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XII.

Wenn die eigentümliche Spannung, die über dem Dorfe lag, sich bei der Kirchweih entladen hätte, so hätte ich mich nicht gewundert. Und vielleicht hätte eine richtige Kirchweihrauferei die Luft gereinigt. Aber angesagte Revolutionen finden nicht statt, und bei schlechtem Wetter schon gar nicht. Am Morgen meinte ich sogar, daß die ganze Kirchweih verregnet werden würde, so sehr hatte sich das Wasser der septemberlichen Welt bemächtigt. Der Wald um mein Haus war zu einem Regenschleier aufgelöst worden; vom Wasser eingehüllt, das an ihnen herabrinnt, schien das Holz der Bäume müde und bereit zu verfaulen, das weiße Moos auf den Zweigen hatte sich mit dem Nebel vereinigt, und der Nebel, der immer dichter sich herabsenkte, war wie weißes Moos, Schnee, der noch nicht Schnee geworden ist, aber im Erstarren schon wieder schmilzt. Auf den elektrischen Leitungsdrähten, die zum Hause führen, saß Tropfen an Tropfen, und manchmal setzte sich eine ganze Tropfenreihe in Bewegung, um auf der Schräge des Drahtes bis zum nächsten Mast hinzufließen. Und als ich später wegging und aus dem Walde trat, da konnte ich nicht einmal die ersten Häuser des Oberdorfs wahrnehmen: alles war grau verhüllt, bloß ein Stück des Rasenhanges neben mir war sichtbar und an seinem Rand eine hellgrüne Birke im weißen Nebel.

Trapp taucht im Nebel unter, taucht wieder auf; wenn er an der Nebelgrenze läuft, sieht man seine Beine nicht, er ist ein dahingleitender, schwimmender, merkwürdig belebter Kahn, und der Nebel ist mit Trauer geschwängert.

Dann aber hörte der Regen zögernd auf, die Wolken hoben sich ein wenig, gleichsam um den kirchweihgerüsteten Menschen etwas Bewegungsfreiheit zu geben, und als ich unten eintraf – schon war die Messe vorbei –, da war die Kirchweih im schönsten Gange. Zwischen dem Ausgang der Kirchengasse und dem Wirtshaus standen beidseitig der Straße die mit Plachen gedeckten Buden und boten ihre billigen Waren aus, billig und doch überteuert, denn der Bauer hat für diese Preise keine Vergleichsmöglichkeit. Das Oberdorf war recht vollzählig vertreten; Suck war da mit seinen Buben, und einen Augenblick lang sah ich auch Irmgard, die mit großen Augen die Herzen eines Lebzeltstandes bewunderte. Marius aber konnte ich nicht entdecken. Man hörte Kindertrompeten und die schlurfenden Schritte der Menge, die mit schmutzbedeckten Stiefeln, mit kotbespritzten Hosen und Strümpfen, gemächlich sich vorwärtsschiebt, den Buden entlang, kaum der Pfützen achtend und von einem schwerfälligen Willen zur Fröhlichkeit erfüllt.

Da stand auch Wenzel, und um ihn herum waren die jungen Burschen versammelt. Als er mich sah, lachte er und grüßte militärisch. »Garde, habt acht!«, kommandierte er.

Ein paar schlugen die Hacken zusammen, daß die Straßenpfützen nur so aufspritzten. Die anderen lachten.

Wenzel fuhr sie mit seiner lauten wohlklingenden Stimme an: »Da gibt's nichts zum Lachen … habet acht, habe ich gesagt.«

Sie feixten, aber die meisten von ihnen entschlossen sich doch zum Strammstehen.

Und da geschah etwas Merkwürdiges: ich als alter Soldat grüßte gleichfalls militärisch.

»Gefällt Ihnen, Herr Doctor?«, fragt er treuherzig. Das Geschehnis am Zwergenstollen scheint er vergessen zu haben; aber auch ich habe es beinahe vergessen.

Ich schaue ihn an; er reicht seinen Grenadieren knapp bis zur Brust, und bei aller Komik und trotz seiner übergroßen Sporthosen wirkt dieses Männchen geradezu unheimlich. Immerhin behalte ich meine Besinnung: »Seid ihr verrückt«, frage ich ihn, »spielt ihr Kirchenparade?«

Seine Antwort ist überraschend: »Herr Doctor, ein paar Leute müßten zum Sanitätsdienst ausgebildet werden.«

Krimuß kam aus einer Gruppe von Altbauern herüber: »Heute zahle ich euch ein Bier …«

»Der Patron soll leben«, kommandierte der General.

»Hoch«, erwiderten seine Mannen.

»Hoch, hoch«, brüllte Wenzel.

»Dreimal hoch«, erwiderte die Schar.

Krimuß macht, so gut es geht, ein geschmeicheltes Gesicht, aber in Wirklichkeit ist es sauer, denn das Faß Bier tut seinem Geiz weh: das wußte ich, aber aus irgend einem Winkel meines Denkens stimmte ich seiner Handlungsweise zu, vielleicht auch nur, weil er seinen Geiz so weit überwunden hatte.

Nicht weit von uns war ein Stand mit allerhand Textilwaren. Dort sah ich die Agathe; sie ließ sich Leinen abmessen, und es fiel mir auf, daß sie für den Peter, der sich da unter Wenzels Kommando militärisch gehabte, nicht einen Blick hatte. Wo war die Nähe, welche einst diese beiden Menschenwesen vereinigt hatte? schwebte sie zwischen ihnen noch in der Luft? war sie davongeflogen? war die Sehnsucht, die aus der Unendlichkeit kommende, in die Unendlichkeit gerichtete, die die Menschen befällt, auf daß sie leben können, wieder in die Unendlichkeit entwichen?

Krimuß neben mir sagte: »Brave Burschen.«

Ich fand mich zurück: »Sie haben wohl Geburtstag, Krimuß, da gratuliere ich …«

Würdevoll schritt er mit mir durch den Kreis seiner Verehrer: »Man muß den Burschen was bieten … jetzt, wo sie gratis im Stollen arbeiten wollen …«

An seiner Uhrkette hing ein kleiner silberner Halbmond, alte Bauernarbeit. Auf der Schießstatt, draußen vor dem Dorf, begannen die Büchsen zu knallen.

»Ja«, sage ich etwas automatisch, »der Zwergenstollen.«

Er schaute mich boshaft an: »Ich weiß … ohne Sie, Herr Doctor, wäre es anders ausgegangen, vielleicht hätten wir's schon …«

»Was?«

»Das Gold … warum nehmen Sie Partei fürs Oberdorf?«

Ich antwortete nicht; ich mußte an Mutter Gisson denken, und das wäre keine Antwort gewesen.

Er fuhr fort: »Wir sind doch hier auch keine Narren … eher sind die die Narren mit ihrem Berg … die Gemeinde hat die Schurfrechte und muß sie ausnützen …«

»Der Marius«, sage ich und ertappe mich, daß ich mich auf den Narren Marius berufe, »der Marius ist auch gegen die Goldsucherei …«

Lax war zu uns getreten, groß, dick, starkzähnig; er lacht: »Der Marius? … den kriegen wir schon auch noch …«

»Der Kleine ist besser als der Marius«, ereifert sich Krimuß und beugt den Arm mit geballter Faust, um die Muskelkräfte des Wenzels anzudeuten, »der Marius paßt zum Miland …«

»Ja«, sagt Lax, »ja, der Miland … ohne den hätten wir schon die Majorität im Gemeinderat … aber weil er eine vom Oberdorf geheiratet hat und sich nicht traut, einen eigenen Willen zu haben, soll die Gemeinde die Schurfrechte verfallen lassen …«

Ich mußte meinen Freund verteidigen: »Der Miland weiß schon, was er will …«

»Bürgermeister will er werden«, meinte Lax, »das ist alles; wenn er mit uns ginge, könnte er es werden … meinetwegen, warum nicht … aber so, muß ein anderer in den Gemeinderat, da kann ich ihm nicht helfen …«

Krimuß spielte nervös mit seiner Uhrkette: »Was wir nicht holen, holt ein anderer … und der lacht uns aus, wenn wir sterben …«

Mit seiner großen Hand schlug Lax ihm auf die Schulter: »Wenn der Krimuß das Gold hat, stirbt er überhaupt nicht … das ist so einer!«

Krimuß lächelte beinahe dankbar; dann sagte er überzeugt: »Ja.«

Wer das Jenseits im Irdischen schon besitzt, der braucht freilich nicht zu sterben.

»Wenn man's recht bedenkt«, philosophiert Lax, »hat jeder etwas, das ihn vorm Sterben abhält … dem Krimuß muß man's Gold beschaffen, und mir legen Sie ein Mädel ins Bett, Herr Doctor, wenn's mit mir einmal so weit sein wird … passen Sie auf, wie ich da nicht sterben kann … besser als Ihre Medizinen, Herr Doctor.«

Auch dieser Gewaltmensch war mit dem Tod beschäftigt. Doch dann sagte er: »Kommen Sie mit aufs Bestschießen, Herr Doctor? ich gehe dann gleich hinaus …«

Wir waren beim Wirtshaus angelangt.

»Nein«, sagte ich, »im Schießen nehme ich's nicht mit Ihnen auf, Lax, aber trachten Sie, daß es mir heute keine Toten gibt … mit Ihrem Gold könnten Sie die schönste Rauferei heute zustandebringen.«

»Da können Sie beruhigt sein«, antwortete er, »die Burschen halten jetzt Disziplin.«

Doch Krimuß sagte: »Die kriegen heut' ihr Bier, weil sie in den Berg müssen … dort sitzt der Tod, da braucht man Mut …«

»So?« sagte ich, »haben Sie ihn dort schon sitzen sehen?«

»Ja«, erwiderte er, »als Bub war ich drin, da hab' ich ihn gesehen.«

Wie tief muß man doch in ein Leben sinken, um es erfassen zu können! auf welch tiefstem Grund des Vergessens ruht doch dieses Leben, und wie weit muß die Erinnerung zurückgeschickt werden! Und doch ist das Leben eine Einheit, und Geburt und Tod sind so nahe beisammen, daß der Sterbende in einem einzigen Atemzug das ganze Leben umfaßt! Der Krimuß war beinahe so weit, sich selbst zu erfassen, alles in ihm drängte schon dazu, Anfang und Ende zu verbinden, und er sagte: »Dort werde ich sitzen.«

»Im Wirtshaus kannst auch sitzen«, sagte Lax und schob ihn in die Türe.

Ich aber ging in meine Ordination.

Die Kirchweih ist ein Fest, bei dem die von den ferneren Gehöften gekommenen Leute nicht nur allerlei Einkäufe, sondern auch ihre ärztlichen Bedürfnisse versorgen. Es dauerte also diesmal länger als gewöhnlich und es wurde spät, bis ich endlich mein Ordinationszimmer verlassen konnte. Als ich auf den Gang hinaustrat, schallte gerade das Kommando »Vergatterung« durch das ganze Haus und setzte sich, deutlich vernehmbar, in der Wirtsstube unten fort.

Ich schaute in den Hof. Unter dem Kastanienbaum, dessen Blätter nun schon herbstmatt herabhingen, stand der Wenzel auf einem Stuhl und ließ sein Kommando ertönen. Die Burschen kamen, manche schon torkelnd, aus der Wirtsstube oder aus dem im Hofe befindlichen Abtritt, wo sie noch rasch ein Geschäft besorgt hatten, sie kamen bierdunstig und langsam, ein paar versuchten auch, mit den vom Baum fallenden und aufplatzenden Kastanienfrüchten Fußball zu spielen, aber schließlich stellten sie sich alle in Reih und Glied auf.

»Vorwärts, vorwärts«, trieb ihr General die letzten Nachzügler an.

Als es so weit war, hieß es: »Stillgestanden … Tuchfühlung … richt' euch.«

Es waren nicht mehr vierzehn, wie damals beim Zwergenstollen; ihre Zahl war auf etliche dreißig angewachsen, und zu meinem Erstaunen sah ich auch Burschen aus dem Oberdorf darunter. An der Türe der Glasveranda, die auf den Hof hinausging, standen die Zuschauer, unter ihnen der Protektor Krimuß. Lax fehlte, der war wohl schon auf der Schießstätte, aber Sabest und seine Frau waren da; er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und war sichtlich zufrieden, daß sich der Peter so stramm in der Kompagnie betätigte.

Der General auf dem Stuhl hat sein listiges Gesicht in eine strenge Ordnung gebracht und mustert seine Getreuen. Plötzlich aber springt er herunter, rennt auf einen der Soldaten zu und haut einem – er mußte ordentlich hinauflangen – eine mächtige Ohrfeige hinein: »Mach' erst deine Hose zu, wenn du zum Dienst kommst«, brüllt er ihn an.

Die Zuschauer lachten. Ich hatte erwartet, daß der große Kerl auffahren und das Männchen niederschlagen werde. Nichts davon. Er knöpfte seine Hose zu, und der Wenzel stieg wieder auf seinen Stuhl.

»So«, sagte er, »also ihr wißt, daß wir jetzt auf die Schießstatt marschieren, und daß ihr dort vor der gesamten Bevölkerung des Landes Ehre einzulegen habt … habet acht … Viererreihen bilden …«

Es geschah. Sogar einen Trommler hatten sie jetzt, der ordnungsgemäß an der rechten Flanke des dritten Gliedes Aufstellung genommen hatte. Eine merkwürdige Lust beschlich mich, da mitmarschieren zu dürfen: ist es nicht so, als könnte der taktmäßige Gleichschritt den Menschen aus seinem hilflosen Traum reißen?

Dann verließ Wenzel endgültig seinen Standort auf dem Stuhl, setzte sich an die Spitze der Kompagnie und marschierte ab, aus dem Hof hinaus, während gleichzeitig ihr Lied intoniert wird:

»Wir sind Männer, keine Knaben
…«

Ich kam gerade in die Wirtsstube, als die Zuschauer wieder in sie einströmten. Es waren nicht mehr viel Leute da, die meisten waren auf der Schießstätte draußen. Qualmig aber und voll vom sauerem Schweißdunst und Biergeruch hingen die Tabakswolken in der Luft. Pluto, der Leonberger, erhob sich bedächtig und weich, um seine Flanken an meinen Beinen zu reiben und den Kopf unter meine kraulende Hand zu bringen.

Sabest, die unvermeidliche Zigarette im Mund, sagte: »Das ist einmal ein schöner Herbst, Herr Doctor.«

»No, kann ich nicht eben finden«, meinte ich mit einem Blick zum Fenster hinaus.

