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IV.

Es war Ostern, und in aufgelockerten Reihen zogen weiße Wolken gegen Westen und dem Kuppron zu, hinter dem sie verschwanden, um immer wieder anderen den kühlen blauen Himmelsraum freizugeben. Denn der Frühling, der jetzt gekommen war, war der richtige, sachte und haltbar, und er ähnelte durchaus nicht jenem erschreckenden Frühlingsknall der ersten Märztage, sondern sanft rieselte die Himmelsbläue über die Körper der Menschen wie ein leiser Regen, dem man gerne die Kleider öffnet.

Ich war ziemlich zeitig heruntergekommen und spazierte auf dem Feldweg, der an der nördlichen Außenseite des Dorfes entlang führt. Noch waren die Bauerngärten durchsichtig und ihre Obstbäume setzten erst zum Knospen an, aber die wacklig-grauen, unregelmäßigen Bretterzäune, mit [denen] sie hier an den etwas höhergelegenen Weg stoßen, tragen schon grüne Moosstreifen, und der grabenartige Zwischenraum zwischen ihnen und [dem] Weg ist auch schon mit grünem Unkraut und Huflattich erfüllt. In kleinen Schlücken aber trinken die bereits grünen Wiesen und Ackermulden den Himmel ein, und das gibt ein leichtes und spielendes Wehen längs der Erde hin, eine bewegte Morgendlichkeit, die man sonst nur in der Meeresfrühe kennt, wenn die See sich kräuselt. Bald werden die Wiesen voller Narzissen sein.

Wie ich dann zwischen Strüms Anwesen und dem Friedhof wieder ins Dorf einbiege, treffe ich zwischen Pfarrhof und Kirche unsern Gottesmann, den Pfarrer Rumbold. Kränklich, bleichsüchtig, geht sein schattenhaftes Dasein beinahe unsichtbar zwischen den vier Wänden seines Pfarrhofes vor sich; er nimmt mich nie in Anspruch, vielleicht weil er dem Tod nichts widersetzen will, vielleicht weil er das Honorar fürchtet, vielleicht auch, weil er weiß, daß ich keines von ihm annehmen würde. Einmal riet ich ihm, möglichst oft Leber zu essen, Sabest könne sie doch gut für ihn stets beiseite legen und sie nütze bei Blutarmut. Die schwächliche Geste, die ich als Antwort bekam, deutete an, daß er sich so kostspielige Nahrungsmittel nicht leisten könne. »Also viel Spinat, Hochwürden«, sagte ich, weil ich wußte, daß er die paar Gemüsebeete in seinem verwilderten Garten, in dem auch seine geliebten Rosen stehen, selbst bearbeitete. Er nickte zufrieden. »Ja, ja, Spinat ist ein sehr gesundes Essen.«

Nichtsdestoweniger kommen wir gut miteinander aus, und er trägt es mir nicht nach, wenn ich ihn, kommt es zum Versehen, fast immer zu spät rufen lasse.

Ich hatte erst kürzlich gehört, daß er wieder bettlägerig gewesen war, und machte ihm den schon gewohnten Vorwurf, er möge solches doch nicht ohne meine Hilfe besorgen.

Mit dem etwas beleidigten Humor, der Zurückgesetzten manchmal eigentümlich ist, meinte er: »Sie nehmen ja auch meine Dienste reichlich wenig in Anspruch, Herr Doctor.«

»Ja, Herr Pfarrer, Sie kennen doch mein Abkommen mit unserem Herrgott … zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten mache ich ihm meine Aufwartung … und sonst muß er sich zu mir bemühen …«

Er lächelte mit seinem etwas schiefen Gesicht, unter dem man unwillkürlich stets den dicken Shawl sucht, über den es im Winter herauszulugen pflegt: »Nicht recht, Herr Doctor, nicht recht.«

»Und aufs Kirchengehen kommt es ja nicht an … das bringt bald einer zustande, Hochwürden, … wenn's nur sonst stimmt.«

»Ja«, sagte er bloß und seufzte. Die Scheu, die er vor seinen Bauern hat, hat er auch mir gegenüber und es dauert immer eine Weile, bis er ein wenig aus sich heraustritt. Offenbar rechnet er mich meiner Körperkräfte wegen zu den Bauern. Er reicht mir knapp bis zur Brust.

Außerdem hatten wir beide keine Lust, ein Religionsgespräch zu beginnen.

