großen Wiese war deutlich sichtbar, der Himmel darüber hat sich in sein höheres und kaum mehr wahrnehmbares Schweigen zurückgezogen; die Zeit des Aufwärtsstrebens hatte begonnen, ich aber wußte wieder einmal, daß es für mich keine Wanderzeit mehr gab, sondern nur mehr den ruhigen Weg des Alterns. Da ging ich zum Balbierer hinüber, um meinen grauwerdenden Vollbart stutzen zu lassen.

Der Meister Steppan stand, seinem Doppelberuf gemäß, beim Zuschneidetisch vor dem Fenster und bügelte eine Joppe. Die Schneider- und die Friseurscheren hingen einträchtig neben dem Spiegel, der beider Art Kundschaften in gleicher Weise zu dienen hatte.

»Sofort, Herr Doctor«, sagte er, als ich eintrat, und bügelte weiter, denn er war gerade an einem Ärmel.

An der Hinterwand der Stube, über der Türe, die in die Wohnräume führt, hängt ein Muttergottesbild mit einem ewigen Licht davor, andeutend, daß Steppan neben seinen beiden Hauptberufen auch noch die Obliegenheiten eines Mesners versieht. Das ewige Licht schwelt im roten Glase, auf dem in bereits blassendem Golde ein Kreuz samt flammendem Herz gemalt ist.

Er ist etwa im gleichen Alter wie ich, und weil er wohl über die gleichen Dinge wie ich nachsinnierte, sagte ich: »Frühling ist's geworden, Steppan.«

Von seiner Bügelei aufschauend und über die Stahlbrille, die auf seiner rotgeäderten Nase sitzt, hinwegblinzelnd, meinte er: »Je älter man wird, desto länger währt der Frühling.«

Er hatte dies mit seiner eigentümlichen zuversichtlichen Fröhlichkeit gesagt, mit jener Fröhlichkeit, die umso erstaunlicher an ihm ist, als sein Leben zwischen einem zänkischen Weib und einer grünlich-kränklichen Tochter sich abspielt, und ruhig bügelte er dabei weiter.

Ich hatte mich in dem Balbiersessel niedergelassen: »Ja, alt werden wir, Steppan, zwei alte Bader.«

Er lachte: »Seitdem es einen Doctor gibt, bin ich kein Bader mehr … ja, mein Vater, der war noch ein richtiger Bader.«

Daß er die vom Vater gelernte Kunst des Zahnreißens noch immer ausübt und auch noch manchmal – wogegen ich gar nichts einzuwenden habe – den Leuten Blutegel setzt, gab er nicht zu. Dann meinte er: »Aber bald wird man auch keinen Doctor mehr brauchen … da wird es Medizinmaschinen geben; Schneidermaschinen gibt es schon … ich glaub', Herr Doctor, du trägst auch schon Maschinanzüge …«

Schuldbewußt strich ich über meine Hosen. Ja, die hatte ich fertig in der Stadt gekauft.

»Maschinhemden, Maschinstrümpf', Maschinjoppen; jetzt kriegt der Mensch auch noch eine Maschinhaut, und so geht's immer weiter nach inwendig, zum Schluß hat er auch noch ein Maschinherz. Und der ganze Mensch stinkt nach Maschinöl.«

»Deswegen schmierst du den Leuten dein Haaröl auf den Kopf?«

»Auf das lass' ich nichts kommen, das duftet fein süß.«

Er stellte das Eisen auf den Bügelrost und richtete sich auf. Seine schneiderische Schmächtigkeit war durch ein Bäuchlein lustig vorgewölbt. »Für Gott freilich«, sagte er, »stinkt auch das Haaröl, denn um ihn ist der Wohlgeruch vom Paradies.«

»Na, vielleicht riecht es dort nach Haaröl.«

Er lächelte: »Ein bißchen wird schon dabei sein.«

Hier roch es gerade nicht paradiesisch; Friseur- und Schneidergeruch seltsam vermengt, der gebügelte Loden der Joppe dampfte, und dazwischen gab es, von der Wohnung her, etwas Küchenbrodem.

»Ja«, sagte er, »der Teufel stinkt, die Pest stinkt, der Tod stinkt, die Maschine stinkt, alles Böse stinkt, darum verlangt's dem guten Menschen nach dem guten Duft.«

»Mach' die Türe auf«, sagte ich, »draußen weht's vom Paradies her.«

»Ja, ja«, sagte er, der nun den zweiten Ärmel der Joppe vorgenommen hatte, »im Frühling ist die Welt der Mund Gottes, da atmet er seinen Paradiesatem, und was er atmet, ist sein Wort.«

»Sag' mal, Bader, warum hast du eigentlich keinen Garten wie dein Pfarrer? da hättest du deine Rosen und den Wohlgeruch …«

»Pfh«, machte er wie ein Mensch, der sich nicht mit Kleinigkeiten abzugeben wünscht, »wie lange wird's noch dauern, bis wir im großen Garten sind, wo immer der Frühling ist und wir immer in Seinem Atem und in Seinem Wort wohnen.«

Und während er seinen Ärmel fertig bügelte, sagte er noch: »Die Welt hienieden ist ein harter Mund, der selten lächelt und der viel verschweigt.«

Dann war er fertig und stutzte mir Bart und Haare. »So«, sagte er hierauf und griff nach dem gefährlichen Fläschchen mit der gefährlichen hellbraunen Flüssigkeit, »und jetzt kommt's Öl.«

»Hör' auf damit«, fuhr ich ihn an, »ich bin ein guter Mensch auch ohne deinen Duft … den brauche ich nicht, obwohl ich jetzt ein junges schönes Mädel besuche.« Denn während des Scherens war in mir der Entschluß gereift, der unglücklichen blonden Wirtin zuliebe bei der Agathe Nachschau zu halten, wie die Dinge mit ihr und mit dem Peter und mit Marius eigentlich stünden.