Er prüfte in gewohnter Weise die Schneide seines langen Messers am Handballen: »Nicht das Wetter, Herr Doctor, nein, das, was kommt …«

»Grüß Gott, Herr Doctor«, tönte es da aus dem Tabaksrauch von einem der Tische her; es war die langsame Stimme des Bergmathias.

»Was? Bergmathias, Ihr seid hier? was ist denn mit dem Bestschießen?«

Er lachte: »Heuer ist nichts … es könnt' mir da ein Schuß fehlgehen … der, den Sie mich damals nicht haben abfeuern lassen, Herr Doctor … ich geh' heim.«

»Der Schuß wäre der Mühe wert gewesen.«

»Natürlich war' er der Mühe wert gewesen … da wär' jetzt Ruh'.«

»Na, auch schön … aber wenn Ihr heimgeht, da können wir's mitsammen tun.«

Draußen am Jahrmarkt herrschte jetzt Vollbetrieb. Wir überlegten, was wir Mutter Gisson mitbringen konnten. Und da sie trotz ihres Alters eine Frau war, eine Frau, die was auf sich hielt, kaufte ich eine schöne silberne Vorstecknadel, während der Bergmathias sich mit einer Kaffeetasse begnügte, die allerdings den schönen Vers trug: »Süßer noch als der Kaffee, heißer noch mein Liebesweh.«

Mit dem gemächlich ruhend gebeugten Schritt der Bergbewohner stiegen wir gleichmäßig und schweigend die Straße hinan. Es hatte wieder zu regnen begonnen, der Wald rauchte, und die Hänge entlang strichen die weißen Nebelfetzen. Aber der Regen war dünner geworden, die Wolkendecke hatte sich gehoben, hell glänzten Föhren und Birken in der Feuchtigkeit, und mit einem Male gab es sogar einen Wolkenriß, so daß ein Streifen des Regens wie ein singender goldener Schleier im Sonnenlicht war, freilich nur für einen Augenblick, denn eine rasche Hand stopfte eilends ein paar Wolken wieder in den Riß hinein, damit er wenigstens bis zum Abend sich nicht wieder öffnen könne. Und die Berge blieben unsichtbar.

Da sagte der Mathias: »Jetzt soll er auch schon in den Gemeinderat kommen …«

Ich blieb stehen: »Wer? etwa der Marius? wie will er denn das anfangen?«

»Er will wahrscheinlich gar nicht … der Lax will es … einer der Gemeinderäte soll zurücktreten, damit der Marius hineingewählt werden kann …«

»So ein Unsinn.«

»Warum? das ist ganz in Ordnung.«

»Bergmathias, mir scheint, du hast zu viel getrunken.«

»Mag sein, aber jetzt, wo er langsam auch schon nach und nach das Oberdorf bekommt, ist's nur in Ordnung, wenn er im Gemeinderat sitzt … der Lax wird schon einen bestechen, daß er zurücktritt … am liebsten war' es ihm freilich, wenn es der Miland täte …«

So viel hatte der Bergmathias schon lange nicht auf einmal gesprochen; es war schon möglich, daß er einen leichten Rausch hatte, doch das, was er erzählte, war durchaus im Bereich des Möglichen gelegen.

Ich fragte: »Und der Berg?«

»Wenn ihn die Menschen nicht schützen, wird er sich schon selber schützen«, erklärte er mit Bestimmtheit.

Dann redeten wir nichts mehr. Der Himmel wurde wieder dicker, und obwohl es noch nicht die Zeit der Dämmerung war, war diese doch schon da, unmerklich zwar, aber doch vorhanden, wie ein Gast, der zu früh kommt und in einem Winkel wartet: da bröckeln die Wolken ab, als würden sie von der Hand dort oben ziellos zerzupft werden, suchend und ziellos fliegen sie umher, losgelöst von der mütterlichen Herde, der Schotter auf der Straße hat die Farbe der feuchten Abende, der Ozean atmet auf bis hinauf zu den fernsten Bergesgipfeln, mögen diese noch so unsichtbar sein, und was noch nicht geschehen ist, das ist bereits da.

»Süßer noch als der Kaffee, heißer noch mein Liebesweh«, las Mutter Gisson, bei der wir mit unseren Geschenken eingezogen waren, sie las es mit großer Bewunderung von der Tasse des Bergmathias ab, und sie bewunderte desgleichen, wenn auch etwas weniger, meine Nadel, mit der ich einen Tropfen Blut aus meinem Finger stechen mußte, damit die Freundschaft nicht zerstört werde.

»Warum seid Ihr denn nicht zur Kirchweih hinunter gekommen, Mutter Gisson?«, fragte ich, »da wäre ich zum Tanz unten geblieben.«

»Da unten hat man mich nicht gebraucht.«

»Doch, ich … Ihr habt mir schon längst einen Tanz versprochen.«

Sie schaute sinnend ins Leere. »Zur Bergkirchweih werde ich wohl kommen«, sagte sie dann, »da wird es wohl nötig sein …«

»Bestimmt?«

»Natürlich, wo die Irmgard doch die Bergbraut ist.«

Die Bergkirchweih ist eine Art Anhängsel der eigentlichen Kirchweih, oder richtiger ihr Vorläufer, denn sie ist zweifelsohne das viel ältere Fest: dafür spricht, daß es gleich dem Steinsegen am Neumondstag abgehalten wird, am ersten nach der wirklichen Kirchweih, und daß es mit jenem überhaupt in einem gewissen Zusammenhang steht, denn die beim Steinsegen geweihte Braut spielt auch hier die Hauptrolle. Allerdings findet die Feier nicht bei der Bergkapelle statt, sondern beim Kalten Stein, und sie ist sogar noch dürftiger als der Steinsegen; ein paar Buschenschenken und der Tanz im Freien, das ist alles, was von der einstmals sicherlich großen und bedeutenden Zeremonie übrig geblieben ist, ein bißchen Mummenschanz, und auch dies nur bei günstigem Wetter.

»So, da werden wir also miteinander tanzen …«

»Ja, ja«, sagte sie noch immer ein wenig träumerisch, »das werde ich tun.«

 

Am darauffolgenden Freitag – ich hatte schon längst vergessen, daß es einen Neumond und eine Bergkirchweih gibt – wurde ich durch Musik zum Fenster gelockt. Es war etwa vier Uhr Nachmittag, wolkenlos war der Himmel, wenigstens so weit ich ihn hier vom Haus aus überblicken konnte, und die Tannen sangen ihr dunkles spitzes Lied in die Bläue hinauf. Aber nicht dieses hörte ich so eigentlich, obschon es gleichfalls recht vernehmbar war, sondern die Klänge einer Ziehharmonika waren es, die vor meinem Gartenzaun Halt gemacht hatten. Es war der Zug der Bergbraut, der sich zum Kalten Stein, zur Bergkirchweih hinbewegte, und wie sie da vor meinem Zaun standen und Musik-Christian auf der Ziehharmonika aufspielte, da war es beinahe wie ein Ständchen, das sie mir darbrachten. Es war ein ganzer Haufen von Burschen und Mädeln, die sich da um die Bergbraut Irmgard scharten, sogar den Wenzel, der offenbar bei jeder Belustigung dabei sein mußte, entdeckte ich unter ihnen. Und dann sah ich auch Mutter Gisson in ihrem schönsten Feiertagsstaat und begriff nun, was sie von mir wollten.

»Ich komme gleich«, rief ich hinunter.

»Schon gut«, erwiderte Mutter [Gisson], hieß die anderen weiterziehen und trat in meinen Garten.

Ich machte mich eilends fertig und ging hinunter. Die kleine Rosa spielte im Sande, und Mutter Gisson schaute ihr zu.

»Behältst du die jetzt ganz bei dir?«

»So lange die blöde Hetze gegen den Wetchy andauert, ganz bestimmt … die Bande soll sehen, daß einer zu ihm hält.«

Sie nickte beifällig, betrachtete aber das Kind nicht sehr freundlich. Als wir uns wegwandten, sagte sie: »Schön ist es nicht.«

Ich war über ihre offensichtliche Abneigung ein wenig verwundert, gleichzeitig jedoch wieder einmal bereit, den Wetchy, der so häßliche Kinder in die Welt setzte, dafür verantwortlich zu machen. Und weil der Mensch billige Weisheiten von sich gibt, wenn Abneigung im Spiele ist, meinte ich: »Mein Gott, Mutter, Eure Dorfkinder sind auch nicht alle schön wie die Engel …«

»Nein«, sagte sie, »das sind sie nicht … aber das Kind, das du da hast, ist ärmer als die anderen dran, und das tut weh.«

»Eben deswegen will ich ihm helfen«, sagte ich.

»Das wirst du nicht können.«

Vor Wetchys Haus stand die kleine Frau und grüßte eifrig. Mutter Gisson nickte zurück.

Dann sagte sie: »Du bist zum Helfen da, das ist schon recht … aber mach das Helfen nicht zu klein, die Menschen warten auf die Hilfe …«

Ich sagte: »Sie lassen sich lieber vom Marius helfen.«

»Und darum wirst du erst recht auf deinem Platz stehen müssen.«

Wir waren bei der Lichtung angelangt, von der die Seilbahn ihren Ausgang nimmt. Der Himmel war aus stählerner Seide und das Gestirn glitt über ihn hinweg; aber drüben im Südwesten schmiegten sich weiche weiße Wolken an ihn, voll lauer Weichheit, Schichte um Schichte, und sie reichten schon bis zum Gipfel des Rauhen Venten.

»Da kommt noch heute was«, sagte ich, »da wird es mit dem Tanz vielleicht schlecht bestellt sein.«

»Getanzt wird noch werden«, antwortete sie.

Das Tal war vom September erfüllt, dunkler das Plombenter, in dem schon die Nachmittagsschatten lagen, sonniger das Kupproner, doch beide ein wenig über sich selbst hinausgehoben, als schwömmen sie auf ihrem eigenen Grunde. Abgeerntet schon die Felder, vielfach schon braune Ackererde zwischen den Wiesen, nur der Mais stand noch gelb, dennoch nicht mehr verwurzelt, sondern getragen von der Heiterkeit des Herbstes. In der Schneise der Seilbahn aber, etwa zweihundert Meter unterhalb der Lichtung, ruhte der abgestürzte Förderkorb in einem Gewirr von Drähten und bereits überwuchert vom rasch emporgeschossenen Gras und Kraut.

Noch war es nicht das letzte Feuerkleid des verprasselnden Jahres, aber schon hatte die Welt begonnen buntfarben zu werden, und Mutter Gisson sagte: »Die Welt tanzt.«

Als wäre die Luft selber voller Quellen, so schlug sie uns aus dem Waldweg entgegen, in den wir, die Seilbahn rechts von uns lassend, jetzt eintraten. Die Bläue des Himmels folgte uns, aber leichtfüßig kam uns der schwere Hauch des feuchten Waldbodens entgegen, das kühle Sein der Dunkelheit, in der es über die Felsblöcke rieselt und die Farne wachsen. Und da sagte ich: »Wie kann ich helfen, da ich selbst nach der Hilfe suche und nicht zu ihr gelange, Mutter?«

Und sie antwortete: »Laß dich nicht verzaubern, dann wirst du helfen können.«

Ich aber sagte: »Wissen wir denn, wann die Verzauberung über uns kommt? wir können uns ihrer ja nicht erwehren.«

»Dann mußt du auch da noch hindurchgehen«, antwortete sie.

Und dann sagte sie: »Wenn die Bäume tanzen, dann darfst auch du es tun.«

Beinahe eben ging unser Pfad durch den Wald, manchmal durch kleine Lichtungen unterbrochen, Gelasse der Feuchtigkeit, in denen das Gras satt war von der Nahrung des Bodens und in denen die Kühle sang wie im Innern einer Muschel. Das Meer aber war über uns gespannt und leuchtete uns zu. Da sagte sie: »Nichts geht verloren, und darum soll man die Kinder lieb haben, denn sie finden das wieder, das für uns versinkt.«

»Ja«, sagte ich und dachte daran, daß ich kein Kind hatte, sondern nur die kleine Rosa, die so häßlich war.

Leicht wie eine Junge, schritt die alte Frau neben mir, als wäre auch ihr Sein ein wenig über sie selbst emporgetragen, als schwebe sie selber ein wenig in ihrer Seele, heiter beinahe dahingleitend über ihren Spiegel. Und um uns herum atmeten die großen alten Pflanzen, die wir Bäume nennen, atmeten all die Gewächse, Gras und Moos, Vermodertes und Vermoderndes, Wachsendes und erst Keimendes, atmete diese Einheit des Wachsens alle Heiterkeit ihrer Frische und [ihres] Nicht-Verlierbaren.

Nichts geht verloren, und die Seele, die hinabsinkt in den kühlen Schacht ihres Selbst, in den kühlen Brunnen ihres Traums, auf dessen Grund die Schlange ruht und der Mond sich spiegelt, in ihrer Muschel singt sie ewig weiter von Kind zu Kindeskind.

Nun kamen wir in die Nähe der Böllerschüsse; breit und hart rollten sie durch das aufzitternde Gelaub, und in den Nachhall mischte sich stets das Auffliegen der Vögel.

Dann ging es noch ein kleines Stück in den schütterer gewordenen, schütterer werdenden Wald nach abwärts; schon reicht hier Wiese in die Baumbestände hinein, schon sind die Erikastauden durch Moos abgelöst worden, um nun selber durch kurzes weiches Gras abgelöst zu werden, und der Weg verläuft heiter im Rasen, immer freier und luftiger wird der Aspekt, hellgrün und lose stehen die Lärchen, reichen einander die Äste nur mehr mit Fingerspitzen, immer mehr Birken mischen sich unter sie, noch ein paar Schritte, und gesäumt von dem Bächlein, das oben beim Kalten Stein entspringt und hier zwischen rostbraunen Rasenufern einhereilt, ehe es zur Seilbahnstraße hin abbiegt, breitet sich die sanft von Birken umgebene Lichtung vor uns aus, eine mäßig eingesenkte Terrasse des Bergabsturzes, am oberen Rande, dort wo der Kalte Stein steht, vom dunkleren Walde bekrönt, ein Garten, überragt von den bereits abendlich gewaltigen und blaugrauen Wänden des Kupprons, doch von seinen Schatten erst leise angetastet und nur am obersten Abhang erreicht: noch strahlt die letzte Nachmittagssonne auf diese Festwiese, in ihrem Gold funkeln die Gläser der Buschenschenke, das Leinendach des Lebkuchenstandes ist wie ein ruhendes Segel, und kräuselnd steigt der Rauch der Wurstbraterei. Der flirrende Glast von Gold und Menschenstimmen, die über dem Platze hängt, hat seine größte Dichte und sein Zentrum über dem Tanzgeviert, das in der Mitte der Lichtung eingerichtet ist, es ist ein summender Glast, vermengt mit dem Schleifen und Stampfen der Stiefel, vermengt mit dem Lächeln und den Blumen der Luft, und die Ziehharmonika des Musik-Christians sang Schatten und Gold zum Himmel hinauf. So geschah es in der Mitte des Platzes, wo das Tanzen seit dem Einzug der Bergbraut in Gang gekommen war, während oben am Waldrand, neben dem alten keltischen Opfertisch gerade die letzten Böller, die dort vergraben waren, abgebrannt wurden, niemand aber sich um den Kalten Stein selber kümmerte: kühl und unbeachtet ruht er dort auf halb eingesunkenem Sockel, und seine Rolle bei diesem Fest ist ausgespielt.