Und so sagte ich: »Jetzt wird es bald schön in Ihrem Garten werden.« Aber es fiel mir ein, daß auch sein Glaube kaum über den süßen kleinen Duftbezirk seiner Rosen hinausreiche. Gärtner sind oftmals so.

Er seufzte wiederum: »Was ich mit meinen eigenen Händen besorgen kann, das tue ich ja gerne … aber sehen Sie sich nur einmal das Kirchendach an … die Dachrinnen kaputt, und hier im Pfarrhof … ach, ich will gar nicht damit anfangen …«

»Nirgend Geld, Herr Pfarrer.«

»So weit sollte es doch langen … aber die Bauern meinen, daß sie genug leisten, wenn sie Sonntags herkommen und meine Predigt anhören …«

»Sie sehen, daß ich recht habe mit dem Kirchengehen.«

»Zweimal war ich schon beim Bürgermeister …«

»Der macht nichts ohne den Lax, und das ist ein wüster Heide.«

Lax ist der erste Gemeinderat.

Hochwürden sah mich von der Seite an, ob ich es auch ernst gemeint hätte, und dann huscht wieder ein Schatten seines schwachen Humors über den schiefen Mund: »Heide? ich schätze, Heiden sind sie allesamt … auch wenn sie sich bekreuzigen, ist's heidnisch.«

»Der Mensch ist ein widerspenstiges Vieh, Herr Pfarrer.«

»Natürlich …« Ein insektenhaftes Lachen kam aus der schmächtigen Brust, »… widerspenstig … und da nützt keine Predigt … wenn ich sie Heiden nenne, so hören sie sich's an, und wenn sie dann ins Wirtshaus gehen, so brüsten sie sich vielleicht noch damit.«

»Na, so arg wird's wohl nicht sein.«

Er schaute mich von unten an: »Wir sind alle Menschen … widerspenstige Menschen …«

»Ich bin der letzte, der daran zweifelt.«

»Und da weiß wohl ein jeder von uns, wie wenig fehlt, daß der Mensch zurückfalle … unter das Tier falle; niemandem ist es leicht gemacht, Ebenbild Gottes zu bleiben.«

Da wären wir doch nahezu in einem Gottesgespräch gelandet, denn in meinem banalen Sinn wollte ich den Tieren und gar den Blumen den Vorzug in der göttlichen Bildhaftigkeit geben.

»Ja, die Blumen«, sagte der Gottesmann und war von einem schwachen innern Licht verklärt.

Doch nun hatten die Glocken über uns ihr Osterläuten unterbrochen; die Glöcknerbuben, deren fröhliches Werk man durch die geöffnete Turmtür hatte sehen können, ließen nach einem letzten Bam die Stricke los und kamen heraus, wie Virtuosen aus dem Saal, umstanden von ein paar neidischen Kameraden. Und der Pfarrer mußte in die Sakristei. Die eifrigsten Betschwestern waren schon längst eingetroffen, waren zwischen den Kreuzen des Kirchhofs auf- und abgetrippelt, den alten Namen nach, vor denen sie jung sind und denen sie zunicken, und nun begann die Kirche sich zu füllen.