»Ich lass' die Irmgard schön grüßen«, sagte er als Antwort, »aber schöner wärest mit einem Tropfen Öl gewesen.«

»Falsch«, sagte ich, »ich gehe gar nicht zur Irmgard …« Allein im nämlichen Augenblick fiel mir ein, daß ich auch ganz gut bei Miland vorsprechen könnte, um mir den Marius selber vorzunehmen. Vorderhand war es noch zu früh dazu; die Leute waren noch auf dem Felde, aber da mein Tagwerk für heute erledigt war, hatte ich Zeit hierfür. Und so fügte ich hinzu: »Hast recht, vielleicht gehe ich doch zur Irmgard.«

Und so begab ich mich zuerst langsam durch die Kirchengasse zum Hause Strüms, vorbei an Milands Anwesen, in das ich einen Blick werfe, vorbei an Pfarrhaus und Kirche, und dort links in die kleine Sackgasse einbiegend, die mit Strüms Hoftor abgeschlossen ist. Das Tor steht offen, der Hof ist sauber gekehrt, indes außer den Hühnern ist niemand zu erblicken. Da erspähe ich Agathe rückwärts in dem an den Hof anschließenden Garten.

Dort sitzt sie unter den Apfelbäumen an dem einfachen Tisch, der zwischen zwei ebensolchen Bänken in den Grasboden gerammt ist, dort sitzt sie, hält die Nase auf die Arbeit gesenkt und näht mit den langsamen runden Bewegungen, die zur frühesten Würde der Frau gehören, die dem Mädchen wie der Ahnin in gleicher Weise eigentümlich sind, die eine wie die andere in das Gewebe der Zeit verflechtend, gleichgültig ob eine, wie Agathe knapp sechzehn, oder wie Mutter Gisson weit über siebzig ist.

Ich wollte gerade die etwas verklemmte Zauntüre, durch die Hof und Garten verbunden sind, öffnen, da sie auf das Geräusch hin aufblickt und hergelaufen kommt, mit einem ein wenig aufgescheuchten und verwirrten Gesicht und als müßte sie es verhindern, daß ich den Garten betrete; hinter der Türe stockt sie auch richtig und sagt bloß: »Herr Doctor.«

»Ja, Agathe«, sage ich und bleibe im Hofe. Wie sie da vor mir steht, in blauer Schürze, die Hände rückwärts verschränkt, halb selber noch Zopfmädel, halb schon künftige Mutter künftiger Zopfmädeln, kann ich mir das, was sich zwischen ihr und dem Peter abgespielt hat oder noch abspielt, kaum vorstellen. Ich weiß zwar, daß derartige Dinge zwischen jungen Menschen üblich sind und daß auch ich ihnen unterworfen war, ja, wenn es das Glück oder Unglück wollte, ihnen sogar noch einmal unterworfen sein könnte, aber es ist ein abstraktes Wissen und so weit es mich selber anlangt, so ist es, als wüßte ich eine Art Klatsch über mich, vergangenen oder zukünftigen Klatsch, den ich nicht ernst zu nehmen brauche.

»Wie geht's, Agathe?« sage ich, weil man dies immer sagt.

Sie ist viel zu schüchtern, um antworten zu können; sicherlich wünscht sie mich zum Nordpol oder, weil ihr das zu weit ist, einfach ins Grab.

»Der Vater ist auf dem Feld?«

Sie nickt. Ihre Gedanken sind anderswo, nirgendswo, sind bei einem Glück, das sie nicht denken kann, weil Gedanken nicht viel mehr sagen, wie: ›Jetzt muß ich nähen‹, ›Jetzt muß ich kochen‹, ›Der Vater ist auf dem Felde‹; sie kann es nicht denken, weil das Gedachte nicht darin liegt, nicht im Aussprechbaren, sondern in dem runden weichen Schwung der Nadel, an der der Faden hängt, im Knistern des Herdfeuers und im Schlafen und im Wachen und in dem Strom des Zeitwerdens, des Zeitlebens, der armdick durch den jungen Körper flutet, mittendrin das Herz, das klopfende unablässige, ein unablässiges ungeformtes unformbares Gebet zu den großen Mächten, deren Teil es ist.

Ich wollte schon gehen, doch da fand das formlos Träumende in ihr einen Zugang zur Außenwelt, es lächelte und sagte: »Der Trapp.«

Ja, der Trapp stand da, auch er in seinem Traum befangen, sicherlich sogar in einem freundlichen, denn die Rute ging hin und her, ein wedelndes Gebet zu den Mächten, von denen er ein Teil ist.

»Wart', Agathe«, sagte ich, »wir kommen zu dir.«

Aber das war leichter gesagt, als getan. Der Graben zwischen Weg und Zaun stand voller Wasser, es reichte stellenweise in breiten Lachen bis in den Garten hinein, und ich mußte erst eine passierbare Stelle suchen, an der ich trockenen Fußes über die altersmorschen Zaunbretter klettern konnte. Trapp kam mit einem Satz nach, und Agathe lachte.

»Großartig«, sagte ich, »pass' auf, Agathe.« Und ich suchte einen Stein, den ich – Trapp bellte dazu »Hurrah« – in großem Bogen über den Zaun zurück bis in die Felder hinüber schleuderte. Schwungvoll und speichelnaß brachte er ihn zurück. Dann war die Reihe an Agathe, das Spiel zu wiederholen, und damit war für heute wieder einmal unsere Freundschaft besiegelt.

Wir standen noch eine Weile so da, sie auf ihren nackten Beinen, feste rosamarmorierte Mädelbeine mit Mückenstichen, so daß sie sie immer wieder aneinanderreiben mußte, und während wir so dastanden und Trapp zuschauten, wie er uns beharrlich zum Weiterspielen aufforderte, stets aufs neu den Stein uns vor die Füße legte und ihn uns mit den Pfoten zustieß, wurde sie langsam ernst.

»Komm, Agathe, ich setze mich ein wenig zu dir«, sagte ich.

So setzten wir uns auf die Doppelbank, ich dem Mädchen gegenüber, das den auf dem Tisch liegen gebliebenen Leinenstoff wieder aufnahm und zu nähen begann. Die Bauern hier sind keine Obstzüchter, sie pflegen und schneiden ihre Bäume nicht. Garten und Nachbargarten und abermals Nachbargarten, aneinanderstoßend, daß die Baumkronen verflochten hinüber- und herüberreichen, dichte Decke des Gelaubs und dichte Decke des Grases: dazwischen ist der Schatten, ist die Kühle des Sommers eingefangen, fast gab es keine Sonnenflecken auf dem Boden, nur Kringel, die mit den Grashalmen zitterten. Durch die Stämme hindurch aber sah man auf das eine Kornfeld des Abhanges, einen waagrechten Streifen besonnten Grüns, eingeschlossen von der Linie des Zauns und den tiefsten Zweigen der Laubdecke, von denen der eine und der andere silhouettenhaft in die Helle hing, die Helle leuchtete in unseren Schattenkeller gleich einem fernen Land, kaum grün mehr im Sonnenlicht, sondern immer heller und grauer werdend und zuletzt nur mehr wie ein bläuliches Schimmern des Himmelsgestirns, das auf ihm wanderte und ruhte. Dieser wandernde und ruhende Glast ist der Sommer. Ringsum im Gras picken die Hühner, sie gackern manchmal auf, und von dem Wasserstreifen am Gartenrand kommt manchmal eine Mücke herbeigesungen, getragen von ihrem einfachen hellen Ton. Trapp, den Stein zwischen den Pfoten, liegt bei uns. Agathe saß mit dem Rücken gegen die Helligkeit des Feldes; ihre Augen waren auf die Arbeit gerichtet, und über den auf- und abgehenden nackten Arm huschte immer wieder der gleiche Sonnenkringel.