Mutter Gisson und ich hatten den Steg des Bächleins überschritten, und wir gerieten nun in das Gewühl; von manchen wurden wir gegrüßt, die meisten sahen uns gar nicht, so sehr waren sie von der Lust, deren sie teilhaftig werden wollten, waren sie von dem Leben, das sie in sich fühlen wollten, gefangen genommen.

»Ja«, sagte Mutter Gisson, »jetzt führst mich zum Tanz.«

Der Musik-Christian spielte auf.

Es war ein Ehrentanz, zu dem ich mit ihr antrat. Allein, so sittsam wir es auch taten, um uns herum stampfte es wild, und die Köpfe und Körper, gleichsam von unsichtbarer, dennoch stürmischer Welle bewegt, gingen auf und nieder; ein brodelnder Kochtopf war dieser Tanzboden, brodelnd von Leibern, und heißen Brodems voll war der goldene Glast, der zitternde, der darüber hinschwebende, unendlich verzitternde: und wir, ich ein alternder Mann, die alte Frau zum Ehrentanz in meinem Arm, beide darum wissend und uns manchmal darob anlächelnd, wir tanzten, freilich kaum mehr miteinander, sondern ein jedes von uns tanzte die eigene Unergründlichkeit seines Lebens, tanzte den Herzschlag seines eigenen Seins, des noch vorhandenen, noch nicht verlöschten, noch immer pulsierenden Ursprungs, eingeordnet, eingefühlt, einveratmet in den großen tanzenden Herzschlag um uns. Wählt noch einer den, mit dem er tanzt, wenn er dem Hämmern des eigenen Blutes unterworfen ist? gilt bei solcher Wahl, die Wahllosigkeit ist, noch Zuneigung? gilt noch Freundschaft? gilt Liebe? Ein anderer Tänzer kam, nahm mir Mutter Gisson aus dem Arm, und auch ich wechselte die Tänzerin, wechselte sie noch oft, dennoch kaum wissend, mit wem allem ich tanzte, geschweige, was um mich herum geschah: ein paarmal drehte ich mich mit Irmgard im Kreise, und sie war schön und ernst in ihrem Brautschmuck; dann wurde sie mir wieder entrissen, und später sah ich sie sogar mit Lax, auf dessen Gesicht das Lächeln des fleischlich Entrückten saß. In sich versunken sprang das braunbärtige Gesicht des Schmiedes auf und ab, und für einen Augenblick war das listige Mauslächeln des Schelmes Wenzel aufgetaucht, geschmiegt an den Busen einer großen dicken Dirn, doch immer mehr verschwamm alles Gewoge, verschwamm mein Bewußtsein, weder merkte ich, daß Mutter Gisson den Tanzplatz schon längst verlassen hatte, noch merkte ich meine eigene Erschöpfung, und ich hörte zwar, daß ich gerufen wurde, doch es dauerte lange, bis ich den Ruf verstand:

»Herr Doctor, jetzt kommst aber endlich heraus!«

Es war Mutter Gisson. Sie stand außerhalb der Stricke, die den Tanzboden abgrenzten, inmitten der Zuschauer, und ihre Stimme war nicht lustig, sondern eher eine Warnung. Und trotzdem konnte ich mich nicht losreißen, und als ich es endlich tat, da stand ich noch eine gute Weile unter den Zuschauern und starrte auf das Geschehen der Leiber: pausenlos waren sie auf den Beinen, ohne Ermüdung, mit der erbitterten Hartnäckigkeit von Besessenen rangen sie um ihre Lust, mit einer verbissenen Leidenschaft, die mit den üblichen Faschingsvergnügungen schon nichts mehr gemein hatte, getrieben von einer magischen Woge, die unwiderstehlich hochging und mitriß, Woge, herkommend aus der Dämmerung des Menschen, emporsteigend zur Dämmerung der Sterne, begleitet von einer Ziehharmonika. Wahrlich, sie mußten sich beeilen, wenn sie zu den Sternen noch heute gelangen wollten, oh, beinahe hätte ich sie selber angefeuert durch Zuruf und Händeklatschen, sie durften nicht ablassen von ihren Bemühungen, und sie taten es nicht: sogar zum Biertrinken wollten sie nicht unterbrechen; sie schrieen zu Sabest hinüber, daß er ihnen das Bier bringen möge, und Sabest, gleichsam begreifend, warum dies so sein mußte, lief hin und her.

Vielleicht hätte ich mich neuerdings in das Gewimmel gestürzt, wenn mich nicht die Agathe angeredet und nach Mutter Gisson gefragt hätte. Ich erkannte sie, aber ich war nicht imstande, ihr Antwort zu geben; behext vom Tanze, behext von meinem Blute, in dem ich Geburt und Tod fühlte, so nahe aneinandergerückt, als wären sie nur eines, sah ich auch Agathe auf dem Wege zu gleicher Dunkelheit, und meine Besinnung reichte gerade noch zu der Vorstellung, sie wolle sich das Kind aus dem Leib tanzen. »Nicht zu viel tanzen, Agathe«, sagte ich.

»Nein, nein«, lachte sie, »ich weiß schon.«

Dann wiederholte sie ihre Frage nach Mutter Gisson.

Ich schaute zum ersten Mal auf, und ich sah den Abend, freilich wie einer, der aus dem Fenster eines überhitzten Zimmers in die Landschaft schaut und nicht in sie gelangen kann: der Schatten des Kupprons hatte inzwischen die ganze Lichtung bedeckt, und der kühle Frieden zwischen Tag und Abend hielt seine murmelnde Zwiesprache mit Lüften und Bäumen.

»Wir wollen sie suchen«, sagte ich.

Im Rücken der Zuschauerreihe, allein auf dem Rasen, tanzte Zäzilie geschlossenen Auges und sang zu den Weisen der Ziehharmonika die Texte ihres eigenen Lebens. Von der grauen Kühle umflossen, glitt sie dahin und dorthin, manchmal hielt sie lauschend inne, wie eine Forelle, die gegen die Strömung steht, und ließ Kühle und Musik an sich abgleiten, und dann schnellte sie sich singend wieder hoch, dem Abend entgegen und seiner singenden Zwiesprache.

Da trafen wir Mutter Gisson. Sie hatte für Zäzilie einen der halbmondförmigen Lebkuchen gekauft und rief das Kind zu sich. Mir aber sagte sie: »Hast mit dem Tanzen aufgehört? Gut. Bleib' vernünftig.«

»Ja, Mutter«, sagte ich. Doch trunken des Tanzes war die Kühle der Dämmerung, und sie bog sich unter den Stößen des Rhythmus, der in sie hinaufdrang.

Zäzilie war, halb noch tanzend, gekommen, hielt den Lebkuchen in Händen und ließ Agathen die Aufschrift lesen. Sie lautete: »Mond und Stern am Himmel sind, träumt die Mutter von dem Kind.«

»Das ist wahr«, sagte Agathe, »und sehr schön.«

»Nein«, sagte Zäzilie, »es soll heißen, Träumt der Vater von dem Kind.«

»Tanz' weiter«, sagte die Großmutter, »Kinder dürfen noch tanzen.«

»Nur die Kinder?« fragte ich.

»Ja«, erwiderte Mutter Gisson, »du kümmere dich um den Miland.« Und sie nahm Agathe unter dem Arm und führte sie fort.

Miland saß vor Sabests Buschenschenke, und ich setzte mich zu ihm hin. Unsere Biergläser zwischen uns auf dem weißen rauhen Holz der frischerrichteten Bank – denn Tische gab es nicht –, die Finger am Henkel des Glases, ohne zu trinken, wir beide schweigsam, so schauten wir beide in den Abend hinaus, dessen dämmernde Luft nun hellblau und rosa wurde, so hellblau und rosa wie die immer undeutlicher werdenden Lebkuchenreihen in der Bude drüben, voll frostiger Mattheit und trotzdem seltsam erhitzt und hitzig bewegt von dem tobenden Lärm auf dem Tanzplatz. Waren auch Milands Gedanken dort drüben? oder mißbilligte er es? wollte er selber mit der bräutlich geschmückten Tochter im Tanze sich drehen? Wir schwiegen, und um uns herum gab es nichts als Gelächter, besonders, weil die Späne der ungehobelten Sitzbretter durch Hosen und Kittel stachen, so oft sich einer bewegte. Und Sabest hinter dem Schanktisch war in seinem Element: die Hemdärmel über den mageren sehnigen Fleischerarmen aufgerollt, schenkte er ein, wusch die Gläser aus, schlug mit diesen den Takt zur Musik, daß alles krachte, und wenn er aus seinem Verschlag hervorkam, fiel er über das nächstbeste Mädel her und packte die Kreischende, sie in seine Bude zu schleppen.

»Deine Frau sollte dich sehen, Sabest!« rief ihm einer zu.

»Die wäre bloß stolz.«

Angelockt von der Dunstwolke, die über dem Platze hing, waren alle Mücken und Schnaken der Gegend um uns versammelt; ihr scharfdünn tönender Chor begleitete die Musik wie eine böse fistelnde Oberstimme, gefiedelt auf einer geheimnisvollen Geige mit einer einzigen zum Reißen gespannten Saite. Und das Gestampf der Stiefel auf dem Bretterboden dröhnte unvermindert weiter, rascher im Takt noch, wie mir schien, als vordem und unter einer zunehmenden, merkwürdig maschinellen Schweigsamkeit; vereinzelt erhob sich wohl noch ein Schrei, ein einsamer Jauchzer, aber sofort erstarb er wieder, als sei er über sich selbst beschämt.

»Es ist nicht recht«, sagte schließlich der Miland neben mir. »Es geschieht ohne Freiheit.«

Verstand ich ihn richtig? meinte er, daß dieses Tanzen dem Willen des einzelnen entrückt war? stärker war als der Wille des einzelnen Menschen?

Ich fragte ihn, indes, während ich noch fragte, bemerkte ich oben beim Kalten Stein eine Gestalt im Dämmernebel. Feierlich beschwingt bewegte sie sich dort, und dann ließ sie sich auf dem Stein nieder.

»Das ist doch der Marius.«

Mit seinem scharfen Jägerblick sah Miland hin: »Ja, das ist er.«

»Was, zum Teufel, treibt er denn dort?«

»Hm.« Auch Miland wußte keine Erklärung. Aber beide waren wir über sein Auftauchen nicht verwundert, ja, es mag sogar sein, daß er uns beiden gefehlt hatte.

»Ewig wird er dort nicht sitzen bleiben«, stellte ich fest, »er wird schon herunterkommen.«

Vorderhand kam er nicht; hingegen erschienen jetzt am Waldrand noch andere Gestalten, die aber wieder in der Dunkelheit verschwanden. Nur die Silhouette des Marius rührte sich nicht auf dem Steine. Ich schaute angestrengt und lange hin, so lange, daß ich beinahe schon meinte, der Kuppron, der im Mantel seiner Nacht immer größer und schwärzer gewachsen war und immer mehr wuchs, der Kuppron selber käme nun schon herabgeschritten zum dröhnenden Tanz, bedächtiger zwar als das Toben der Menschen, dennoch auch er getrieben vom Pulsschlag des Blutes, vom langsamen Pulsschlag der Erde, Ebbe und Flut des unendlichen Feuers. Ich glaubte es nicht, allein meine Augen glaubten es, und sie verschwammen mir in Angst vor dem drohenden Heranschreiten des unermeßlichen Tänzers, so daß ich sie abwenden mußte, zurück zum menschlich Meßbaren.

Da kam der Schmied vorbei und lachte: »Jetzt lodert's, Herr Doctor, und du kannst es auch nimmer einhalten.«

Ich deutete zum Waldrand hin: »Was geht dort vor, Schmied?«

Er machte eine Bewegung in der Runde, als hätte er seinen Hammer in Händen: »Jetzt geht's überall los.«

Ja, irgend etwas ging los, irgend etwas war im Gange, etwas Gefährliches und Lockendes, und den Schmied machte es lustig, mich aber beklommen: ich mußte mir Gewißheit verschaffen, und ich stand auf, um kurzerhand zum Kalten Stein hinauf zu gehen, doch nach ein paar Schritten hielt mich eine sonderbare Scheu zurück, und ich spähte nach Wenzel aus, damit er mir Auskunft gebe; allein der Zwerg war verschwunden.

So irrte ich unschlüssig um den Tanzboden herum, auf dem Musik und Stampfen nicht einen Augenblick gerastet hatten. Es war nun völlig dunkel geworden, und es wurden die Windlichter angesteckt, einfache Azetylenlaternen, die wie Blechkannen aussahen, ein paar bei den Buden und vier auf langen Stangen um den Tanzboden herum. Der weiße Strahl ihrer Flammen pfiff mit gehässig hellem Surren in die Luft und in die singenden Mückenschwärme hinein, und die Dinge außerhalb der Lichtzone waren nun noch schwieriger zu erkennen.

Da endlich entdeckte ich wieder Mutter Gisson, und ich wunderte mich bloß, daß es mir nicht schon vorher geglückt war, denn sie stand ruhig da und beschäftigte sich mit Zäzilie.

Ich trat zu ihr hin: »Mutter«, fragte ich beinahe angstvoll, »was wird jetzt geschehen?«

»Frag' nicht«, antwortete sie, »wenn es ruft, so muß man folgen, sonst geht es über einen hinweg.«

»Wer ruft, Mutter?«

»Alles!«

»Auch dort draußen? was geschieht dort?«

Sie lugte in die Dunkelheit hinaus; dann sagte sie: »Die Geister kommen.«

»Wer? das ist ja wieder was Neues!«

»Das ist nichts Neues … sind eben schon lang' nicht da gewesen.«

Und richtig, jetzt konnte auch ich es wahrnehmen, daß vom Walde her eine lange Reihe unförmiger, unholdiger Wesen sich zum Tanzplatz herunter bewegte. Sie kamen so lautlos her, daß sie unbemerkt und überraschend in den Lichterkreis treten konnten, auch sogar da von der Menge, die lediglich mit dem Tanz beschäftigt war, noch immer nicht bemerkt: erst als ein paar Mädeln schrill aufkreischten, schwieg die Musik und erstarrt stand die Masse der Menschen, vielleicht vor Schreck erstarrt stand sie der ebenso unbeweglichen Geistergruppe Aug in Aug gegenüber.