Oh, über dem Orgelspiel, das den Wind der Wolken, den Wind der Berge, den Wind der Erde und ihre gekräuselten Wellen zusammenfaßt, daß all die wehende Vielfalt der Welt, gelenkt von der Einfalt eines Schulmeisters, Platz finde in der Zeit und in dem Raum einer kleinen Dorfkirche, damit auch der weitverwehte Glaube hier untergebracht werde, handfester und habhaft werde unter dem schadhaften Dach, das auf den noch gotischen Mauern ruht. Und ungläubig wie der Wind, der immer dahinstreichend zielsuchende, ungläubig wie der Glaube, ist die Gemeinde herabgestiegen von den Höhen, sich zusammenzufinden in dem gefangenen Orgelklang und in dem geformten, habhaft gewordenen Wort, das sie nun in vielerlei Betstellungen betet: da ist der geizige Krimuß mit dem gelben Doggengesicht, von dem man erwartet, es müsse jeden Augenblick schräg die Zunge heraushängen lassen, und er blickt aufwärts gegen das Gebälk, da ist der reiche Robert Lax, der eigentliche Beherrscher der Gemeinde, der sich zwei Jagden leisten könnte und doch noch bis vor kurzem gewildert hat, und er schaut mit seinen starken schwarzen Augen auf die vor seinem muskulösen Bauch gefalteten Hände, da ist der Bürgermeister Wolters, kurzgeschoren, weißhaarig, eher einem Bäckermeister denn einem Landwirt gleichend, und mit murmelndem Mund und deutendem Finger liest er aufmerksam in seinem Gebetbuch, da ist die Familie Miland, und die Bäuerin im großmaschigen schwarztaftenen Kopftuch hat die Augen geschlossen und schaut nach innen, und es ist der Bartolomeus Johanni da, der den leeren schweren Blick seiner Ochsen angenommen hat und ihn leer und schwer auf die heilige Handlung geheftet hält, aber auch der lustige seemannsbärtige Thomas Suck, dessen Frau krank im Bette liegt, sowie die übrigen Leute vom Oberdorf sind da, unter ihnen der Bergmathias, sie alle möglichst nach Würde und Ansehen in den Betstühlen verteilt, die in Messing oder Porzellan ihre Namen tragen, Vorboten des Friedhofes. Vorne aber, auf dem teppichbelegten Altar, neigt sich der Gärtner vor dem Bilde der Mutter, die in den windbewegten Falten ihres sternenblauen Mantels das barockhaft strampelnde Jesuskind hält. Die übrigen Kinder jedoch sind auf der Empore versammelt, eine sich puffende, streitbar andächtige Engelshorde, angefunkelt von den Brillengläsern des musizierenden Lehrers, der, wenn er hier oben sitzt, regens chori heißt.

Unweit von mir, an einem der beiden, die Empore tragenden Steinpfeiler lehnt in lässiger Haltung der Marius und starrt mit grober Absichtlichkeit auf ein Bergwerksunglück, das auf einem der Wandbilder abgemalt ist. Es ist etwas zu viel Rebellion in seiner Haltung, denn daß er sich als Angehöriger des Milandschen Hauses dem Kirchgangbrauch gefügt hat, ist schließlich keine so überaus große Vergewaltigung. Nach einer Weile bemerkt er, daß ich ihn beobachte und schaut mit einem spöttisch-höflichen Gruß in den Augen zu mir herüber, und dann ist er plötzlich verschwunden. Auch nachher, als ich durch die Gruppen der Bauern gehe, die am Ausgang der Kirchengasse in der Hauptstraße Aufstellung genommen hatten und hier in streng hieratischer Ordnung stehen, die Gruppen der Altbauern, der Jungbauern, der Oberdörfler, der Burschen, der Häusler und Knechte, genau so wie sie vor hunderten Jahren hier gestanden hatten, selber dieses Vorganges unbewußt und wahrscheinlich bloß fühlend, daß das kirchliche Geschehen, das verständig und trotzdem unverständlich sich an ihnen vollzogen hat, nicht ohneweiters von Alltag und Wirtshaus abgelöst werden darf, während ich also durch die sich bildenden und wieder auflösenden Gruppen schreite, gegrüßt von den meisten und wiedergrüßend, und die Weiber bereits mit wehenden Kitteln enteilen, das Mittagessen zu bereiten, kann ich den Marius nirgends entdecken, und ich wundere mich nicht darob: denn welcher Gruppe gehört der Wanderer an? Keiner. Und keine vermißt ihn. Sie stehen hier unter dem Frühlingshimmel, auf dem der Frühlingswind und die Frühlingswolken dahinziehen, ihre schwarzen Anzüge heben sich scharf von den weißbesonnten Mauern ab, in jedem Anzug steckt ein nackter Mann, in jedem Mann eine nackte Seele, die kaum weiß, daß sie ein wenig geruht hat und doch noch harrt, ehe sie wieder zu Wind und Wolke wird. Allein der, der nicht unter ihnen ist und den sie nicht vermissen, ist immer Wind, ungestillt sein Ziehen.

An den hohen Festsonntagen kommen nur wenige Leute zur Ordination, sie sparen sich's für den darauffolgenden Feiertag auf. Ich habe also Zeit, das Wirtshaus zu besuchen. Auch dies gehört zum Brauch.

Wie ich eintrete, hat Suck wieder einmal das Wort. Er spielt hier die Rolle einer Art orientalischen Märchenerzählers, er hat sie sich selbst zurechtgelegt, sei es, weil es ihm Spaß macht, die anderen anzuführen, sei es, weil er am bloßen Erzählen seine Freude hat:

»Ja, weil ihr von den Welschen sprecht … was wißt ihr von den Welschen …«

»Oho«, rief einer der Jüngern Bauern.