Und dann begann sie zu sprechen.

»Zwei Kühe haben wir im Stall und das Jungkalb.«

»Ja«, sagte ich, »ich weiß.«

»Wenn das Kälbchen trinken will, neigt es den Hals,
»Und es hebt den Kopf. Seine Lippen werden lang
»Und weich. Und es kniet.«

»Ja«, sagte ich, »so trinken die Kälber.«

»Sein Fell riecht ganz nach Milch. Auf der Stirne
»Ist es dicht und schwarz. Es hat noch keine Hörner.
»Die Stirne ist hart und flach und schwer.
»Zum Trinken hebt es den Kopf.«

»Ja«, sagte ich.

»Die Mutter leckt seine Stirne und seine Flanken.
»Sie leckt seine Schenkel.
»Würde man es bei der Mutter lassen, so würde sich die Mutter
»Von dem Kälbchen leer trinken lassen.
»Es muß allein schlafen.«

»Und auch die Mutter schläft allein. Doch immer
»Wendet sie den Kopf nach dem Kinde.«

»Die Nacht ist dunkel und sehr groß. Der Mond
»Trägt einen weißen Bauch und läßt ihn zu
»Meinem Bett hinfließen,
»Und ich habe nichts, wohin ich schauen kann.«

Dann schwieg sie und nähte. Ich putzte das Rohr meiner Pfeife, indem ich Grasblätter faltete und durch das Rohr fädelte. Die Gabe der Rede, die einen Augenblick lang auf Agathens Seele dahingeschwommen war, schien wieder weggeweht worden zu sein.

Doch dann sagte sie: »Das Gewitter.«

»Nein«, sagte ich, »heute kommt kein Gewitter.«

Sie lächelte, als ob sie sich bei etwas ertappt hätte und ließ die Nadel weiter gehen. Von Zeit zu Zeit gab sie der Fadenspule, die auf dem Tisch stand und auf dem oberen Ende eine weiße Fabriksmarke trug, eine kleine Drehung, um ein neues Stück Faden abzurollen.

»Was nähst du, Agathe?«

»Für später«, antwortete sie.

Immer mehr Sonnenkringel sickerten in den Garten, denn die Sonne stieg. Die Ähren des Feldstreifens draußen, die am Morgen noch regenschwer waren, hatten sich aufgerichtet und bebten in leichten heißen Schauern.

Agathe ließ die Arbeit in den Schoß sinken.

»Doch wenn wir hier saßen des Nachts, da war die Nacht
»Wie eine Kuh, die atmet, und ich habe
»Mein Gesicht gehoben, so weich war mein Mund.
»Da war es hell.«

»Zwischen den Hörnern der Nacht ist das Gewitter
»Gekommen, und es hat gesungen
»Wie die Sonne.«

»Ich trank das Gewitter und seine Milch
»Die Milch der Gewitter trank ich und ich war
»Weiß wie der Mondbauch und schön.«

»Jetzt aber bin ich eine Hexe.«

Sie schwieg und starrte ins Leere.

»Was bist du?« entfuhr es mir.

Sie hörte mich nicht. Aber sie legte die Hände unter ihre kleinen runden Brüste, als böte sie sie jemandem dar, und vielleicht sah sie ihren Geliebten neben sich auf der wackligen Holzbank sitzen, denn sie wandte sich ein wenig nach rechts und der wolkenferne Hauch, unter dem ihre Seele sich zur Sprache kräuselte, wurde von anderem Rhythmus und Wellenschlag:

»Warum, ach, bist du von mir gegangen?
»War er stärker als die Nacht?
»War er stärker als das Gewitter
»Stärker als zwanzig Blitze?«

»Zwanzig Rinder und zwanzig Stiere
»Tanzen um meine Brüste
»Und ihre Hufe umtanzen
»Mein Lied.
»Du aber bist davongegangen
»Weil der Schwache dich rief, der,
»Welcher einen kaum hütet.
»Da hat er mich Hexe genannt.«

Die letzten Worte waren ein kindliches Klagen.

Ich aber sagte nach einer Weile: »So lieb hast du ihn gehabt?«

Sie sah mich groß an. Dann sagte sie: »Ja.«

»Den Peter hast du so lieb gehabt?«

»Vielleicht den Peter«, sagte sie.

Dann schwiegen wir wieder, und ich schaute hinaus zu der schwingenden Sonne im Ährenfeld. Doch durch die Felder schreitet der Wanderer, der Leichte, der vom Wind gewehte, der Feind der Mütter, aus Unendlichem kommend, ins Unendliche gehend; er achtet nicht der Felder und achtet nicht der Mütter, seine Stärke ist nicht die ihre, sie ist die entliehene der Begegnung, nicht die des Wachsens, sondern die des Sammelns.

»Und jetzt bist du eine Hexe«, sagte ich.

»Ja, er hat mich so geschimpft.«

»Der Marius.«

Die Hexe neigte sich hinab, um die Mückenstiche auf ihren Schienbeinen zu kratzen, und da Trapp sah, daß die Hexe traurig war, wollte er ihr Gesicht lecken. Er erreichte ihre Hände und Beine.

Sie ließ sich die nasse Liebkosung des Hundes gefallen, und dann sagte sie: »Ja, der Marius hat mich so geschimpft, denn er hat's ihm verboten.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Oh, Herr Doctor, Ihr wißt es«, klagte sie, »warum habt Ihr es zugelassen?«

Es war kein Vorwurf gegen mich; es war eine Klage, die an alles Leben gerichtet war, weil es sie allein gelassen hat in den Mondgewittern. Und sie streckte sich schmerzlich, wobei ihre Hände abwärts fuhren, von ihren Brüsten, über ihren Leib bis zu den Knieen.