In der Tat, die Geister waren auch erschreckend genug anzuschauen: mit Tüchern und Masken und Bärten vor den Gesichtern, mit Strohmänteln umhängt, die ihnen die Gestalt von wandelnden Negerhütten gaben, mit Mistgabeln wie Teufel bewaffnet, die Köpfe mit Geiß- und Kuhhörnern bewehrt, zwischen denen bei manchen ein Mond oder eine Sonne aus Goldpapier angebracht [war], so waren sie da aufgepflanzt und bewegten bloß leise drohend ihre Waffen.

Das dauerte ein paar Sekunden. Dann begannen die Masken, wie es sich für sie gehört, einen sehr entsetzlichen Lärm zu schlagen, sie rasselten mit Ketten und bimmelten mit Kuhglocken, sie schlugen ihre Waffen und Geräte aneinander, und unter läppischen und doch unheimlichen Sprüngen umzingelten sie den Tanzboden, auf dem die Menschen, noch immer eine schweigende Masse, noch immer unbewegt standen und furchtsam warteten. Und einer der Obergeister schrie:

»Musik-Christian, weiterspielen.«

Richtig hob die Ziehharmonika wieder mit ihrer Ländlerweise an, doch merkwürdig genug fügten sich jetzt auch zwei Geigen hinzu, zwei recht mißtönende kratzende, dennoch klagende Geigen, deren Spieler mit den Geistern gekommen sein mußten, und alsobald begann von neuem das sture Stampfen auf den Boden, während die Geister, an den Händen sich haltend, mit Springen und Hüpfen in einem großen Kreis den Tanzplatz umzogen. Einer der Burschen in Weiberkitteln mit einer Hexenmaske ritt auf einem Besen, ein anderer mit einem weißen Bart und einer Art Bischofsmütze stellte zweifelsohne so etwas wie einen Oberpriester dar, und obwohl ich wußte, daß einer unter der Maske steckte, fand ich es unwürdig, daß ein alter Mann da so mithopste.

Einer der kleinsten Teufel löste sich aus dem Kreis, hinkte auf uns zu und fuhr uns an: »Wer nicht mittanzt, kommt in die Höll' und wird gespießt.«

»Na, Wenzel«, sagte ich, denn er war nicht zu verkennen, »jetzt zeigen Sie sich wenigstens in Ihrer wahren Gestalt.«

»Dich hol' ich zuerst«, antwortete der Teufel und fuchtelte mir mit seiner Mistgabel vor dem Gesicht herum. Dann sprang er wieder in den Kreis.

Der Tanz ging weiter, und wenn man von dem Geisterreigen absah, der aber schließlich doch auch nur von Bauernburschen ausgeführt wurde, so hätte man es noch immer einen gewöhnlichen Kirchweihtanz nennen können, obwohl er nun schon seit über zwei Stunden in unverändert unermüdlicher Intensität andauerte. Dies sagte ich mir vor, sagte es mir wiederholt vor, und trotzdem: bei aller Lächerlichkeit, die der Aufforderung des Wenzels anhaftete und wahrlich nicht danach angetan war, jemanden zum Mittun anzureizen, ich mußte mich zurückhalten, mich nicht wieder in das stampfende, dampfende Gewühl zu stürzen.

Ich schaute auf Mutter Gisson. Sie stand schön und ruhig aufrecht, und ich war froh, daß auch sie keine Miene machte, nochmals mit dem Tanz zu beginnen.

»Wollen Sie nicht die Irmgard rufen, Mutter?« fragte Miland.

»Laß sie«, entgegnete die Großmutter.

Groß wurde die Nacht, und der Angstwind strich vom Kuppron herab, spielte mit den Flammenstrahlen der Azetylenlampen, kühlte die weißen Stirnen der Tanzenden, die nicht die Frische, sondern nur den Hauch der Angst verspürten: haben sie die Lust, die sie gesucht hatten, in der Angst gefunden? suchten sie sie noch? beinahe schweißlos erstarrt waren diese Gesichter, vom scharfen Gaslicht der Lampen so sehr mit schwärzesten Schatten durchsetzt und in Erhöhungen und Vertiefungen geteilt, mitternächtig, daß sie kaum mehr Menschengesichtern glichen, kaum mehr ein Unterschied vorhanden war zwischen ihnen und den Pappmasken des äußeren Kreises. Der schneidende Gasgeruch der Lampen mischte sich mit dem Bierdunst, und es versteinte sich das Toben des aus den Urgründen aufsteigenden Lebens zu etwas Über-Lebendigem, das wie das Sausen der unsichtbaren Sterne war. So tanzen die Berge im Scheine der Kometen, wenn kein Menschenauge sie erschaut. Die Ziehharmonika sang die Nacht, die Geigen fiedelten weißes Licht, und es war, als wären sie nicht von Menschenhand bewegt. Und auch Sabest, der von seinen Windlichtern flankiert in der Bude stand, glich einer Maschine; in der Hand ein leeres Bierglas trommelte er den Takt auf den Tisch. Vor uns aber tauchte der Lax auf, sein Schnurrbart lag schwarz in den mitternächtigen Falten des bleichen Fleisches, und mit weißen Zähnen bleckte er uns an: »Huh«, machte er uns, daß Zäzilie weinen mußte, »Huh«, und dann wurde er wieder vom Getümmel verschlungen.

Wie lange konnte dieses Treiben noch weitergehen? Bei aller Ausdauer, die Bauern bei Lustbarkeiten – doch war es noch eine? – aufbringen, es mußte doch ein Ende gefunden werden, es mußte eine Lösung kommen, das fühlte nicht nur ich, sondern alle, die hier standen, warteten sicherlich ebenso darauf, ja, sogar die Tanzenden mußten es wohl tun. Saß der Marius noch dort oben auf dem Stein? müßte er nicht schon längst hier sein, auf daß die Erlösung werde, die Erlösung aus einem Sein, das sich selbst übersteigert hat und zu einem unerträglichen Über-Sein erstarrt ist?! Zäzilie war ruhig geworden, sie hielt sich mit einer Hand an den Röcken der Großmutter, mit der andern tastete sie zum Arm des Vaters, daß er sie, wie gewohnt, an sich nehme: doch Miland achtete ihrer nicht, er hielt die Hände vor sich hin, als sei er bereit, eine Gabe zu empfangen, sein Blick ruhte auf den Tänzern und war doch weit über sie hinaus gerichtet, und seine Züge waren ein angstvolles Harren. Suchte er Irmgard? unsichtbar blieb sie, nur ihre Brautkrone war sichtbar, unbewegt jetzt im Mittelpunkt des Tanzbodens; die Leiber und Masken kreisten um sie.

Plötzlich tanzte eine der Azetylenlampen mit in der Runde. Schräg schwankte ihre Stange, die offenbar einer aus der Erde gerissen hatte, schwankte über den Köpfen der Teufel und Geister, und die weiße Flamme zischte einmal dahin, einmal dorthin, ein giftspritzendes Reptil.

»Aufhören!«, schrie ich und wollte zuspringen, denn wie leicht konnte einer der Strohmäntel von der Flamme erfaßt werden, aber da war ich auch schon von den Masken umringt, war an Händen und Armen gepackt worden und wurde mitgezerrt, während nun auch die anderen Lampen in Bewegung gerieten und den Wirbel mitmachten.

War ein allgemeiner Wahnsinn ausgebrochen? hatte er auch mich ergriffen? gewiß, ich konnte kaum mehr anders, ich wurde mitgezerrt, ich mußte mit, aber ich tat mehr, ich ließ mich nicht nur mitschleifen, sondern meine Beine sprangen gewissermaßen freiwillig mit, ich war in voller Tanzbewegung, die Flüche, die ich ausstoßen wollte, erstarrten mir im Munde, Gesicht und Zunge waren gelähmt, und selbst wenn ich einen bösen Puff in den Rücken versetzt erhielt – ich vermutete, daß es Wenzel war, der dies immer wieder tat –, brachte ich keinen Laut hervor. Ich sah noch, daß die Umzäunungsstricke des Tanzbodens gefallen waren, und dann merkte ich, wie unsere Kreisbewegung in eine geradlinige umschlug: einem vielfüßigen Tiere gleich, so eng aneinandergedrängt, schob sich unter den Klängen der Ziehharmonika und der Geigen die tanzende Herde vorwärts, grell beleuchtet von den schwankenden Lampen. Meine Teufel blieben an mich angeklammert; doch hätten sie mich losgelassen, ich wäre nicht mehr ausgebrochen, ich wäre weiter mitgesprungen.

Dann brach die Musik ab, und mit einem Ruck standen wir alle. Meine Hände wurden freigegeben, die kompakte Masse um mich herum lockerte sich, die Geister waren verschwunden. Und es zeigte sich, daß wir in unmittelbarer Nähe des Kalten Steins Halt gemacht hatten, ja, daß er das Ziel gewesen war, zu dem uns die Geister getrieben hatten: zwar war die Steinplatte leer, der Marius saß nicht mehr darauf, aber um ihr Geviert wurden nun die Lampenständer in den Boden gerammt, so daß sie nun allein im Hellen lag, während die Herde, die mit wartend emporgerichteten Gesichtern den Hang besetzt hielt, bloß von dem Widerschein getroffen wurde.

Grell war das Grün der Gebüsche und Bäume hinter dem Stein unter der flinken Weiße des Azetylens, leise zitterten die Blätter, finsterer war der Wald dahinter, und man hörte nichts als das Surren der Lampen und die Atemlosigkeit des Wartens.

Wenn es einen Leiter der Veranstaltung gab – vielleicht war es der Marius, vielleicht der Wenzel –, so verstand er sein Geschäft, denn die Kunstpause ward bis zur äußersten Grenze des Erträglichen gehalten, so lange, daß ich schier meinte, nun würde die Erschöpfung über uns kommen und alles, was bisher geschehen war, würde in den Alltag zurückfallen, ja, so nahe daran war es schon, doch knapp ehe solches eintrat, gab es ein Knacken im Gehölz, so daß sich aller Aufmerksamkeit dorthin richtete, und dann, freilich erst nachdem wieder einige Sekunden vergangen waren, erschienen die Masken in langer Reihe zwischen den Gebüschen und traten heraus in den Lichtkreis des Kalten Steins.

Nichtsdestoweniger geschieht nichts Absonderliches; der Rückfall in den Alltag ist zwar aufgehalten, doch das, was erfolgt, hält sich knapp oberhalb der Alltagsgrenze, denn die Unholde beginnen einfach Vierzeiler zu singen, wie sie bei jeder Kirchweih üblich sind, mochte ihr Inhalt auch diesmal von den sonstigen Texten abweichen:

»Der Pfarrer will den Lindwurm,
der schreit: so ein Graus,
willst ein' Drachen, so bleib'
bei der Köchin zu Haus.« Klatschen.

»Der Drach' hat die Jungfrau,
die Jungfrau hat den Drach'
und wenn er sie anschaut,
dann wird ihm so schwach.«

Klatschen.

Ein paar Leute fangen zu lachen an. Sofort stellen die Masken das Klatschen ein und bleiben unbeweglich stehen, bis wieder Stille eingetreten ist.

»Und die Erd' hat den Himmel
und der Himmel die Erd'
und wenn sie getrennt sind,
gibt's Feuer und Schwert.«

Klatschen. Die Burschen in der Menge klatschen mit.

»Und der Himmel ist der Vater
seine Braut tut er segnen,
aber nimmt man ihm's Weib,
so kann er nit regnen.«

Natürlich lachen wieder einige, und alsogleich unterbrechen wieder die Sänger. So wie die Lacher verstummen, geht es weiter:

»Kann der Vater nit regnen
so gibt's auf der Welt
nur Krieg und Mißernt'
und das Vieh ist verfehlt.«

»Die Riesen, die Drachen
die Leut' von der Nacht
haben's Weib ihm genommen
und eingraben im Schacht.«

Jetzt lacht keiner mehr, und nach dem ordnungsgemäßen Klatschen singen die Geister weiter:

»Die Mütter die bösen
die häßlichen Hex'
verkaufen die Jungfrau
an Schlang' und Eidechs'.«

Und nun trat die Hexe vor und setzte sich auf den Kalten Stein, wobei sie ihren Besen wie ein Zepter in ihrer Rechten, in ihrer Linken aber einen Apfel hielt, einen Reichsapfel, einen Weltenapfel, oder auch den der Eva.

»Und will die Mutter die böse
die Welt gar regieren,
da müssen die Mannsleut'
sie hinausexpedieren.«

Da konnten die Lacher freilich nicht mehr zum Schweigen gebracht werden, denn nun drangen alle guten Geister auf die Hexe ein, um sie von ihrem Thron zu reißen, während die Teufel mistgabelschwingend sich schützend um die Herrscherin scharten, die wild mit dem Besen auf die Angreifer einhieb. Und in dem allgemeinen Gejohle, das von der brauchtümlichen Kirchweihrauferei nicht weit entfernt war, hätte das Böse vielleicht sogar gesiegt, wenn nicht die Mehrheit der Zuschauer, vom guten Trieb erfüllt, den Teufeln in den Arm gefallen wäre, so daß sie entwaffnet und wehrlos zusehen mußten, wie jetzt die Hexe, niedergehalten von den kräftigsten Geistern, besenlos, apfellos vor ihrem einstigen Thron stehen mußte, auf den der Geist mit Bischofsmütze und Stab weißbärtig groß sich aufgerichtet hatte.

Und der Bischof nickte bedeutsam und sagte: »Du also bist die Hexe.«

»Der Alois ist's«, schreit ein Spaßvogel.

»Nein«, schreien andere, »die Hexe ist's, das Luder.«

»Bist du der Alois oder die Hexe?«

»Die Hex'«, antwortet zerknirscht die Hexe.

»Du hast viel verbrochen«, sagt der Bischof.

»Die Bergbraut hat sie verkauft«, ruft es in der Menge, »an den Drachen.«

»Luder!«

Darauf der Bischof: »Wo hast du die Bergbraut gelassen?«

Die Hexe in jämmerlichstem Ton: »Geraubt vom Drachen, gefressen von der Schlange, eingegraben im Berg.«

Ich überlegte, wer sich hinter diesem Bischof wohl verbergen mochte, seine Stimme war so salbungsvoll entstellt, daß sie nicht zu erkennen war, und doch hatte ich es auf einmal: es war der Vorbeter Gronne, der den Bischof mimte, also ein Oberdörfler; immerhin für einen Bischof taugte er.