»Ja, du meinst, du wüßtest was von ihnen, weil du im Krieg dort gewesen bist … aber was warst du denn? ein Artillerist warst du, von der Ferne hast du auf die Welschen geschossen, und was ist schon ein Krieg ohne Pferde? ein Dreckkrieg ist so etwas … aber mein Vater war ein Reitersoldat, ein Kavallerist, und der hat bei Novarra noch richtig Krieg geführt …«

Er strich seinen runden Seemannsbart und machte als geübter Erzähler eine Pause. »Guten Tag, Herr Doctor«, sagte er, um sie auszufüllen, und ich antwortete »Grüß Gott, Suck«, während ich meiner Würde gemäß an dem runden Tisch, an dem schon der Bürgermeister, der schwarze Lax, der doggengesichtige Krimuß und der ziegenbärtige Selbander saßen, Platz nahm und Sabest mir mein Bier zu dem weißen Zündstein hinstellt. Nach diesem Zwischenspiel fuhr Suck fort:

»Ja, mein Vater war ein Reitersoldat, und den Bart hat er so getragen, wie ich ihn heute noch trage, ihm zur Ehre und zum Angedenken, und sein Haar war damals noch jung und dunkel. Ja, so ritt er mitsamt seinen Reiterkameraden die Straßen hinunter in die Ebene, welche Italien heißt. Und sie ritten immer mehr in die italienische Hitze hinein. Das ist eine Hitze, von der ihr keine Ahnung habt, ein goldener Backofen ist die Welt, und der rote Himmel ist darüber …«

Wieder eine Kunstpause.

»Ihr glaubt mir etwa nicht? Ihr meint, daß jeder von euch die Hitze kennt, weil er bei der Ernte den bittern Schweiß geschmeckt hat, der einem über den Mund rinnt? Ihr meint, daß es die Sonne bei uns ebenso gut vermag? Einen Dreck vermag sie. Denn was ist die Sonne ohne die Hilfe des Meeres! Bei uns könnt ihr das Meer manchmal spüren, wenn ihr ganz hoch auf einen Berg steigt, und deshalb zieht es euch manchmal hinauf zu den Gemsen …«

»Kusch, Suck«, sagte Lax.

»… doch dort, dort ist das Meer, immerzu spürt man das Meer, auch wenn man es nicht sieht, und sein Salz steigt in die Sonne, es wandert mit ihr und steigt mit ihrer Hitze wieder herunter und wird zum Schweiß der Tiere und Menschen, aber auch zum weißen Grün der Oliven und zur schwarzen Süßigkeit der Trauben. Habt ihr schon Oliven gesehen? nein, ihr habt sie nicht gesehen, ihr kennt ja nicht einmal Weinstöcke …«

»Und wie ist das?«, ließ Krimuß sich vernehmen, »Ihr im Oberdorf habt jetzt auch Weinstöcke?«

»Nein«, erwiderte Suck, »aber wir haben manches andere, und du Krimuß rede mir nicht drein, wenn ich von meinem Vater erzähle und von den Welschen. Mein Vater also, der hat dies alles gekannt, zwischen Oliven und Weingärten sind er und seine Kameraden geritten, sie schmeckten das Salz des Meeres auf ihren Lippen und sie freuten sich auf die italienischen Mädchen.«

»Jetzt wird's interessant«, sagte Lax neben mir.

»Natürlich«, sagte Suck, »paß nur gut weiter auf, Lax, das ist auch interessant. Du hättest dich auch gefreut, wenn du in der Hitze so dahergeritten und weit und breit niemandem begegnet wärest. Nicht einer Seele. Von Zeit zu Zeit fragten sie ›Wo ist der Feind?‹, aber sie trafen auf keinen Feind. Die Dörfer, die dort nicht wie die unseren sind, sondern wie kleine Städte, und manchmal waren es auch Städte, die waren ausgestorben, die Leute waren vor meinem Vater und den Reitern geflüchtet oder sie hielten sich in den Stuben versteckt, und wenn die Reiter für sich und ihre Tiere Wasser brauchten, so mußten, sie in die Höfe der Häuser eindringen, indem sie mit ihren langen Lanzen die Türen aufbrachen. Doch in einem Haus, da trafen sie auf einen Mann, der wies sie zum Brunnen und er half ihnen sogar beim Tränken der Pferde. Doch wie sie damit fertig waren, da riß er seine Jacke und sein Hemd auf und schrie ›Evviva Garibaldi‹, auf diesen Ruf aber stand der Tod, und er wollte also, daß ihm die Soldaten mit ihren Lanzen die Brust durchbohrten. Da mußte mein Vater, der damals noch nicht mein Vater gewesen war, da mußte er lachen, und er kitzelte mit der Lanzenspitze den Mann auf der nackten Brust. Daraufhin sind sie davongeritten. So sind die Welschen. Und das wollte ich euch von den Welschen erzählen.«