Sie hatte das »es war« kennen gelernt, das immer in die Welt tritt, die ganze Welt erfüllt, in alle Poren der Welt und der Menschen dringt, immer, wenn einer stirbt. Als sie mit ihren Händen bei den Knieen angelangt war, zuckte sie zusammen, leicht, wie ein Hund, der schläft. »Hier ist der Blitz«, sagte sie, »in den Beinen ist er und wartet.«

»Das Leben ist schön und lang, Agathe«, sagte ich, »du brauchst nicht traurig sein.«

»Ja«, sagte sie, »ich weiß. Doch sie sitzen beim Schmied und lassen ihre Sensen schmieden.«

»Der Schmied ist ein guter Mann«, sagte ich.

»Er macht die Pflüge und die Sensen«, sagte sie und ließ den Faden durch ihre Finger gleiten, so weit ihr Arm reichte, »da wird ihnen die Zeit kurz, wenn sie bei ihm sitzen und ihm zuschauen vor dem Amboß und dem Feuer.«

»Ja«, sagte ich, »ich will hingehen und sehen was sie tun.« Und ich erhob mich.

Sie nickte und war ein wenig zufrieden. »Wollt Ihr eine Milch haben, Herr Doctor?«

»Gerne.«

Da gingen wir durch den Garten zum Haus hin, über den Hof, der wie alle Bauernhöfe war, und Agathe verschwand in der niedern breiten Tür, die vom Hof aus unmittelbar zur Kellerstiege führt. Da drunten steht der große braune Tonkrug, in dem die Milch aufbewahrt wird und eine dicke Haut ansetzt, und es stehen dabei wohl auch ein paar kleine Gefäße zum Ableeren, und Agathe wird mein Glas füllen, achtsam, daß die Haut nicht mit ins Glas gleite, sie wird vielleicht auch so genäschig sein, die Milchhaut mit zwei Fingern zu fischen und sie sich in den weichen Mund zu stecken, und dies alles war gut, auch daß sie jetzt wieder Schritt für Schritt die Treppe heraufsteigt, das Glas in der Hand, und die Augen auf die Oberfläche der leicht schwappenden Flüssigkeit geheftet, dies alles war gut, denn in dem Lächeln, das über einen Tropfen vergossener Milch mit diesem zugleich vom Gesicht des Menschen zu Boden fällt, auch in diesem Tropfen eines Lächelns ist die wahre Menschlichkeit. So kam Agathe mit dem bis zum Rande angefüllten Glas zurück und sagte, wie sich's gehört: »Wohl bekomm's, Herr Doctor.« Und ich antwortete ebenso artig: »Danke, Agathe.«

Ich trank stehend im Hofe. Frühlingshaft weich, wie elastisches Porzellan war das Blau des Himmels über uns, und wo es bis zur Erde reichte, da streifte es an das neue Grün der Hügel und das Blütenweiß der Bäume, und das gab einen weichen leisen Klang voll freundlicher irdischer Erfüllung. Und dazwischen hörte man die Geräusche des Dorfes und das Hämmern aus der Schmiede. Ich gab das Glas zurück und sagte nochmals »Danke, Agathe.«

Und obwohl mir eigentlich jede Lust vergangen war, den Marius zu sehen, war ich durch Agathens Verhalten doch so berührt, daß ich der Sache nachgehen wollte. Und so trat ich, von Trapp gefolgt, beim Miland ein.

Und da gab es sofort eine Überraschung: im Hof schon traf ich richtig den Marius, mit ihm aber noch auf einen andern Mann, unverkenntlich gleichfalls ein Landstreicher, ein schmächtiger kleiner Kerl mit einem Mausgesicht, der in einer Art schelmisch-respektvoller Habtachtstellung vor dem Marius aufgepflanzt war und mit einem lustigen Blinzeln dessen Befehl oder Vortrag entgegennahm.

Kaum war Marius meiner ansichtig, sagte er laut, damit ich es hörte: »Geh in die Küche und laß dir von der Irmgard was geben.«

Der Schelm, man kann es nicht anders ausdrücken, scharwenzelte in die Küche, und ich sagte: »Na, noch ein Besuch.«

»Guten Tag, Herr Doctor«, sagte der Marius, um mich an die Formen zu gemahnen.

»Guten Tag auch, Herr Marius Ratti«, sagte ich meinerseits und setzte mich auf die Bank neben dem Eingang, unter der die Holzschuhe der gesamten Familie liegen, von den gewaltigen des Bauern angefangen bis zu denen Zäziliens.

Lässig mit gekreuzten Armen war Marius in der Sonne stehengeblieben: »Was führt Sie zu uns, Herr Doctor.«

Das war mir doch ein wenig zu dick aufgetragen. Ziemlich barsch fuhr ich ihn an: »Ich warte auf den Bauer.«

Daß er sachlich und höflich blieb und auch nicht kneifte, gefiel mir. Er erwiderte: »Ich darf wohl ›zu uns‹ sagen, denn schließlich wohne ich ja hier … und da wird man bald ein Teil der ganzen Wirtschaft.«

Na, schön.

Nach einer Weile sagte er: »Die andern sind alle auf dem Feld.«

»Ja, der Frühjahranbau. –

»Und Sie haben Hausarrest?«

Ach«, sagt er, »es sind genügend Leute draußen … meine Zeit wird schon kommen.«

»Ah? wann?«

»Beispielsweise zum Drusch.«

»Na, da ist lang hin … nur zum Drusch hat Sie der Bauer aufgenommen? Erntearbeiter gibt es doch immer genug und ein Maschinist ist ohnehin am Ort.«

»Ich wünschte, daß diesmal nicht mit der Maschine gedroschen werde.«

»Was?«

»Ja«, sagt er einfach.

»Ich verstehe absolut nicht, was Sie meinen, Marius.«

»Herr Doctor, der Maschindrusch ist eine Sünde.«

Zweifelsohne war er ein Narr.