Der Bischof: »Du bekennst dich also schuldig?«

»Ja«, wimmerte die Hexe.

»Weißt du überhaupt, wessen du angeklagt bist?«

»Die Jungfrau …«

Der Bischof winkte, und man überreichte ihm eine große Rolle unbeschriebenen Papiers, aus dem er die Anklage donnernd und hohl ablas:

»Anklage«, las er, »Anklage gegen die Kuppronhexe.«

Er machte eine Pause, und dann begann er: »Hexe, du hast die Welt schlecht regiert …«

»Pfui«, schrie die Menge.

»Jö, jö, jö«, jammerte die Hexe, »nimmer schlagen …«

»Schweig, Hexe … und kniee nieder, wenn ich mit dir rede.«

Die Hexe tat es, und die Anklage fand ihre Fortsetzung.

»Du hast die Welt schlecht regiert. Du hast geherrscht über das Tal und den Berg und über alle Männer, und die Männer haben sich gebeugt, waffenlos vor deinen Füßen.«

»Nieder mit der Hex«, schrie die Menge.

»Ruhe«, gebot der kleine Teufel mit der Stimme des Wenzels.

»Aber du hast das Tal arm und den Berg unfruchtbar gemacht, und du hast ein Bündnis mit den Riesen und Drachen und den Teufeln der Finsternis geschlossen.«

»Jö, jö, jö …«; alle umherstehenden Teufel begannen zu heulen, und die Hexe stimmte ein.

»Die Jungfrau hast du dem Drachen als Tribut ausbezahlt, und du hast es zugelassen, daß die Riesen den Himmel von der Erde weggehoben haben, damit die Erde verdorre. Falschen Regen hast du regnen lassen, Drachenregen, aus dem das giftige Kraut sprießt; es ist uns der Himmel immer höher entstiegen, immer tiefer die Erde, sie beide, wir sehen sie kaum mehr. Wehe über dir!«

»Wehe, wehe«, klagte auch die Menge.

»Der Mensch ist nur mehr wie eine Insel im Meere der Finsternis, das Licht, das du ihm einstens gebracht hast, das hast du ihm wieder weggenommen, das Erschaffene sinkt wieder zurück ins Unerschaffene, die Pflanzen wachsen wieder in die Kälte der Ozeane zurück, ach, die Tiere verkümmern zum Schlamm des Gewesenen, und das Meer ist eine Burg der Finsternis.«

»Oh, oh …«

Wer klagte? klagten die Masken? die Geister? die Teufel? der Wald? klagte der Berg?

»Mutter Gisson«, flüsterte ich, »Mutter …« Aber sie hörte mich nicht, sie war nicht an meiner Seite, und ich sah sie nicht.

»Wir, die wir am Rande stehen, hinlauschend ins Nichts, das zu unserer Seele Füßen sich auftut, lauschend in diesen schreckhaften Abgrund, in dem der Lindwurm ruht, oh, wir Verlassenen, zweifach und dreifach Verlassenen, denn wir vertrauten der Mutter, und die Mutter hat uns verlassen. Nimmer kann sie uns führen.«

»Mutter«, wimmerten nun viele, »Mutter.«

»Erschlagt die Hex', erschlagt sie!«, respondierten andere, denen das Spiel nicht kräftig genug vorwärts ging.

»Oh Hexe, Tochter der großen Mutter, aufgestiegen aus ihr, aufgestiegen von ihr, ihr Reich hier zu begründen, höre das Murren der Verlassenen. Doch wir vermögen nichts gegen dich, wir dürfen dir nichts anhaben, denn keiner vermag gegen die Mutter sich zu erheben. Du hast uns verlassen und den Unerschaffenen, den unerschaffenen Dämonen überlassen. Ziehe hin, Hexe, ziehe hin, Mutter, Tochter der großen Mutter, wir haben dir gedient, wir dienen dir nicht mehr.«

Es entstand eine große Stille. Oben in der Kuppronwand löste sich ein Stein, er schlug einige Male auf.

Langsam hob sich die Hexe aus ihrer knieenden Stellung, sie nahm ihren Besen, sie zog das Tuch über den Kopf wie ein Bettelweib und schlich davon. Die Gruppe der Teufel folgte ihr, die Mistgabeln gesenkt, ein Häuflein Elender und Vertriebener.

War das Spiel damit zu Ende? ich hoffte es, aber noch mehr fürchtete ich es. Wo blieb die Lösung? wo die Erlösung?

Auch das Volk war enttäuscht: »Die Hex' soll büßen!«, schrieen sie und schickten sich an, der flüchtenden Teufelsgruppe zum Waldrand nachzufolgen. »Erschlagt das Luder!«

Und da hörte ich auch die Stimme des Lax: »Vorwärts, Burschen, erschlagt sie!«

»Die Sühne! die Sühne …«

In eben diesem Augenblick, als gehörte dies so zum Spiele, stand die Bergbraut plötzlich neben dem Kalten Stein, in ihrem vollen prächtigen Staat, so daß sich aller Augen auf sie richteten. Doch beinahe gleichzeitig – es waren sicherlich bloß wenige Sekunden vergangen – war der Marius von irgendwoher aufgetaucht, war auf den Stein gesprungen und hatte den Priestergreis beinahe unsanft von dort weggestoßen. Mit gespreizten Beinen stand er nun da, im weißen Karbidlicht sah man, daß er wieder einmal unrasiert ist. Er sah auf Irmgard hinunter, und hold lächelte [sie] in seine Augen. Es war nicht anders wie an jenem Abend auf der Tenne.

Das war alles so überraschend, daß Lärm und Tumult wie mit einem Schwamm weggewischt ist. Es ist vollkommen ruhig geworden, aber es ist nicht die starre Ruhe wie vordem; es ist wie nach einem Sommerregen.

»Die Sühne?« fragt jetzt der Marius, seine Stimme ist nicht sehr laut, aber sie trägt über den ganzen Platz, »die Sühne? ein schuldiges Opfer ist keine Sühne, unschuldig muß das Opfer sein.«

Sie hatten die Augen ineinander geheftet, und es entstand wieder eine Pause des Stillschweigens. Aber es erhob sich aus dem Kreise der Geister eine Stimme, eine junge Tenorstimme, nicht mit einem Vierzeiler wie vordem, sondern es war eher ein altes Bergmannslied, das da in die Nacht emporstieg, eines, das ich noch nie gehört hatte, mit einer merkwürdigen Verlängerung der tontragenden Vokale, altertümlich, unverständlich, und doch wie eine primitive Totenklage und Beschwörung:

»Sonne stürzt in den Berg lio
oh Mägdelein
es wartet der silberne Zwerg lio
in der goldenen Schlangennacht
oh wie der silberne König lacht.«

Daraufhin fiel der ganze Geisterchor in einem synkopierten Rhythmus mit dem Refrain ein:

»Schicke den Helden, den Sohn nicht in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

So ist es auf der See, wenn nächtens die Matrosen auf dem Deck singen, ehe der Regen herabrieselt von den Tauen und Rahen, und die Segel vom Kommenden träumend schwer im sanften Winde hängen.

»Der Held steigt in den Berg lio
oh Mägdelein
zu tun das große Werk lio
und er hat gezückt den steinernen Speer
auf daß der König die Jungfrau gibt her.«

»Nicht schicke den Helden, den Sohn in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

Bloß eine Geige begleitete den Gesang, zupfend wie eine Gitarre, aber jetzt gesellt die zweite sich dazu, das Tempo beschleunigend zur Sternenserenade, auf daß die Maste wieder ihr Laub trügen und die See beschatteten.

»Die Jungfrau kehrte zurück lio
doch die Erd' war ohne Glück lio
es standen alle Bäche still
und Frucht und Tiere starben viel.«

»Nicht schicke den Helden den Sohn in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

»Es wird das Erz vom Zwerg gebracht lio
oh Mägdelein
güldener Berg, güldene Pracht lio
mit Gold vermauert des Saales Tor
daß nimmer der Held mehr kam hervor.«

»Nicht schicke den Helden, den Sohn in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

»Den Königsreif nahm die Jungfrau lio
oh Mägdelein
den Mantel von Sternen so blau lio
doch sie fror gar sehr im Königskleid
kalt war ihr Reich da zugeschneit.«

»Nicht schicke den Helden, den Sohn in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

»In die Hütten kam matt der Bär lio
oh Mägdelein
der Wolf litt den Hunger gar sehr lio
und sie mußten gelabet werden
daß sie blieben auf der Erden.«

Leiser, langsamer, klagender war das Lied nun wieder geworden, leiser noch fuhr der Nachtkahn dahin; eine der Karbidlampen beim Stein war erloschen, der Wind hatte Trauer angelegt, die Segel waren Kranzschleifen.

»Da sagt die Königin der Welt lio
oh Mägdelein
töt' mich, wenn es dir gefällt lio
daß erlöset sei der Held, der Sohn
und sitze mit meiner auf dem Thron.«

»Nicht schicke den Helden, den Sohn in den Berg
oh Mägdelein
es wird ihn töten der silberne Zwerg.«

»Ins Herz traf sie der steinerne Speer lio
oh Mägdelein
da starb auch der Zwerg des Todes schwer lio
und der Held aufstieg den goldenen Pfad
und brachte der Sonne das feurige Rad.«

Alle Geister hatten die letzten Strophen leise mitgesungen, eine zweite Lampe war erloschen, dunkler waren die Gesichter der wartenden Menge geworden, die Schatten flatterten in den Lüften und mit ihnen der Geruch des Waldes, und unbewegt standen noch Marius und Irmgard.

»Bist du zum Opfer bereit?« fragte er sie nun.

»Ja, das bin ich«, antwortete sie darauf.

»Dein Brautbett ist der Stein«, sagte er, »und in deinem Blut wird der Regen des Vaters wieder herabfließen und [die] Welt versöhnen, daß sie wieder fruchtbar werde.«

Irmgard nickte bloß, und Marius, von seinem Standort wieder herabkletternd, winkte dem Priestergreis, der sich abseits gehalten hatte, damit das Spiel seinen Fortgang nehme.

Und der Geistergreis trat vor und fragte nun seinerseits: »Bist du zum Opfer bereit, Bergbraut?«

»Ja«, sagte die Bergbraut.

Da hob der Wollbärtige die Hände zum Segen und deklamierte mit seiner hohlen Vorbeterstimme:

»Nun saget den Segen der sehrenden Sonne.
Nimmermehr herrschet der Schoß schauriger Nacht
unterer Unholde heiliger Hüter.
Fortan befiehlt des Vaters fruchtbares Feuer
der wärmenden Woge entwachsen,
klirrend das Leuchten des rollenden Rades
der Löwe des Lebens,
waltend den Willen des weichenden Weibes.
Ehern herrschet der Herr.«

Dann wandte er sich kuppronwärts, neigte sich dreimal, daß sein Bart den Boden berührte, richtete sich auf, warf die Arme in die Höhe und rief:

»Vater, höre!«

Enger scharten sich die Geister um den Opfertisch, und auch sie machten vielerlei Verbeugungen gegen den Kuppron hin, dessen dunkle Massen durch die Nacht hindurchwuchteten, ohne daß sie sichtbar waren, ohne daß man des Feuers, das in ihrem Schoße brennt, gewahr wurde: man fühlte es, und die Masken neigten sich davor.

Marius jedoch, seltsam nun dem Spiele einbezogen, sagte:

»Die erntetragende Mutter sandte die Tochter, daß sie herrsche und zum Opfer sich bringe, der regenspendende Vater wird den Sohn senden, daß er das Opfer vollziehe und zum Vater ihn wieder mache. Rufe den Vater, bräutliche Tochter.«

Die Bergbraut erwiderte: »Du bist der Vater.«

»Noch nicht.«

»Wann wirst du es sein?«

»Bis dein Blut zur Erde zurückgeflossen sein wird, bis in deinem Opfer die Mutter dem Vater sich wieder gatten wird, die Erde dem Himmel, die Geschwister jeglichen Tages.«

»Du aber bist der Himmel.«

Marius, mit einer Hand den Stein berührend, die andere wie zum Schwur erhoben, sprach.

»Löwe der Erde, Blitz der Höhe,
als Vater dich tötend,
kehr ich als Himmel zu dir,
Erde gewordene,
ein Gatte zurück.«

»Ja«, hauchte das Mädchen, und es war, als sproßten Nachtblumen aus der Dunkelheit.

Und dann sagte sie: »Tue es.«

»Rufe den Vater.«

Da rief Irmgard: »Vater … Vater … Vater!« Und beim dritten Ruf stand Miland neben ihr.

Er war sehr bleich und hatte die Augen geschlossen.

Und der Priestergreis trat wieder vor und fragte: »Bist du der Himmel?«

Geschlossenen Auges sagte Miland: »Ich weiß es nicht.«

»Willst du der Himmel sein?«

»Dann tue, was dazu notwendig ist.«

Und er hob seinen Krummstab und betete:

»Vollziehe Vater das freudige Opfer.
Freie die Jungfrau leuchtender Löwe
Flöße ihr Blut der Mutter zurück.«

Marius aber rief:

»Braut, bist du bereit?!«

»Ja«, sagte Irmgard, von deren Antlitz das Lächeln nicht gewichen war, und niederknieend legte sie Haupt und Arme auf den Opferstein.

»Das Opfer, das Opfer«, schrie die Menge. Es mag sein, daß auch ich mitgeschrieen habe.

Wie toll begannen jetzt die Geister wieder zu tanzen, schreiend warfen sie die Arme empor, bearbeiteten ihre Lärminstrumente, und das ganze Volk tat mit, vielleicht auch ich, ich weiß es nicht mehr. Doch mit einem Male wird es still, und ein ehrfürchtiges Raunen geht durch die Menge: »Das Messer …«

Marius hält ein merkwürdiges Instrument hoch empor, daß es alle sehen können, ein kurzes gespaltenes Holzstück, in dessen Gabel ein steinernes Ding befestigt ist, und ich erkannte es als den Feuersteindolch, den er am Anfang zu Mutter Gisson gebracht hatte. Mit diesem ungefügten Instrument sollte ein Herz durchbohrt werden? sollte es möglich sein, eine Gurgel zu durchschneiden? Eine närrische Enttäuschung erfüllte mich ob dieses Stäbchens mit dem Stein daran, das das Ziel und der Höhepunkt dieses ganzen Geschehens sein sollte, und ich begriff, daß da plötzlich einer schrie: »Mit dem geht es doch nicht … das ist besser.«

Es war Sabest, der mit seinen Ellbogen nun alles von sich stößt und sich einen Weg durch die dichtgedrängte Masse bahnt, um zum Opfertisch zu gelangen. Schon während des Laufens löst er sein langes Fleischermesser vom Gürtel, und vorne angelangt streckt er es hin und schreit nochmals: »Das ist besser … nimm.«

»Nein«, sagt der Marius.