Kreiste die Geschichte nicht um den Marius Ratti? vorerst schwiegen sie alle. Nur der Wirt mit der groben Begriffsstutzigkeit des Handelsmannes lachte, und als die ganze Gesellschaft auf ihn schaute, meinte er: »Er wird schon wen andern an der Brust gekitzelt haben … was, Herr Suck? und das war auch eine recht kurze Lanze? he? eine recht kurze Lanze …« Und mit den Fingern deutete er die Länge eines Zeugungsgliedes an.

Selbstverständlich gab es allgemeines Gelächter. Nichts kann so unsinnig oder so ordinär sein, daß es vom Menschen nicht gerne entgegen genommen würde, wenn in ihm unerfaßliche und komplizierte Dinge berührt werden und es gilt, das Unbehagen und die Angst vor ihnen zu überdecken. Und Lax, in dessen Nähe die Kellnerin gerade zu tun hatte, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihre Brüste.

Bloß der Bergmathias, der am zweiten Längstisch saß, brummte: »Ihr seid eine Saubande.«

Aber Suck, der überall dabei war, wo gelacht wurde und dem es vielleicht auch wohltat, seine kranke Frau ein wenig zu vergessen, schmunzelte, und als der Lärm verebbt war, sagte er: »Ich bin der letzte, der es leugnen wird, daß ich einen Bruder da drunten haben könnte, es gibt viele Kinder im Feindesland …«

Einer, der mit Suck am ersten Tisch saß, rief: »Noch ein zweiter Suck, das wäre zu viel.«

»Brauchst keine Angst zu haben«, rief Suck zurück, »der hätte ja nicht mein Mundwerk, der spräche ja italienisch … aber möglich wäre es schon, daß er käme. Warum denn nicht? alle Kriegskinder sind ruhelos, sie wandern und suchen den Bruder. Ja, und jeden Augenblick kann er kommen, auch so ein alter Kerl, wie ich es bin, mit so einem Bart …«

Alle schauten auf die Türe, und dann ging das Gelächter von neuem los.

»Meinst du das im Ernst?« fragte Miland und schien über die Kriegskindertheorie nachzusinnen.

»Das wär' noch schöner, wenn jeder Landstreicher ein wanderndes Kriegskind wäre«, sagte der Bürgermeister, »man hat ohnehin genug Scherereien mit diesen Leuten.«

»Brandlegen tun sie«, bemerkte der Ziegenbärtige neben mir.

»Wenn sie nicht stehlen, nähme ich das Brandlegen schon hin«, sagte Lax und lachte dröhnend.

Suck hatte ihn verstanden: »Ganz schön, wenn manchmal so ein Stadl brennt … was drin ist, weiß bloß der Bauer …«

»So etwas redet man nicht«, verwies der Bürgermeister.

»Der Wetchy ist ja nicht da«, sagte Lax und trank sein Bier aus, »Sabest, noch eins.«

Wetchy ist auch Versicherungsagent.

Der Ziegenbärtige ließ nicht locker: »Wer aus dem Feuer kommt, muß Feuer legen.«

Und Bartolomeus Johanni, der wenig Gedanken in sich trägt, sagte: »Alle Zigeuner verhexen das Vieh.«

Es mag sein, daß bei dem heißer gewordenen Vormittag der rasche Trunk manchem zu Kopf gestiegen war, sicherlich dem Ludwig Krimuß, der erhob sich jetzt von seinem Platz und sprach mit seinem gelben Doggenmund: »Wer wandert, der läuft vor dem Tod davon.«

Und der Knecht Andreas am zweiten Längstisch, dem Knechttisch sitzend, nickte: »Und er zieht ihn hinter sich drein.« Hierauf saugte er wieder an seiner Pfeife.