»Hm … eine Sünde?«

»Brot ist Brot, sollte man glauben … und doch ist unser Brot kein Brot mehr.« Und nochmals sagte er: »Brot.«

»Ja … und?«

Er wurde ungeduldig: »Brot kommt von dort …« und er wies zum Himmel und dann auf den Boden, »… und es kommt von da … und dazwischen ist der Mensch mit seinen Händen, aber keine Dreschmaschine … so war es immer.«

Ich war ein wenig betroffen. Wahrscheinlich war jedes Diskutieren überflüssig. Dennoch sagte ich: »Mühlen sind schließlich auch Maschinen.«

»Ja«, sagte er, »die großen, die Dampfmühlen … davon sind die Menschen auch krank geworden.«

War er ein Naturheilapostel, der seine Halbbildung aus Volkswochenblättern bezieht? der von der schädlichen Anreicherung der Welt mit elektrischen Wellen gelesen hat und daher das Radio abschaffen will? hat er mit solch naiver Zurück-zur-Natur den Miland geködert? Um ihn zum Weiterreden zu bewegen, sagte ich: »Sie finden also Schrotbrot bekömmlicher?«

»Das kenne ich nicht«, antwortete er ernsthaft.

»Nun, Brot aus halbausgemahlenem Mehl.«

Er schien sich zu ärgern, entweder über meinen Unverstand oder über das Faktum des Schrotbrotes; unwillig die Achseln hebend, wandte er sich ab: »Was in Sünde zubereitet wird, wird nie und nimmer bekömmlich.« Und er ging ins Haus.

Da war ich nun allein auf meiner Bank und betrachtete den Hof mit all seinen Nützlichkeiten, die doch nahezu schon wieder der Natur angehörten. Und ich stellte mir vor, daß der Marius Ratti aus einem jener welschen Steindörfer stamme, die dort in den Bergen eingebettet liegen, mit ihrem beinahe fensterlosen unverputzten Bruchgemäuer und den steilen Außentreppen. Und auch von diesen Häusern aus werden die Felder bestellt, mehr noch, es werden die Weingärten gepflegt, und im Herbst herrscht Fröhlichkeit. Was treibt er hier, wo Ordnung ist, wenn auch weniger Fröhlichkeit, was treibt er hier? Wohlverputzt, mochte auch die Bodenfeuchtigkeit dunkel an ihnen aufsteigen, stand die Stallmauer den Hof entlang, unter dem Dachvorsprung hängen ordentlich die Leitern, im Winkel ist ein graues Schwalbennest, die Fliegen schwärmen beim Stallfenster und über der Dunggrube, die herüber stinkt, auf dem Komposthaufen wachsen schon die grünen Halme, und auch zwischen den Steinplatten zu meinen Füßen drängt sich das Gras durch, und es ist das Bleiben des Menschen zwischen dem Werdenden und dem Erstarrten, sicherlich ein Scheinbleiben und doch eines, denn er kommt aus der Flucht der Gräser und Winde, und er wird wieder zur Flucht, wenn alles um ihn steinern erstarrt, er der Mensch, der der Wind ist und das Gras in den Steinschluchten der Städte. Einem Adler gleich verschwand eine Fliege im Blau, und ich vergaß das Hier- und Sosein, da die Weingärten des Welschlandes sich herabdehnten bis zu der Kastanie im Hofe und bis zu dem Laden der blonden Wirtin. Doch da hörte ich erregte Stimmen in der Küche, erinnerte mich, warum ich hergekommen war und ging hinein.

Die Situation war etwas merkwürdig: der Kleine, der offenbar auf der Bank gesessen oder sich dorthin geflüchtet haben mußte, wurde soeben von Marius, der ihn an der Brust gepackt hielt, in halber Höhe über dem Sitz gehalten und hin und her geschüttelt; kaum daß er mit den Zehenspitzen den Boden berühren konnte. Ohne sich eigentlich zu wehren, schrie er »Auslassen, auslassen«, während Irmgard vielleicht ein wenig erschreckt, aber mit zweifelsohne befriedigter Miene danebenstand und zusah. Es war ein fremdartiges Bild, eine Gewalttätigkeit mit Federgewichten, die Flocke eines Dramas, ich konnte nicht umhin, ich mußte lachen. Und der Kleine, der als erster von den dreien mich eintreten und lachen gesehen hatte, wurde gleichfalls von seiner Lustigkeit übermannt und begann zu grinsen.

Marius ließ ihn jäh fallen: »Merk dir's für ein andermal«, und ohne mich oder den Kleinen weiter zu beachten, wollte er sich durch die Türe, durch die ich gekommen war, entfernen.

»Hören Sie, Marius, Sie hätten ihm das Steißbein brechen können«; der Schelm lehnte käsweiß auf der Bank und bekam keinen Atem.

Sonderbarerweise, hier war ja alles sonderbar geworden, übernahm Irmgard die Antwort: »Recht geschieht ihm.«

»Irmgard«, ertönte bereits von draußen die herrisch gefärbte Stimme des Marius, und Irmgard gehorchte folgsam.

Ich näherte mich dem Kleinen: »Na, wie gehts … atmen Sie mal tief.« Er hatte jetzt einen Schluckauf, der ihn schon wieder zum Grinsen brachte, obwohl sein Körper davon erschüttert wurde. Ich nahm den grün-weißen Tonkrug, der hier immer mit Wasser steht, füllte ein Henkelglas und ließ ihn trinken.

Er trank, dankte und schien wieder ganz fröhlich.

»Was haben Sie denn ausgefressen?«

»Ach«, sagte er, »pure Höflichkeit … ein wenig die Cour geschnitten …« Er streckte die Hand vor, rieb die Finger aneinander, als wollte er Stoff prüfen, und ich verstand, daß das Courschneiden einen handgreiflichen Charakter gehabt hatte.

»Und das war dem Marius nicht recht?«

Er machte eine Bewegung, als ob ich ihn nach meinem eigenen Namen gefragt hätte. Er war also mit den Gewohnheiten des Marius wohlvertraut, und ich fragte: »Er ist wohl eifersüchtig?«

»Kolossal«, meint das Männchen und wirft sich komisch in die schmächtige Brust. Irgendwo aber spüre ich, daß er mich dabei zum besten haben will.

»Warum machen Sie ihn dann eifersüchtig.«

Er haucht zu mir herüber: »Die Leidenschaft.«

»Na, Ihr wertes Steißbein scheint mir dafür ein ziemlich hoher Preis.«

»Dafür hab' ich's ein andermal billiger … es gleicht sich aus.«

»Aha, Sie stehen in einer Art Dauerverrechnung mit ihm.«

»Mit ihm? nein, so überhaupt …« Er steht auf, reibt sich den Hintern und macht ein paar Schritte, »… es geht schon … mit der Zeit hält man schon etwas aus.«

Er mochte so an die vierzig Jahre alt sein, reichlich zerlumpt, auch er kein richtiger Landarbeiter, obschon man manchmal in den Ställen und an den Maschinen solche Gestalten antrifft. Für einen Augenblick blitzte es in mir auf, daß der Marius sich nur deshalb in diesem Hause eingenistet hatte, um den Kumpan nachkommen zu lassen und nun zu zweit irgend einen Gaunerstreich auszuführen. Das vielgefaltete und wohl auch vielfältige Mausgesicht des Kleinen beobachtete mich mit belustigter Ironie.