»Doch«, beharrt Sabest und prüft sein Messer am Handballen wie einer, der sich rasieren will, »sieh her, wie scharf!«

»Es ist nicht heilig«, lehnt Marius ab.

»Was? nicht heilig?« Sabest schüttelt drohend seine Faust, die das Messer hält, »mein Messer ist so gut heilig wie deines, du Scheißkerl … was ins heiße Blut getaucht war, ist heilig … das wäre ja noch schöner!«

Marius macht bloß eine würdig abweisende Geste und drückt dem unbeweglich dastehenden Miland das Steinrequisit in die Hand, während Sabest, immer noch mit seinem Stahl in die Luft stoßend, wie einer der traumhaft nach etwas greift und es nicht erreichen kann, von den Geistern zurückgerissen wird.

»Tu's, tu's«, ruft die wieder unruhig gewordene Menge.

»Tu's, tu's«, lacht die brüllende Stimme des Lax.

Irmgard, mit ausgebreiteten Armen über den Stein geworfen, schaut verzückten Auges auf zu einem Himmel, der unsichtbar war vor dem weißen Licht des Azetylens.

»Tu's, tu's!«

Von weit her, von der Straße unten tutet ein Auto, und in mir antwortet es: »Tu's!«, in mir, der ich dastand in meinem auf Nähmaschinen genähten Anzug, in meinem auf mechanischen Webstühlen gewebten Stoff, geprägtes Metallgeld und ein Messer mit der Aufschrift ›Solingen‹ im Hosensack, ja, »Tu's!« schrie es in meiner Seele, während die Eisenbahnen und Autos in der Welt herumfahren und der Äther voller Radiowellen ist, mein Kopf aber ein Sammelsurium ärztlicher Wissenschaft aus vielen Jahrhunderten beherbergt, in mir schrie es »Tu's!«, aber doch dämmerte es in mir, daß nun der Widder im Gebüsch auftauchen müsse, das Opfer zu ersetzen. War nicht auch dem Abraham der Widder erschienen, da von ferne eine Ziehbrunnenkette klirrte und ein Schrei eines Lastkamels auf der Handelsstraße ertönte? Er, der Ur-Vater, der Erz-Vater, erkannte er nicht erst den Vater, entratend blutiger und blutender Mittlerschaft, des Heidnischen enthoben, da das Menschliche um ihn lebendig geworden war?

»Tu's!« brüllte das Leben, brüllte das Heidnische.

Doch nicht der Widder, den ich nun beinahe erwartete, tauchte im Gesträuche auf, wohl aber erklang Mutter Gissons Stimme: »Hütet euch, hüte dich Marius!«

Gehörte auch sie zum Spiel? war ihr wildes Tanzen auch für sie die Einleitung gewesen, am Spiele teilzuhaben?

Wenzel hüpfte zu ihr, die in einiger Entfernung von der Szene geblieben war, hin und meckerte: »Stören Sie nicht die heilige Handlung.« Er wurde mit einer Ohrfeige abgefertigt, an die er sein Leben lang denken wird. Aber die Leute lachten nicht.

Und Mutter Gisson wiederholte: »Hütet euch, hüte dich Marius, noch ist überall die Mutter, und allnächtlich empfängt sie den Himmel, empfängt sie sein Wissen. Noch lauscht die Erde, und sie will das Blut nicht, mit dem ihr sie tränken wollt.«

Es war so still geworden, daß man den Quell oben murmeln hörte.

Endlich sprach der Marius: »Du bist nicht mehr die Erde, Mutter, du warst sie einstens.«

Und einer rief: »Du hast die Drachen und die Schlangen in dich eingelassen.«

Darauf die Mutter: »Weil ihr euch erhoben habt, ist eure Angst zur Schlange geworden.«

Dann wandte sie sich an Miland: »Wem gehorchst du, da du dein Kind töten willst? gehorchst du deiner Angst?«

»Ja«, erwiderte Miland, »übergroß ist unsere Angst geworden, und die Welt ruft den Erlöser.«

Marius aber, ohne sie anzublicken, zum Volk gewendet, zum Tal gewendet, zur erntebringenden Ernte gewendet, sprach: »Erde, du hast es zugelassen, daß Maschinen über deinen Boden dahingehen, daß deine Frucht von Agenten verschachert wird und daß die Tennen schweigen. Allzu viel Fremde hast [du] genährt und behütet. Erst das Blut deines Kindes wird dich, oh Erde, wieder reinwaschen.«

»Durch keinerlei Blut werde ich erlöset«, antwortete die Erde, »der Regen des Vaters senkt sich herab, immer wieder, reinigend und kühlend, er berieselt meine Berge. Oh, höret, der Vater vergießt kein Blut, sein Wissen ist nicht im Blut, sein Wissen ist die Regenwolke seines Atems. Doch im Blut ist eure Angst.«

Inmitten der Menge, über deren Köpfen der dunkle Dunst ihrer Angst hing, begann ein Kind zu weinen.

Lax schrie: »Schweig, Alte, wir haben keine Angst.«

Da lachte der Marius auf: »Was ist die Regenwolke ohne den Blitz! Ich bin der Blitz, entsendet zu töten und die Regenwolke zu lösen.«

Wahrlich, das Wetterleuchten des Firmaments antwortete ihm, und Sabest, der sich noch immer in den Händen der Geister befand, schrie: »Laßt mich … ich verstehe mich drauf … ich, ich mach's!«

»Vorwärts, Sabest«, feuerte Lax ihn an.

Doch die Menge schwieg, bloß das Kind weinte, und als neuerlich ein Blitz aufzuckte, da rief es mit seiner dünnen Stimme, die wie ein zitternder Lichtstrahl durch das Schweigen des ganzen Platzes ging, sichtbarer als der Strahl des Blitzes, da rief es: »Mutter.«

»Fürchte dich nicht«, antwortete ihm Mutter Gisson.

»Fürchtet euch«, schrie Marius.

Irmgard jedoch, die immer noch vor dem Stein kniete, sprach, und es war, als bäte sie um Verzeihung: »Süß ist meine Furcht, Mutter, süß wie die Einsamkeit meines Traumes, der aus dem Abgrund heraufweht, süß wie der Spiegel des Abgrundes, der in mir ist und mir, der Hinabblickenden, der Spiegelnden, das Bild des Geliebten zeigt. Oh, süß ist es, in dem spiegelnden Abgrund zu schweben, auffliegend zu mir, und doch dem Vater entgegen.«

Miland war bisher stumm dagestanden, vom Traum umfangen, und seine Finger spielten an der Spitze des Steinmessers, als wollte auch er seine Schärfe prüfen. Nun sagte er: »Was aus uns geflossen, es fließe uns zurück, Kind und Kindeskind, schmaler Bach des Lebens, eingebettet in den Ufern des Todes, Ahn um Ahn, Enkel um Enkel, erst wenn die Mündung wieder zum Quell wird, schwindet die Angst.«

»Mutter«, riefen einige Männer in der Menge, »Mutter.«

Nun brannte nur mehr eine der Lampen beim Opfertisch.

Sabest, ringend noch mit den Geistern, die ihn hielten und denen er sich zu entwinden trachtete, keuchte: »Quell und Mündung … ja, Quell und Mündung des Blutes ist die Erde … kommt zu mir, ihr alle, wenn ich schlachte, sehet den Boden, wenn ich schlachte, sehet meine Hände, von denen das Blut träufelt …«

»Oh, Mutter, Mutter«, klagte es und unterbrach Sabest.

Keuchend verstummte Sabest. Ein paar Leute seufzten. Das weinende Kind war nicht mehr hörbar. Dagegen schluchzte eine Frau, ein rissiges mageres Schluchzen voll banger Ungeduld und zitternden Wartens. Unter meinen Schuhsohlen spürte ich Kieselsteine, die sich leicht und tief in die weiche Erde drücken ließen. Gewöhnliche Waldwiesenerde, der es durchaus nicht nach Blut gelüstete. Und doch hatte ich nicht einmal gemerkt, daß es offenbar schon längst zu regnen begonnen hatte, so sehr war ich mit allen Sinnen dem Marius zugekehrt gewesen. Dunkel und lau rieselte es aus dunkler lauer Nacht; ich griff nach meinen Schultern; sie waren bereits ganz naß.

Nun hörte man wieder Mutter Gissons Stimme und beinahe jubelte sie: »Hört ihr den Regen? den guten Regen?«

Das Wetterleuchten hatte aufgehört. Auf den Strohmänteln der Masken vorne beim Licht glänzten die Tropfen.

»Lauschet dem Regen«, fuhr Mutter Gisson fort, »atmet mit ihm das Wissen, das von der Erde aufsteigt, das sternengesättigte Wissen, öffnet ihm euer Herz und euer Antlitz.«

»Mutter, verlaß' uns nicht!« Das war Agathe gewesen, die so flehte, ich hatte sie am Klang erkannt.

»Mutter, verlaß' uns nicht!« wiederholte es sich da und dort.

Eine kaum merkliche und doch unaufhaltsame Bewegung war in die Masse gekommen, sie drängte vor, zu Mutter Gisson hin, als wollte sie sich ängstlich um sie scharen, als wäre nur noch eine letzte Scheu zu überwinden, um dies zu tun. Es war eine arge Hilflosigkeit darin, und doch schon Auflehnung, Auflehnung gegen den Marius, denn schon wurden Rufe laut: »Schick' ihn fort, Mutter … schick' ihn fort!«

»Nein«, hörte man den Lax, »der bleibt!«

»Aufspielen! Musik!« Wenzels Kommandoruf überbrüllte alles andere.

Und tatsächlich begann die Harmonika mit einem jämmerlichen Ländler. Der Spieler saß auf einem niedern Baumast hinter dem »Kalten Stein«, dreieckig abgebogen, gingen seine Arme hin und her, weiß leuchtete die Klaviatur des Instruments im Schein der letzten noch brennenden Lampe, und daneben, am Platze hüpfend, schlug der Wenzel den Takt. Und das Tanzen der Masken, das auf des Wenzels Geheiß nun wieder anhob, schlurfte jämmerlich über den Grasboden dahin. Aber der schattenhafte Rhythmus hatte auch die Menge in raschere Bewegung gebracht, ruckweise schob sie sich vorwärts, vielleicht zu Mutter Gisson hin, Schutz bei ihr zu suchen, vielleicht zum Marius, ihn zu vertreiben, und ich, fast ohne es zu wollen, dennoch es wollend und mit den Ellbogen nachhelfend, wurde vorgetragen bis zu der tanzenden Geisterkette, die der nachdrängenden Masse nicht standhielt, sondern sich in ihr verteilte und auflöste, wie eine schlurfende wetzende Wolke in einem größern Wolkenhauf. Dies alles war in wenigen Minuten geschehen, und da verlöschte auch die letzte Lampe.

»Fürchtet euch«, schrie der Marius in die Dunkelheit hinein. Es mag sein, daß er es war, der die Lampe verlöscht hatte.

Das Lachen des Lax antwortete ihm: »Die Weiber sollen sich jetzt fürchten.«

Die Masse hatte mit dem Eintritt der Finsternis unwillkürlich Halt gemacht, auch die Geister hatten ihr Tanzen eingestellt. Aber die Harmonika spielte weiter, und man hörte, wie der Wenzel dazu sprang und den Takt schlug.

Hätte ich an meine Taschenlampe gedacht, hätte ich sie aufleuchten lassen, die Dinge hätten wahrscheinlicherweise einen andern Verlauf genommen, allein, ich wußte in jenen Augenblicken nichts von einer Taschenlampe, durfte davon nichts wissen, wollte wohl auch nichts davon wissen, lauschend nur, hinhorchend nach dem Schrei, der noch nicht da war und doch schon nachzitterte wie ein Echo, das dem Ton voraneilt: ich atmete nicht, nur wenige von uns dürften da geatmet haben; man hörte bloß das Keuchen des Sabest, der sich offenbar von seinen Wächtern losgerungen hatte und sich bis in die Nähe des Kalten Steins durchgekämpft haben mußte, denn nun klang es von dort in heiserer Rauhheit: »Jetzt … jetzt tu ich's!«, gleich darauf ein beinahe seliges »Ach« aus Irmgards Mund, dann Schweigen und nur noch ein eiliges Knacken im Gehölz, wie von einem Tier, das im Galopp durch den Wald bricht.

Der Musikant spielte weiter seinen Ländler, und der Wenzel schlug den Takt.

Ob es Sekunden, ob es Minuten waren, die noch in vollkommenem Schweigen und in Finsternis verstrichen, hätte ich nicht zu sagen vermocht, vermag ich nicht zu sagen, langsam nur kehrte mein Wissen zurück, wissend, daß die Starre zuerst von Mutter Gisson unterbrochen wurde, deren Stimme, von tiefer Trauer umflort, aus der Nacht, nächtlicher noch als die Nacht, in die Dunkelheit hinein tönte, dunkler noch als die Dunkelheit:

»Nun ist es doch geschehen.«

Da schrie ich; und ich schrie: »Aufhören … Licht!«

Es gab noch einen langgezogenen geräuschigen Harmonikaton, und dann war es aus, ich aber, der ich die Taschenlampe schon in der Hand hielt, suchte sie noch immer, ja, verwundert hielt ich sie in meiner Hand, als meine Finger sie schon automatisch eingeschaltet hatten und ihr Lichtstrahl irrend auf die Gesichter der unbeweglich dastehenden Menschenleiber fiel, auf Gestalten, die manchmal geblendet die Augen schlossen und trotzdem des Lichtes nicht gewahr wurden. Schwerfällig wichen sie aus, schwerfällig stieß ich an sie an, da ich, ohne mein Zutun und tappend, mir die Bahn zum Opfertisch hin freimachte, der mir zwar noch verdeckt war, über den aber, höher als alle anderen, die Gestalt des Marius ragte, jetzt im vollen Lichtkegel der Lampe, leicht und lässig aufgerichtet, unrasiert und mit einem starren Lächeln um die Lippen. »Marius«, rief ich, und er rührte sich nicht. Doch als mein Licht auf den Miland fiel, der in ebenso unbewegter Pose, das Steinutensil noch in der Hand, unverwandt auf den Marius blickte, da erst wußte ich, daß zwischen den beiden eine Tote lag.