Miland sagte ruhig: »Der Tod hockt überall, wo immer du willst, auf dem Dach, im Garten … den muß nicht erst ein Fremder herbringen.«

Aber Krimuß, der sich nicht wieder gesetzt hatte und in der Art der Betrunkenen schräg über dem Tisch gebeugt war, so daß die Uhrkette mit den Amuletten, Talern und silbernen Halbmonden über der Platte baumelte, schrie mit seiner schleppenden Stimme: »Wenn er auch bei uns hockt, so ist er unser Tod und unser Freund … aber einen fremden Tod brauchen wir nicht.«

Ich fand es an der Zeit, auch etwas zu sagen: »Ich meine halt, wenn einer von euch den Tod wo hocken sieht, sollt' er den Doctor rufen.«

»Damit es rascher geht … gelt, Herr Doctor?« rief Suck in das ausbrechende Gelächter hinein, so daß sie nun über mich lachten.

Der kleine rundliche Häusler Strüm, der neben dem Suck saß, wunderte sich: »Weiß der Himmel, ich habe den Tod noch nirgends hocken gesehen.«

»Recht so, Strüm«, sagte ich, »wir sehen bloß das Leben, und mir ist es auch lieber, wenn ich zum Kinderkriegen statt zum Sterben gerufen werde.«

Und der Berg-Mathias lacht und sagt: »Und doch ist's das nämliche.«

»Schweig, Bergmathias«, sagte Krimuß mit der heiseren Eindringlichkeit des Betrunkenen, »der Tod droben am Berg, der ist auch ein fremder Tod … und den werden wir schon noch kleinkriegen … und wenn er kommt, erwürg' ich ihn und schmeiß' seine Fetzen hinaus.«

Es entstand eine kleine Pause, und wieder blickten alle auf die Türe. Ich spürte, daß etwas vorging. Sogar Pluto, der sich doch schon damit abgefunden hatte, daß sein Herr ein Wirtsgeschäft betrieb und doch selber auch seinen Nutzen davon bezog, auch er erhob sich auf seine vier weichen Riesenpfoten und schaute mit trauriger Erwartung hin. Und tatsächlich, es öffnete sich die Türe und niemand anderer als Marius trat ein.

»Grüß Gott«, sagte er einfach, und da alle Plätze besetzt waren, stellte er sich zum Schanktisch. Dort stand er ruhig und schaute ein wenig spöttisch auf die Tafelrunden.

»Ein Bier?« fragte Sabest mißtrauisch, denn er weiß, daß Marius kein Geld hat.

Aber Miland sagt, und er deutet dabei auch auf den Andreas: »Das Bier für meine Leute zahle ich.«

»Danke, Bauer«, sagte Marius und trank ein wenig von dem Bier, das Sabest ihm hingestellt hatte.

Krimuß, immer noch stehend, fragte feindselig lauernd: »Warum bist denn hergekommen?«

Marius Ratti nickte ihm zu: »Weil Ihr über mich gesprochen habt.«

»So was«, schrie Lax, »glaubst du, daß wir über nichts anderes zu reden haben!«

»Nein«, sagte Marius.

Das war seine Überheblichkeit. Suck, der sie noch nicht kannte, mußte darüber lachen. Einige stimmten ein.

»Sabest, schmeiß ihn raus«, brüllte jetzt der betrunkene Krimuß, »oder ich erwürg' ihn.«

»Halt«, Lax packte Krimuß am Arm und zog ihn auf den Sitz zurück, »setz dich Krimuß … das gibt einen Spaß.«

»Bist du ein Welscher oder bist du's nicht?« fragte die nackte Stimme des Ziegenbärtigen neben mir.

»Wenn Sie mich meinen, so bin ich kein Welscher.« Das war scharf, furchtlos und bestimmt hervorgestoßen worden, unterstrichen durch das hier ungewohnte und eigentlich unangebrachte Sie.

»Ratti ist aber im Grund ein welscher Name«, warf der Bürgermeister bescheiden ein, um die Gegensätze auszugleichen.

»Ja, was ist dabei?«

»Du sollst ja Gold finden können«, setzte nun Lax an.

»Gewiß, das kann ich«, antwortete Marius merkwürdig ruhig und entgegenkommend.