»Sind Sie Landarbeiter?«

»Wenn's drauf ankommt, warum nicht?«

»Nun ja, es ist eine schwere Arbeit.«

Da steht er auf, und mit dem Stolz des zu kurz geratenen Menschen läßt er mich die mächtigen Muskeln seines Armes angreifen; merkwürdig die feingliedrigen Hände, in denen diese Arme auslaufen.

Jetzt habe ich den Anschluß: »Und mit diesen Muskeln lassen Sie sich so schütteln?«

»Ja«, sagt er überlegen, »man muß wissen, wann man sich zu wehren hat … bei einem andern wär' es anders ausgefallen.«

Was verband diese beiden Menschen? Da war einer, der hatte mächtige Arme an einem nichtssagenden Körper hängen und an diesen Armen wieder ganz zarte Hände, und unter seiner spitzen Nase lag ein breiter schmaler Spalt, ein Mund, mit dem er redete und aus dem der Atem wehte. Und da war ein anderer, auch er atmend, einer, den man im Vergleich zu diesem proportioniert nennen mußte – warum eigentlich? – einer, der schön war, und dessen Gewalt im Geäug lag, nicht in den Armen, sondern in seinem merkwürdig straffen Vogelblick. Was verbindet diese zwei? was bindet Menschen aneinander? warum kommen Menschen nicht mehr von einander los? Ihre Wege vermögen in der Landschaft sich nimmer zu trennen, es ist die Landschaft, die ihnen nachfolgt und die nicht mehr da und dort ist, sondern den Weingarten mit dem Gletscher verwebt, und doch so stark ist, daß sie die Schritte des Wanderers bindet und lenkt. Und als spräche ich zu mir selber, sagte ich: »Es ist der Blick.«

»Jawohl«, bestätigte das listige Gesicht von unten herauf, als hätte es meine Gedanken erraten, »jawohl«.

Denn der Mensch, dem wir begegnen, er kommt nicht aus dieser oder jener Gegend, er kommt nicht aus dem Raum, der Breite, Tiefe und Höhe hat, ja, nicht einmal die Tiere kommen aus ihm, es kommt der Mensch von weiter her, als er selber es weiß, und sein Blick, der nicht aus seinem Körper dringt, verrät die Herkunft aus dem aberunendlichen Raum, in dem Körper und Raum stets aufs neue geboren werden und das Sein dem Sein begegnet, so daß der Mensch ohne das Unendliche nimmer leben kann und sich wie ein Verräter an der unberührbaren Ewigkeit dünkt, ja, wie ein Tier, das trauernd blind ist, wenn er dem Wanderer, der ihm mit seinem Blick den Schimmer des eigenen Seins gebracht hat, wieder den Rücken kehren und ihn wieder lassen soll. Und das ist wohl die Antwort auf die Frage, die ich gestellt hatte, Antwort, die diese Unscheinbarkeit von einem Wandersmann mit einem Jawohl bestätigte.

Und weil dem so war, und weil jedes Entgleiten der geahnten Unendlichkeit in eine Verzweiflung stürzt, deren geringster und körperlichster Teil die Eifersucht ist, deutete ich auf die Türe, hinter der Marius und Irmgard verschwunden waren, und fragte: »Und Sie sind Ihrerseits nicht eifersüchtig …«

»Eifersüchtig? …« er lachte wieder sein Mauslachen mit den vielen Falten, »… eifersüchtig? … er ist ja im Recht.« Und er rieb sich nochmals den Hintern, der in einer zerfetzten, viel zu weiten und zu langen Sporthose steckte.

»Na«, sagte ich, »das ist mir zwar unverständlich, denn ich kenne ja eure Abmachungen punkto Frauen nicht, aber es wird schon stimmen …«

Da endlich kommt etwas aus ihm heraus: »Das werden Sie auch nicht verstehen … da müssen Sie erst ein paar Jahre mit ihm gewesen sein.«

Und ich sage rasch: »Ihr seid miteinander gewandert …«

Aber nun antwortet er nicht mehr. Er greift nach dem grün-weißen Krug und einfachheitshalber trinkt er gleich aus ihm eine Menge Wasser in seinen kleinen Leib hinein. Dann sagt er: »Alles in Ordnung«, und setzt sich auf die Eckbank.

So, also nicht unter ein paar Jahren.

Ich sage: »Ist recht«, und gehe zur Küche hinaus. Wie ich draußen in dem kleinen Flur bin, höre ich den Marius reden. Er redet so deutlich, daß ich auch ohne aufzupassen jedes Wort verstehen müßte, und jetzt sagt er abschließend: »Das ist das Recht, und um der Gerechtigkeit willen muß es so sein.«

Das war sicherlich kein Zufall, daß auch er vom Recht sprach. Irmgard hatte schon gesagt, daß dem Kleinen recht geschehen sei, der Kleine hatte selber ihm recht gegeben und sich selber zum Verzicht verdammt, denn immer sprechen die Leute vom Recht und vom Recht-haben und von der Gerechtigkeit, wenn sie, schreitend zwischen den Bergen und Bäumen, von Unendlichkeit dahergeweht werden, zueinander gezwungen werden, voneinander gerissen und weitergetrieben werden, ach, sie können kein anderes Wort dafür finden, zumindest kein größeres und heiligeres, und jedes Unrecht, das sie üben, kann bloß getan [werden], wenn sie damit recht zu haben glauben. Überall wittern sie die Gerechtigkeit, in allem Geschehenen und in aller Natur, denn das Recht ist der Trost in ihrer Trauer des Abschiednehmens, weil in ihm erst, mag es Gesetz oder anderswie heißen, das Aberunendliche, dem wir entstammen, erahnt zu werden vermag, freilich verzerrt oft, freilich oftmals gebrochen am Körperlichen und noch öfters so leer geworden, daß kein Sein mehr dahinter zu wirken scheint, trotzdem im Wort noch heilig und ewig und das Unberührbare aufbewahrend. Und sogar in dem Spezialrecht, das da offenbar zwischen dem Marius und seinem Schelm etabliert war, zitterte noch der Schimmer der Ewigkeit.