Ja, sie lag da, und im scharf abgezirkelten Kreise des Lichtkegels, in sich gekehrt und verknospet, dennoch aufgeblättert, weit ausgebreitet die Arme und den Kopf auf den Stein gesenkt. Satt leuchteten die Farben der Seide ihres Kleides in dem darauffallenden Licht, blond das Haar im Nacken unter der Brautkrone, und einen Herzschlag lang hielt ich inne und war noch nicht der Arzt, der ich nun wieder sein mußte, die Geschäfte des Lebens, nicht die des Todes zu besorgen: einen Herzschlag lang war ich mit Irmgard in einem Jenseits, in dem das Opfer sinnvoll schien, ein Ernteopfer und eine Krone, um derentwillen getanzt wird, und einen Herzschlag lang an diesem Jenseits teilhabend, in dem Irmgard sich nun befand und das ihr gehörte, war ich ohne Haß gegen den Marius, einen Herzschlag einer verrückten Erlösung teilhaftig, die nun über die Welt gekommen sein sollte. Einen Herzschlag lang. Aber da trat Mutter Gisson an den Stein heran, kniete nieder, nahm eine der ausgebreiteten Hände der Enkelin in ihre Hand, und unter der aufsteigenden Trauer sagte ich zum Marius hinauf: »Machen Sie Licht.«

Miland ließ das Steinmesser fallen.

In scheuer Regungslosigkeit, als dürften sie einen unberührbaren Kreis nicht betreten, standen Menschen und Geister herum und trauten sich nicht näher.

»Licht«, schrie ich, »Himmelherrgott, macht doch Licht!«

»Sie ist ja tot«, sagte Marius liebenswürdig, indem er leicht und beschwingt vortrat und mit einer beinahe eleganten Geste die Hand auf den entseelten Körper legte.

»Ja, tot«, sagte Mutter Gisson neben mir, »greif sie nicht an, Marius, du darfst es nicht.«

Ich hatte die Taschenlampe auf den Stein gestellt und riß Irmgards Seidenkleid auf, blutig war das Hemd, das ich abstreifte, es entsickerte der Wunde unterhalb des linken Schulterblattes: Sabest hätte nicht besser treffen können. Warm noch floß es mir über die Hände, tropfte auf die Erde in gleichmäßigen unaufhaltbaren Tropfen. Ärztlich war nichts mehr zu machen.

»Die Erde trinkt es«, sagte der Marius über mir.

Auf einmal kommt der Wenzel daher, in jeder Hand ein Bierglas mit Wasser: »Sie werden ja Wasser brauchen, Herr Doctor … wozu haben wir denn eine Quelle bei der Hand …«

Närrisch deklamierte der Marius: »Die Erde trinkt das Blut, und rein sind wieder ihre Quellen … Kraft und Gerechtigkeit entfließen ihr wieder …«

Schweigend nahm ich das Wasser, wusch die Wunde, doch das Blut rann weiter.

»Rasch stirbt so ein Mensch«, plauderte der Wenzel, mir zuschauend, und spielte mit der Quaste des Kuhschwanzes, den er sich als Teufel hinten angebunden hatte, »ich werde Ihnen Licht machen, Herr Doctor.« Er nahm eine der Lampenstangen, und ich hörte, wie er mit dem Karbid in der Büchse rasselte.

Doch nun sagte Miland langsam und wie in einem Traume: »Marius, habe ich sie getötet?«

»Nein«, sagte ich, »der Sabest hat es getan.«

Marius aber sprach: »Du hast das Opfer vollzogen, und der Glaube wird aus der Reinheit entspringen.«

Meine Taschenlampe auf dem Stein wurde gelber, die Batterie reichte nicht aus, und es wurde dunkler um uns.

»Marius«, fragte Miland, »sind die Menschen um uns?«

»Ja«, sagte Marius.

»Haben sie nun teil an unserer Gemeinsamkeit?«

»Ja«, sagte der Marius, »sie sind in ihr neues Reich eingetreten, nun wissen sie um den Tod.«

War es nicht, als ob Mutter Gisson in der Dunkelheit lächelte? sie, die allein hier um den Tod wußte? Was konnten Worte wie Glaube, Reinheit, Gerechtigkeit für sie bedeuten, da ihr Glaube stets das konkrete und starke Leben gewesen war in seiner Unermeßlichkeit, anfangloses endloses Leben, das grausam ist, dennoch nicht grausam um eines leeren Wortes willen, und ihr Wissen um den Tod ist das Wissen um das Leben, um das sichtbare, das fühlbare Sein, nicht aber um unvorstellbare Allgemeinheiten, mit denen der Un-Mann seinen männlichen Glauben predigt und verheißt. Lächelte sie nicht in ihrer Trauer? Und sie sagte: »Abgeschieden ist sie von uns, jenseits ihres Blutes, sie schreitet durch die Felsen hindurch, und die Stämme des Waldes sind ihr wie flatterndes Haar.«

Indes Marius wiederholte mit der Hartnäckigkeit des zum Narren gewordenen Mannes: »Das höchste Wissen ist das Wissen um den Tod. Von ihm kommt die Kraft.«

Kleiner wurde das Licht in meiner Lampe. Bald wird es nur mehr ein gelber Punkt sein, allein ich benötigte kein Licht mehr, mein Geschäft hier war beendet. Die Ernte war dem Närrischen zugefallen, einem Narren waren wir nachgetanzt, wir hatten ihn umtanzt, getrieben von der tiefsten Dunkelheit unseres Lebens, wir, das vielköpfige Tier, das mutterlose, von dem ich ein Teil war, von dem ich ein Teil bin, von dem wir alle, die wir leben und tanzen, Teile sind, Mann oder Frau, Führer oder Geführte, Weise oder Narren, Teile des Nachttieres.

Nun kam Wenzel mit dem frischen Karbid, büchsenschüttelnd und fröhlich damit klappernd, um seine Anwesenheit anzumelden. Und als er das Wasser nachgegossen hatte und die erste Laterne wieder zischend sich in die Nacht entzündete, löste sich endlich auch die Erstarrung des Menschenhaufens um uns. Die Leute begannen zu reden, sie umdrängten und umschlichen die Leiche und rannten sinnlos hin und her. Ein paar der Geister warfen ihre Masken ab, andere vergaßen einfach, daß sie noch in ihren Vermummungen steckten, und aus den falschen Bärten, die ihnen wirr und halbabgerissen um die Wangen hingen, kam wirres Gefrage hervor. Aber unter denen, die als erste zum Opfertisch gelangten, war auch der Lax. Er betrachtete eine Zeitlang die Tote, um die ich, ihre Kleider in Ordnung zu bringen, noch immer bemüht war, in sein Gesicht war der Ernst des Fleisches eingekehrt, trübsinnig stand er da, schwerbeinig und gealtert, doch da er außerdem auf Formen hielt, streckte er erst Mutter Gisson die schwarzbehaarte Pranke hin – »Mein Beileid«, sagte er dazu, allerdings ohne Beachtung zu finden –, und tat dann das nämliche bei Miland, der ihm willenlos die Hand zum Drucke überließ.

Hierauf wandte er sich an mich: »Hm, Herr Doctor, eigentlich ist das ein Mord … oder nicht?« Er betrachtete nochmals eindringlich die Leiche.

»Sinnesverwirrung im Augenblick der Tat ist ein Strafausschließungsgrund«, ließ der Wenzel sich vernehmen, der die zweite Lampe neben dem Stein aufgestellt hatte.

Ja, Sabest, der Mörder, ich hatte ihn vergessen, denn für mich war ja Marius der Täter, nicht der in die Berge Entflohene, und ich sagte: »Sabest? … ja.«

Doch sinnlos fuhr ich dann den Marius an: »Marius, wo ist der Sabest?!«

Er schloß die Augen, sein Kopf sank auf die Brust, und nach einer kleinen Pause sagte er: »Tot.«

»Ach, was«, sagte der Lax abweisend, denn er wollte das nicht hören, »die Burschen sollen ihn suchen.«

»Es ist überflüssig«, sagte der Marius.

Lax dachte nach: »Und die Behörde müssen wir verständigen … so ein Teufelskerl, der Sabest!«

»Das tue ich, mit Vergnügen«, bot sich der Wenzel diensteifrig an, riß sich den Kuhschwanz vom Hintern und war gleich darauf verschwunden.

Er war wohl noch aus einem andern Grund davongelaufen: Mutter Gisson hatte sich erhoben, sie machte einen Schritt nach vorwärts, und ihre Düsterkeit war furchtbar. Die Leute starrten sie an und wichen langsam vor ihrem Blick zurück, sogar der Marius konnte dem Blick, der ihn getroffen hatte, konnte dieser Schwere nicht standhalten: er machte sich an den beiden Lampen zu schaffen, und dann ging er, als hätte er auch dort nach dem Rechten zu sehen, zum Waldrand hin, wo er auf dem Baumast, auf dem der Harmonikaspieler musiziert hatte, Platz nahm; er schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf und blieb in der Haltung eines Sinnenden.

»Laßt sie allein und deckt sie zu«, sagte Mutter Gisson in befehlendem Ton zu der Menge.

Eine der Masken – es war der Schmiedegeselle Ludwig – trat vor, löste den Strohmantel von seinen Schultern und legte ihn über die Tote. Dann tauchte auch er wieder in der zurückweichenden Menschenwoge unter.

Achteten sie den Tod, da sie sich zurückzogen? achteten sie den Schmerz? die Trauer? oder fürchteten sie bloß das Entrückte, jenes nicht mehr Zu-ihnen-Gehörige, das von der alten Frau ausstrahlte? Es war beinahe wie ein trotziger Widerstand, der aus dieser Menschenmasse herüberwehte, und beinahe war er mir begreiflich: hatten sie, hatten wir nicht getanzt, mit Raserei das Opfer zu beschwören, auf daß der Himmel sich zur Erde herabsenke, auf daß die Erde zum Himmel emporschwebe? hätte Irmgard nun nicht einziehen müssen in den geöffneten Berg, empfangen von der aufgetanen Halle des Goldes? War nicht alles zunichte geworden, da Mutter Gisson mit ruhiger Hand die selige Tote, das strahlende Opferkind zu sich nahm und in die Obhut einer Landschaft führte, zu der es keinen Zugang mehr gab? Wurden sie nicht alle, die da gewartet hatten, in den Alltag zurückgeschickt, in jenen Alltag, aus dem der Marius sie entführt hatte! Groß war ihre Angst gewesen, ins schier Unerträgliche war sie gesteigert worden, und jetzt, da der Angst Erlösung hätte kommen müssen, wurden sie darum betrogen, wurden sie zurückgestoßen in das Vorherige, dorthin, wo die Angst wieder aufkeimte, die Angst der schweigenden Nacht! Sie murrten nicht, aber schweigend zogen sie sich zurück; nur ein Kinderweinen war hörbar, es kam von Zäzilie her, die inmitten der Menge herumirrte.

Mutter Gisson sah mich an und sagte leise: »Bring' sie ihm.«

Wahrlich, es war das Beste, was man für die beiden tun konnte, und ich holte das Kind und brachte es zum Vater: des Kindes ansichtig werdend, fiel ein Stück seines Traumes von ihm ab, er kniete nieder, es an sich zu nehmen, und er lächelte sogar ein wenig, als es auf ihn zulief und er es neben sich im Grase bettete. Und auch ich ließ mich bei ihnen im Grase nieder und schaute Zäzilie zu, wie sie mit dem Steindolch spielte, den sie auf der Erde gefunden hatte.

So warteten wir. Der Bergmathias kam, und ohne irgend jemanden zu bemerken, ging er zu seiner Mutter hin. Die saß jetzt auf dem Opferaltar zu Häupten der Toten, und ihre Hand lag auf dem blonden Scheitel, von dem ich die Brautkrone entfernt gehabt hatte. Breitbärtig, schweigend, finster stand der Bergmathias daneben.

So warteten wir. Ein paar Burschen hatten sich doch auf die Suche nach Sabest gemacht. Manchmal tönte ein Ruf aus den Wänden »Sabest … Sabest«, und das nächtliche Echo antwortete in immer weiteren Fernen. Ein Toter wurde gerufen, einer, der auf seinen Namen nicht mehr hört, einer, in dem vielleicht nur noch das »Ach« seines Opfers nachklingt, nachklingend in des Mörders Ausweglosigkeit, nachklingend in alle Tode, nachklingende Erkenntnis eines ausweglos gewordenen Lebens: sie riefen ihn, als könnten sie ihn aus der Ausweglosigkeit seines Sterbens zurückrufen, ach, und keiner vermag zu ermessen, was Ausweglosigkeit bedeutet, keiner vermag zu ermessen, was in dem Menschen vorgeht, der nichts vor sich sieht, als den Tod. Sie riefen ihn, und ihre Rufe verhallten.

So warteten wir. Aber der Festplatz war nun wieder von jenem lockeren Summen erfüllt, durch das sich das Vorhandensein einer Volksmenge anzeigt, es waren auch die Lichter bei den Buden angezündet worden, es gingen die Leute umher oder lagerten auf der Wiese, und bei der Buschenschenke gab es sogar ein richtiges Gedränge, denn der Wirt war verschwunden, in den Wänden verschwunden, und das Bier gratis. Man hätte meinen können, der Tanz wäre bloß durch eine Musikpause unterbrochen worden.

So warteten wir, und es dauerte etwa eine Stunde, bis endlich am unteren Wiesenrand Lichter und ein paar Fackeln auftauchten, schwebend zwischen dem leichten Gelaub des Birkenhaines: von Wenzel geführt, erschienen der Bürgermeister, der Dorfpolizist und ein Gendarm, mit ihnen noch etliche andere aus dem Unterdorf, denen Schreck und Neugier in die Glieder gefahren war, sie kamen über die Wiese herauf, mit feuchten Schuhen, und das Volk auf der Wiese schloß sich ihnen an.

Es folgten nun die üblichen Formalitäten, die Anwesenden hatten Rede und Antwort zu stehen, und Lax führte das große Wort. Es war alles überaus einfach und ging glatt vonstatten; nur bei der Einvernahme Milands, der wirr daherredete und sich beschuldigte, sein Kind getötet zu haben, gab es eine Stockung, und Lax begann zu lachen: »Womit willst du denn das angestellt haben?« Es dauerte lange, bis Miland mit einer unbestimmten Geste auf die Feuersteinspitze hinwies, die das Kind Zäzilie noch immer spielend in Händen hielt, und da wurde nun das Gelächter freilich allgemein, alle vergaßen die Tote, die vor ihnen lag, denn Lax entgegnete: »Ach so … mit einem Hosenknopf wäre es noch besser gegangen.« Und da ich in meinem amtsärztlichen Gutachten auch zu Protokoll geben konnte, daß die Wunde einwandfrei von dem Schlächtermesser verursacht worden war, wurde von Milands Reden überhaupt nicht mehr Notiz genommen, und die Behörde wandte sich von Irmgards Körper, dem überflüssig gewordenen Objekt der nunmehr abgeschlossenen Amtshandlung, mit plötzlicher Verachtung ab, um sich mit dem Schicksal Sabests, der von rechtswegen verfolgt werden müßte, zu beschäftigen. Irmgards Körper war freigegeben, der Trauer freigegeben, er durfte zu Tal getragen werden.