»Goldmachen?«, der schwere Johanni war wieder bei seinem Gedanken, »… wenn du Gold machen kannst, dann tust wohl auch Vieh behexen?«

Suck rief ihm zu: »Laß dein Vieh nur behexen … an einem Kalb mit drei Köpfen kannst du reich werden … der Sabest zahlt dir ja ohnehin nichts für die Kälber …«

»Ich kann Gold finden, aber nicht Gold machen.«

»Draus wird nichts werden«, ertönte die feste Stimme des Bergmathias.

Kopfschüttelnd beharrte Johanni: »Goldmachen, Goldfinden, das ist eins.«

In der Wirtsstube wurde es drückend heiß. Der Tabakqualm hing in einer breiten Schicht mitthoch in der Luft, das Bier und die schwitzenden Leiber rochen sauer. Ich zog kurzerhand meinen Rock aus.

»Der Herr Doctor will schon raufen«, schrie eine Stimme aus der Masse.

Es gab neuerlich ein ziemliches Gegröle. Aber keiner tat es mir nach. Sie behielten ihre Jacken an.

»Warum soll mit dem Gold nichts werden?« schreit Lax, »wenn er es findet, soll er es nur finden …«

»Nein«, sagt Ventlin aus dem Oberdorf, »der Berg gibt das Gold nicht her.«

Ein paar der jüngeren Leute haben sich interessiert zu Marius gestellt:

»Was willst du? Gold finden … oben im Berg?«

Sie schauen einander an und lachen blöd drauf los.

»So ein Narr … so ein verfluchter Narr.«

»Den Tod will er aus dem Berg herauslassen, den goldenen Tod«, bleckt Krimuß, »Sabest, schmeiß' ihn hinaus.«

»Bitte«, sagte Marius und bietet sozusagen seine Brust dar.

Die Burschen zeigen gute Lust, der Aufforderung des Krimuß nachzukommen, schon des Spaßes halber.

Da legt sich Mathias Gisson ins Mittel. Er schiebt die Burschen beiseite und stellt sich in seiner ganzen Breite neben Marius auf. »Was wollt ihr eigentlich?« fragt er in aller Freundlichkeit.

Aber nicht minder merkwürdig ist das Verhalten des ziegenbärtigen Selbanders neben mir. Jetzt ist er aufgestanden und gleichsam als Antwort auf die Frage Gissons sagt er entgeistert: »Gold.«

In Krimuß dagegen ist eine Veränderung vor sich gegangen: »Wer das Gold hat, der hat auch den Tod … er soll es nur herbringen das Gold, dann erwürgen wir ihn …« und er wandte sich an mich, »herbringen soll er ihn, damit wir ihn erwürgen.«

»Her mit dem Gold«, schreit einer am ersten Tisch.

Miland erhebt sich nun gleichfalls: »Der Marius ist mein Knecht, und ich habe ihn nicht zum Goldsuchen aufgenommen … also laßt ihn in Ruhe.«

Lax, dem das Ganze einen Höllenspaß bereitet, schreit: »Du, Miland, bist der gleiche Narr wie dein Knecht … laß ihn lieber goldsuchen … arbeiten tut er sowieso nicht.«

»Das ist meine Sache.«

Marius sagt ruhig: »Wie der Bauer befiehlt … ich hätte das Gold ohnehin nicht für mich gesucht …«

Selbander gestikuliert mit den Händen: »Der Gemeinde gehört es … der Gemeinde … da hat der Miland nichts mehr dreinzureden …«

Ventlin fährt auf: »Der Berg gehört zum Oberdorf … und er darf nicht angerührt werden … wir dulden's nicht …«

Krimuß, der mit bösem Hundeblick alles verfolgt, zupft mich am Ärmel: »Die Oberdörfler geben ihn nicht frei, den Tod … die Oberdörfler sind gescheit … aber nützen wird's ihnen nichts.«

Selbander mit seinem Ziegenbart gleicht einem gierigen Advokaten: »Die Schurfrechte gehören der ganzen Gemeinde …«

Miland meint: »Die Gemeinde kann darauf verzichten, droben gibt's schon eine unnütze Seilbahn.«

Und Lax, sei es um aufzumischen, sei es, weil ihn das Gold wirklich lockte, entgegnete: »Ah, nein, das gibt's nicht … wir wollen unser Gold haben.«

Der Bürgermeister wollte beschwichtigen. »Wer weiß, ob es das Gold wirklich gibt.«

»Er hat's versprochen«, stellt Selbander wütend fest. Einer ruft: »Der Miland hält zu den Oberdörflern.«

Marius steht in der Mitte des Streites. Er gehört zu keiner der beiden Parteien und lächelt. Aber von beiden Parteien fliegen ihm böse Blicke zu.