Doch nun antwortet die Stimme Irmgards: »Es ist deine Gerechtigkeit und deshalb glaube ich an sie.«

Die Stimme steigt kerzengrad und schön empor, so kerzengrad und schön wie das ganze Mädchen. Aber eben deshalb bin ich empört. Es gibt keine Gerechtigkeit des Marius, und selbst wenn Liebende sich gegenseitig als das Unendliche betrachten, ja, wenn sie es auch sind, in der Gnade des Unmittelbaren, die ihnen da geschenkt ist, gibt es keine Worte mehr, am wenigsten die vom Gesetz und der Gerechtigkeit, mag die Gerechtigkeit noch so sehr die Liebe in sich widerspiegeln. Nur ein Narr oder Scharlatan geht den umgekehrten Weg und ersetzt das Unmittelbare durch das Abgeleitete. Wollte Marius mit solchem Gerede das große starke aufrechte Mädel an sich fesseln? konnte sie da wirklich mitspielen? Hätten sie sich geküßt, ich hätte nichts dagegen gehabt, denn in meinem alten Gehirn gibt es beim Anblick eines schönen Paares bereits großväterliche Kupplerphantasieen, aber nun erschien mir der Marius mit solchem Gehaben wie ein Wanderprediger einer abstinenten Sekte mit kommunistischem Einschlag, voller Mißtrauen war ich gegen das salbungsvolle Getue, bei dem die listige Maus da drinnen vielleicht die zweite Geige spielte, um irgend einen Landstreichervorteil zu haben. Und ich trat hinaus.

Da stand der Wanderprediger in seiner kühnen Art da, halb ihr zugewendet, und sie ein wenig lächelnd, hatte die Augen in die Ferne gerichtet. Nichts war von ihrer staubigen Unterhaltung zu merken. Ich aber, noch immer wütend, sagte: »Was soll mit dem da drinnen geschehen?«

Marius machte eine wegwerfende Geste, teils um zu zeigen, daß das mich nichts anginge, teils um die Belanglosigkeit des Themas zu unterstreichen. »Ach, der Wenzel …«

»Wenzel? ist er ein Tscheche?«

»Nein, ich habe ihn so getauft, weil er wie ein Wenzel aussieht … und jetzt heißt er so.«

Irmgard lachte.

Die Späße des Marius sind mir nicht lächerlich. Er war ein schöner Mensch, dennoch dem Tier näher als viele, die wesentlich tierhaftere Gesichter tragen. Und Tiere machen keine Späße. Adler sind nicht humorbegabt. Höchstens noch Schweine oder Mäuse.

»Also Wenzel … und der bleibt jetzt auch hier?«

Sie überhörten beide meine Frage, als hätte ich Dinge berührt, die völlig belanglos geworden seien. Schließlich bequemte sich Marius zu einer Antwort: »Der Bauer wird vielleicht zufrieden sein.«

Irmgard ging schweigend ins Haus.

Nach welchen Ordnungen begann sich hier die Welt zu gliedern? sollte es eine neue Ordnung werden? oder wollte das Anarchische hereinbrechen, das Lockende und Verlockende, das eintritt, wenn die Ordnung sich selber zum Ekel wird? Wonne des Zerfalls. Aber es scheint mir undenkbar, daß ein Bauer, daß Miland von der Ordnung der Väter und Vorväter so angeekelt sein könnte, daß für ihn die Gefahr bestünde, solcher Lockung zu erliegen.

Marius stolzierte beschwingt im Hof auf und ab. Meine Anwesenheit stört ihn, und wohl eben deshalb frage ich: »Und wie steht es mit dem Gold?«

Er zieht sich wieder diplomatisch zurück: »Der Bauer ist nicht dafür.«

Aber weil ich auch des Peters halber zu irgend einer Klarheit kommen will, werde ich plump: »Zum Goldfinden gehört Keuschheit, so viel ich weiß.«

»Gewiß«, bestätigt er höflich.

»Sie predigen aber Ihre Moral auch Leuten, die gar [nicht] dran denken, jemals Gold zu suchen.«

»Sind Sie etwa für die Hurerei, Herr Doctor?« lautete die etwas überraschende Antwort.

Plötzlich wird mir inne, daß er es, bei allem diplomatischen Geschick, keineswegs ironisch, sondern völlig ernst meint, so ernst wie eben nur Narren alles ernst meinen.

»Alle Krankheiten kommen von der Unkeuschheit«, belehrt er mich.

»Ich dachte, bloß die Kinder.«

Er wirft mir einen verachtungsvollen Blick zu und stolziert weiter umher. Ich würde mich nicht wundern, wenn der Mann schon interniert gewesen wäre. Zumindest war er ein Grenzfall.

Aber als ob er meine Gedanken erraten hätte, bleibt er vor mir stehen: »Sie glauben, daß ich ein Narr bin … ja, weiß denn Ihre Medizin woher die Krankheiten kommen?«

Ich könnte ihm antworten, daß man dies zum Beispiel bei Infektionskrankheiten wüßte. Aber weil es auf alles eine Gegenfrage gibt, verzichte ich und sage bloß: »Hören Sie mal, Herr Ratti, Sie scheinen schon einige Erfahrungen mit der Medizin gemacht zu haben.«

Er lächelt, streckt den Arm aus und fährt mit gespreizten Fingern, doch ohne mich zu berühren, meinen Körper entlang: »Bei Ihnen sitzt es hier«, sagt er und deutet auf meine linke Schulter.

Das stimmte; in meiner Schulter und im Oberarm sitzt ein Rheumatismus, den ich zwar wenig beachte, der mich aber gerne plagt, wenn das Wetter umschlägt. Möglich, daß er sein Wissen von Miland bezogen hat, dem ich ja von meinem Rheumatismus schon oft genug gesprochen hatte, möglich aber auch, daß er wirklich die Begabung magnetischer Diagnosen besaß. Bei einem Narren eine gefährliche Begabung. Ich sage also verärgert: »Können Sie noch andere magnetische Kunststücke?«

»Ach so, Sie halten es für Taschenspielerei …«

»Nein, aber es besagt nichts gegen die Medizin.«

Es war mir nicht unlieb, das Knarren des Wagens aus der Kirchengasse zu vernehmen; gleich darauf bog das Gespann in den Hof ein. Frau Miland saß mit dem Jungen neben ihrem Mann auf dem Bock, die Magd hatte mit Zäzilie hinten Platz genommen, und Andreas, der schon vorher abgestiegen war, schloß das Hoftor, nachdem der Wagen eingefahren war.

Marius half die Pferde abschirren. Die Art, wie er Zugriff, zeigte, daß er mit Tieren vertraut war und mit Pferden umzugehen verstand. Beinahe zärtlich strich er ihnen mit ausgestrecktem Arm über das Fell und mit sachter Hand über den Bauch und die Innenseite der Schenkel, um die angesetzten Schmeißfliegen wegzuwischen.

Währenddessen hatte ich die Familie begrüßt. Man war nicht erstaunt, mich anzutreffen. Der Arzt gehört eben zu den fahrenden Gesellen, er geht von Haus zu Haus, besucht da und dort ein Leben, dieses überaus huschende Leben, das Atom um Atom in die Erde hinabsinkt, und seine Aufgabe ist es, einen Zerfall, der bei dem einen in der Schulter, beim andern in der Niere oder sonstwo beginnt, noch für eine kurze Weile aufzuhalten, kraft des Gesetzes, das er aus dem Unendlichen bringt. Und dieser meiner Funktion gemäß fragte ich: »Gottlob, alles gesund?«

»Gesund Gottlob«, erwiderte der Miland, der bisher still daneben gestanden hatte und Zäzilie an sich gepreßt hielt.

Eine Weile standen wir so da, wir alle auf unseren unteren Extremitäten, die sonderbar zweigeteilt aus unserem Körper herauswachsen, und ich fragte mich, ob nicht wirklich die Unkeuschheit die Auflösung sei, das Aufgeben unseres Zusammenhalts, ob in ihr nicht aller Ekel vor der Ordnung zum Ausdruck gelange und die Wonne des Zerfalls, und ich wartete, denn noch war das Ereignis nicht eingetreten und der Wenzel noch nicht zum Vorschein gekommen. Zäzilie hatte in ihrer schweigsamen Art eine der jungen Katzen angelockt und das Tier, das steiferhobenen Schwanzes und krummen Rückens sich genähert hatte, mit einem sonderbar raschen Zugriff gefaßt und hochgehoben. Die Sonne verschwand hinter dem Kuppron, rötlich säumte sich die Welt und der jähe weiche Abendhauch brachte den Duft der Narzissenhänge wie eine unsichtbare Blumenherde zu Tal.

Andreas war zum Scheunenboden hinaufgeklettert und stieß von innen die große graue Doppeltüre auf, um das Heufutter herabzuwerfen; knirschend baumelten die beiden langen eisernen Flügelhaken, bis sie ruhig herabhingen. Und nun trat Irmgard aus der Küche. Aber von dem Gast war noch immer nichts zu sehen.

Da drehte sich Irmgard um und rief hinein: »Kommt mal heraus.«

Der Wenzel genannte Mensch erschien allsogleich und grinste, man kann nicht sagen verlegen, aber immerhin erwartungsvoll.

Marius trat hinzu und sagte einfach: »Das ist der Wenzel, er sucht einen Platz.«

Ich war einigermaßen gespannt. Der Bäuerin war nichts anzumerken; sie musterte den Neuankömmling mit geraden Blicken, von ihr war nichts Liebenswürdiges zu erwarten, doch sie hielt sich an die Etikette und wollte ihrem Mann nicht zuvorkommen. Der trat auf den listig Schmunzelnden zu, gab ihm die Hand, was von dem Schelm mit einem durchaus unbäuerischen Bückling und Kratzfuß quittiert wurde, und sagte zu ihm: »Wir haben genug Hände, aber wenn du dir anderwärts eine Arbeit im Dorf suchen willst, so kannst du bis dahin hier nächtigen; mir soll's recht sein.«

»Wie der Bauer befiehlt«, sagte Marius in seiner verdächtigen Nachgiebigkeit.

Die Katze, die bisher ruhig auf Zäziliens Schulter gesessen hatte, sprang mit einem Satz davon; ihr Schwanz glitt dem haschenden Mädchen durch die Finger.

Und zu meiner Verwunderung sagte die Bäuerin, in der doch die Gissons zu ihrer härtesten Form geprägt waren, zu dem Kleinen: »Vielleicht kann Euch mein Bruder im Oberdorf brauchen.«

Das war alles. Auffallend war der Ton der Nachgiebigkeit, der nun hier herrschte und nur vom Marius herstammen konnte. Ich erinnerte mich des alten Milands, der vor vierzehn Jahren, als ich ins Dorf gekommen war, noch gelebt hatte. Von seinen Enkelkindern hatte er nur noch die Irmgard gekannt. Aber das hat mit der Nachgiebigkeit nur wenig zu tun. Oder doch: der alte Miland hatte den Hof nur unter argem Widerstreben übergeben; er war voller Mißtrauen gegen den Sohn gewesen, der eine vom Oberdorf heruntergeholt hatte. Indes, im letzten Jahr vor seinem Tod hatte sich ein recht erträgliches Verhältnis herausgebildet, nicht zur Schwiegertochter, wohl aber zum Sohn, von dem er vielleicht ahnen mochte, daß er unter der harten Frau litt. Damals saß Miland oft beim Vater im Garten, denn des Alten kleiner werdendes Leben wurde zwar auch im Raum immer kleiner, aber es ließ nicht ab von dem sprießenden, treibenden, reifenden Boden, auf dem es dahingegangen war. Ja, er verlangte jetzt mehr denn je nach dem Urgrund und seinem Wachsen, und mochte es auch nur der eingeschränkte und eingefriedete des Gartens sein. Und so war er auch da drüben im Garten eingeschlafen, die Hände in dem niederhängenden Gelaub eines Baumes, und war dahingegangen, lange bevor jemand etwas davon gemerkt hatte. Als er dann gefunden wurde, und wir ihn ins Haus herübertrugen, hatte er noch einen jungen Zweig in den Händen, und mit dem haben wir das Kruzifix umwunden, das er im Sarge hielt.

Ja, mit der Nachgiebigkeit des Marius steht dies in keinem Zusammenhang, es ist eine andere Nachgiebigkeit, aber für meine Beziehung zum Miland ist es nicht unwichtig, und deshalb ist mir die Sache eingefallen, während wir hier standen, und um uns herum es immer ruhiger und goldener wurde.


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