Johanni wiederholt: »Zigeuner, die das Vieh verhexen, gehören raus.«

»Bravo, Johanni«, schreit Lax entzückt.

Es war ziemlich klar, was jetzt geschehen mußte. Sabest begann auch schon die Biergläser abzuräumen. Und Strüm, der ein friedfertiger Mann war, machte sich zum Weggehen bereit. Bei den Burschen wurde es erwartungsvoll.

Der Ziegenbärtige ließ sich vernehmen: »Die reichste Gemeinde … die reichste im ganzen Land …«

Wenn ich nicht mein Verbandzeug herunterholen wollte, mußte ich eingreifen. Ich zog meinen Rock an: »Leute, ich gehe … es ist schon Mittagszeit …«, und um den Haupthetzer draußen zu haben, »… na Lax, wie wäre es …?«

»Jetzt gerade, wo es schön wird, Herr Doctor?« Aber er war nachdenklich geworden, sein tüchtiger harter Schädel hatte irgendwie zu arbeiten begonnen, er stand auf und sagte: »Es wäre schad' drum … man muß sich die Sach' überlegen.«

Krimuß murrte wie eine böse Dogge. Bei den Burschen herrschte Enttäuschung. Es war nicht ausgeschlossen, daß nicht noch einer im letzten Augenblick den Marius anspringen werde. Und Marius war nicht der Mensch, [der] das Feld freiwillig räumen würde. Man mußte ihm eine ehrenvolle Rückzugsgelegenheit geben.

»Kommen Sie, Ratti«, sagte ich laut, »begleiten Sie mich.«

»Es ist nicht alles Gold, was glänzt«, verkündete Suck, »zahlen Sabest.«

Marius konnte es mir nicht abschlagen. Mit einem leichten Gruß der Hand verabschiedete er sich und folgte mir.

»Na?« sagte ich, als wir draußen waren.

»Danke, Herr Doctor«, erwiderte er, »aber ich wäre mit denen schon fertig geworden.« Und beschwingt latschte er davon.

Drinnen herrschte jetzt Lärm. Aber dem Bürgermeister gelang es doch, ihn zu übertönen: »Leute, erst zahlen, einer nach dem andern.«

Nun kam Lax heraus; als er den sich entfernenden Marius sah, sagte er: »Trotzdem wird er das Gold suchen.«

»Dazu wollten Sie ihn vorher erschlagen lassen?«

»Sie hätten ihn schon wieder auf die Beine gebracht.«

»Ich danke Ihnen recht schön, Herr Lax.«

Er lachte mit den weißen Zähnen unter seinem buschigen schwarzen Schnurrbart: »Nichts für ungut, Herr Doctor.«

Es war mittaglich warm geworden. Der Zug der Wolken droben hatte sich verlangsamt, und wenn eine mit versilberten Rändern vor der Sonne halt machte, dann gab es eine milchige Stille in der Welt, wie sie nur der Frühlingsmittag kennt. Die Karolin wartete oben mit dem österlichen Essen; ich machte mich auf den Heimweg.

Beim Dorfausgang holte mich Suck ein.

»So ein schlauer Bursche«, sagte er.

»Der Marius? ja. Aber was will er eigentlich?«

Suck machte ein listiges Gesicht: »Die einfangen«, und er wies mit dem Daumen auf das Dorf zurück, »und er wird sie einfangen.«

Ich drehte mich um. Wir waren bei der ersten der drei Kapellen angelangt, die den Weg ins Oberdorf unterteilen. Von hier aus übersieht man schon das ganze Unterdorf: es lag inmitten seiner Obstgärten, über die der Schleier des ersten Grüns gebreitet war, und der mittägliche Rauch seiner Schornsteine stieg dünn und gerade empor. Auf der Straße hinter uns kamen uns einzel- und paarweise die Oberdörfler in ihren dunklen Anzügen nach, und sie alle dachten an das Mittagessen, das sie oben erwartete und das sie in ihre nackten Körper einführen würden.


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