Auf einer Bahre, zu der das Leinendach der Lebkuchenbude das Material hergab, geschah es. Die Lichter erloschen auf dem Platz, unhörbar seufzte die Nacht. Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich, daß auch Mutter Gisson sich angeschlossen hatte. Ich trat rasch zu ihr hin: »Mutter, wollt Ihr wirklich noch den weiten Weg machen; ich will Euch lieber heim bringen.«

»Nein«, sagte sie nur.

»Dann gehe auch ich mit, Mutter.«

»Du bleibst heroben«, entschied sie, »du wirst da noch gebraucht werden.«

»Sabest?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein … aber sie werden dich brauchen …«

Von den Fackeln flankiert verschwand der Zug. Ich bemerkte noch, wie Marius ihm folgte. Der Platz wurde still und menschenleer; zwischen den Wolken erschienen die Sterne, ein Sternenhain nach dem andern wurde sichtbar zwischen den weichen Wolkengebirgen, die langsam von dannen zogen, und weiß begannen die Birkenstämme auf der Wiese zu schimmern.

Langsam ging ich über den Festplatz; ein paar Besoffene torkelten noch herum, ein paar schnarchten in der Nähe der Buschenschenke, und zweimal begegnete ich auch den üblichen engverschlungenen Paaren, die dem weichen Hang unter den Birken zustrebten. Für sie einten sich heute noch Himmel und Erde, doch dazu wäre das Opfer Irmgards nicht nötig gewesen.

Da ich keine Taschenlampe mehr hatte, nahm ich nicht den Waldpfad, sondern den Hauptweg, der zur Seilbahnschneise hinunterführt, und durch diese wanderte ich dann langsam aufwärts, um über die Lichtung oben nach Hause zu gelangen. Eine sonderbare Leerheit und Gedankenlosigkeit hatte mich befallen, der föhnige Septemberwind spielte mit den Seilen über mir, von Zeit zu Zeit hörte ich wieder die Stimmen aus den Felsen, die noch immer nach Sabest riefen, aber ich konnte weder an diesen denken, noch an Irmgard, noch an Mutter Gisson, die jetzt die Bahre ins Tal begleitete, ich achtete bloß meines Weges, des Gerölls und der Wurzeln, nur der nächste Schritt war mir wichtig, und vergaß wohl auch, daß ich meinem eigenen Hause zustrebte. Wie ein ferner Ruf kam mir der Gedanke an den Peter, den die Amtspersonen vergeblich auf dem Festplatz gesucht hatten und der nun sicherlich in den Wänden herumirrte, mit den anderen nach dem Vater zu fahnden, doch als ich zu dem abgestürzten Waggon kam, dessen Zerschmetterung die neue Zeit hätte einleiten sollen, da verlor ich plötzlich alle meine Kräfte: ohne daß ich es gemerkt hatte, war ich von einer grausamen Ermattung und Enttäuschung übermannt worden, vielleicht vor Übermüdung, vielleicht vor Hunger, vielleicht vor Trauer, mehr aber vielleicht noch vor Ohnmacht und der Unfähigkeit, den Sinn eines Irrsinns zu erfassen, an dem ich, versunken in einer gespenstigen Traumhoffnung, doch selber teilgenommen hatte. Unfähig wurde ich zu allem, unfähig weiter zu steigen, unfähig, irgend etwas zu wollen. Ich lehnte an dem unkrautumwucherten Betonsockel des Seilständers, vor mir verflochten sich die abgerissenen Drähte und Seile mit dem Waggongestänge, starrendes Menschenwerk, unheimlich in den Urzustand der Natur zurückgekehrt, barbarisch und heidnisch geworden kraft seiner Unbrauchbarkeit, als wollte es dartun, daß des Menschen letzte Verstandeswerke eben so weit von seinem Menschentum entfernt sind, wie die Urgründe seines Blutes und seines fleischlichen Seins, verbotene Gebiete sie beide, schwindelerregende und ins Schwindelhafte führende, im Unheiligsten einander berührend, mordend aus dem Heidentum des Blutes, mordend aus dem Heidentum der Technik, es ist ein und dasselbe, denn das Heidnische braucht den Mord, um bestehen zu können: nur in der Mitte unseres Seins ist das Heilige, ist die Heiligkeit unseres Lebens, dieses so kurzen, mit jeder Nacht kürzer werdenden Lebens, das kein Rausch ist und keine Maschine, sondern ein aufblühendes, aufblätterndes Hinwachsen aus Dunkelheit zu Dunkelheit, aus Ungeborenem zu Ungeborenem, Wiedergeburt seiner selbst: in der Mitte unseres Seins stehen die Bäume unter der Liebkosung des Himmels, und es weht die Zeit, ein sanfter Windbote zwischen den Unendlichkeiten, aus denen sie kommt, zu denen sie hinströmt, eine kurze Strecke uns tragend wie ein herbstliches Blatt, auf daß wir ahnen, woher wir erwacht sind und wohin wir eingehen, Boten unserer selbst: nur in der Mitte unseres Seins ist das Wissen, ist das Wissen um das, was der Mensch braucht, um Mensch zu sein, ist das Wissen um seine Humanität und seine Kultur, ist das fromme Wissen, das das Wissen der Kultur ist und dem auch Mutter Gisson angehört, kein Wissen des Blutes und keines der Technik, sondern des Menschen Wissen seiner selbst: in der Mitte unseres [Seins], nur in seiner Mitte, nicht im dunklen Rausche seiner Grenzen, weder im Rausche des Urgründigen, noch im Rausche des Technischen, sondern im Sein seiner selbst wohnt das Göttliche in uns. Es bewegten sich leise die Stämme der Fichten im irdisch nächtlichen Winde, von den Laubbäumen fiel manchmal ein Blatt, an meinem Gesicht klebten Spinnweben, die zwischen den Drähten hingen gleich kunstvollen Verkleinerungen ihres Gewirrs, doch an meinen Händen waren noch Reste des Blutes, das über sie geflossen war, und tiefer senkte sich der Himmel im leisen Summen der Sternschwärme, höher schwebte der nächtlich singende Wald ihm entgegen, es schwebte die Erde: noch lebte ich, noch war es mir vergönnt, in der Mitte zu sein, hier, wo die Unendlichkeiten sich einen. So wanderte ich aufwärts, wandernd neuerdings, kaum merkend, daß ich es wieder tat, kam hinauf zu der Lichtung, sah die Sterne der Täler unter mir und das Tal des Firmaments, erfüllt von dem durchsichtigen Nebel des Septembers, in dem die Tiefe und die Höhe sich berührten, gewaltig vor Gewaltlosigkeit, dies sah ich und wurde nochmals vom Walde aufgenommen.

War es ein glückhafter Zustand? sicherlich nicht. Aber es war einer der Gewißheit. Und trotzdem sollte er noch einer Prüfung ausgesetzt werden.

Denn unweit von Wetchys Haus riß es mich zurück und erschrocken mußte ich Halt machen: ich hörte Musik und Johlen, richtige Vierzeiler-Musik mit Klatschen, deutlich die Harmonika, deutlich die beiden Geigen, so fiedelte es in eine Nacht hinein, die schwanger war vor Herzeleid. Den Schrecken überwindend, meine Müdigkeit vergessend, begann ich zu laufen, rascher noch, als ich nach einigen Minuten Fackeln zwischen den Bäumen aufleuchten sah, und gleich darauf übersah ich das ganze Bild: die Bande der Geister und Teufel, die freilich keine Geister und Teufel mehr waren, sondern kommune schwitzende Masken, diese vom Freibier in der Buschenschenke schwerbesoffene Bande war im Fackelschein um einen Baum herum versammelt, an den sie einen Menschen gebunden hatten – ohne ihn zu erkennen, konnte ich mir es ausrechnen, daß es Wetchy war – und vor dem einer im Strohmantel zum Klange der Musik herumtanzte; die anderen klatschten in die Hände und auf die Schenkel, manchmal trat einer vor und klatschte dem Wetchy eine ins Gesicht, und mit der Beharrlichkeit der Besoffenen sa[n]gen sie dazu den Vierzeiler:

»Wer hat dich gerufen
du blöder Agent
stiehlst du unser Geld,
so geht's jetzt zu End.«

Der Wenzel war unter ihnen. Sie waren glänzender Laune; es gab keine ganze Fensterscheibe mehr an dem Hause, und zur Erhöhung der Stimmung flog noch hie und da ein Stein hinein. Kurzum, es war widerlich.

Ich war einigermaßen sicher, daß sie mir trotz ihrer Besoffenheit nichts anhaben würden; sogar mit dem Wenzel verband mich ja eine Art Vertrauensverhältnis. Nichtsdestoweniger und auf alle Fälle pfiff ich Trapp, der mich drüben im Garten hören mußte.

Auf das scharfe Pfeifen hin wurden sie aufmerksam; das Fest stockte.

»Abschneiden«, schrie ich sie an, »sofort abschneiden!«

Wenzel torkelte heran: »Herr Doctor, ein kleiner heilsamer Spaß.«

»Dreckkerl«, sagte ich. Ich hatte gute Lust, ihn von dem heranrasenden Trapp fassen zu lassen.

»Herr Doctor«, sagte er, merkwürdig ernst und nüchtern werdend, »es war notwendig.«

Es war notwendig? ich hatte keine Zeit zu Diskussionen, obwohl mich dieser Ernst eigentümlich berührte und meinen alten Unwillen gegen den Wetchy, gegen diesen Unglückspilz, der nun auch dies notwendig gemacht haben sollte, wieder leise aufleben ließ, und ich ging schweigend zu ihm hin, zog mein Messer und schnitt ihn ab. Er sank in meinen Armen zusammen.

»Na, Wetchy«, sagte ich, »nur Mut, es geht schon … mit dem bißchen Nasenbluten werden wir schon fertig werden.«

»Sagen Sie nichts meiner Frau davon, Herr Doctor; sie regt sich sonst auf«, murmelte der kleine Held; dann überkam ihn Bewußtlosigkeit.

Um mich herum stand die Bande, manche glotzten nur so vor sich hin, ein paar lächelten entrückt in ihrem Rausch, ich musterte sie, und zu meiner Überraschung fand ich sogar den braven Burschen, den Ludwig, unter ihnen. Sie waren ja schließlich alle nicht schlecht, sie waren nur stinkbesoffen.

»Ludwig«, sagte ich, »hilf mir.«

Er kam ein wenig zögernd, dann kam noch einer, und wir hoben den Wetchy auf. Aber das Haus war verschlossen. Ich rief nach Frau Wetchy. Nichts rührte sich. Vielleicht lag sie da drinnen ohnmächtig auf dem Fußboden.

Hinein mußte ich. Einer schlug mir vor, die Türe aufzubrechen. Das wollte ich nicht gerne. Ich ließ mich zu dem eingeschlagenen Küchenfenster hinaufheben, griff hinein, öffnete den Riegel und stieg ein. In der Küche stolperte ich über die Bretter, die Wetchy vorsorglich auf den Steinboden gelegt hatte. Dann machte ich Licht. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, immer wieder rufend »Ich bin's, Frau Wetchy, der Doctor!«, doch nichts rührte sich. Sollte sie geflohen sein? Ich gab das Suchen auf, denn ich durfte den Verletzten nicht warten lassen, lief die Treppe hinunter, öffnete die Haustüre, und wir trugen den noch immer Bewußtlosen ins Schlafzimmer hinauf. Trapp folgte. Dann schickte ich die Leute fort, füllte beim Waschtisch Wasser ins Becken und begann mit meinen berufsmäßigen Bemühungen um den Mann.

Wie ich im besten Zuge war, knurrte der Hund neben mir. Ich horchte auf. Zögerndes leises Schlurfen war vernehmbar, stockte wieder. »Herein«, rief ich, jedoch ohne Erfolg. »Herein«, rief ich nochmals, »ich bin's, der Doctor!« Keine Antwort. Da öffnete ich die Türe. Nichts. Aber als ich den kleinen Vorraum durchquert hatte, fand ich die Frau auf der Stiege; sie saß auf der obersten Treppenstufe und klapperte mit den Zähnen.

Du lieber Himmel, sie wird mir doch nicht jetzt vor Schrecken in Wehen fallen! Aufs neue erfaßte mich der Unwillen gegen diese unschuldigen Leute: »Wo haben Sie denn gesteckt, Frau Wetchy?«

Ihr Gebiß wirbelte; sie konnte nicht antworten. Im übrigen war es besser, wenn sie den ohnmächtigen Mann nicht sah. Ich ließ sie sitzen.

Ich untersuchte Wetchy. Vorderhand fand ich einen ausgeschlagenen Zahn. Was sonst an ihm kaputt war, konnte ich erst finden, bis er aufwachen würde. Arme und Beine waren intakt. Aber dann sah ich noch im Schritt nach: natürlich hatte ihm da einer hineingetreten, auf diese beliebte Manipulation verzichten Bauernburschen nur ungerne; das war wohl auch die Ursache seiner Bewußtlosigkeit. Ich wusch das Gröbste weg, legte ihm eine Kompresse auf, und dann rannte ich davon, vorbei an der Frau und zu mir nach Hause, um die Morphiumspritze zu holen, damit er vor dem ersten Schmerzanfall geschützt werde.

Als er seine Injektion erhalten hatte, ging ich zu ihr, die noch immer dort saß. Ich mußte sie aus der Panik reißen, die nach wie vor in ihr klapperte und wirbelte: »Frau Wetchy, wo ist der Bub?«

Das wirkte, sie riß sich nun doch zusammen: »Im Keller«, brachte sie hervor.

»Holen Sie ihn.«

Ich half ihr, sich auf die wankenden Beine zu stellen. Nachdem dies gelungen war, schien das Eis gebrochen: »Sind sie fort?« fragte sie.

Sie hatte die Hände in gewohnter Weise über den Bauch gefaltet, aber sie klagte nicht über Wehen; ich empfand dies geradezu wie ein Geschenk.

»Ja, Frau Wetchy, sie sind fort, es ist glimpflich abgelaufen … ich gehe mit Ihnen, das Kind holen.« Ich fürchtete, daß sie es fallen lassen könnte.

Hernach setzten wir uns zu dem Kranken. Er lag nun im Morphiumschlummer und sah friedlich aus. Auch ich auf meinem Stuhl schlummerte ein, unruhig und oftmals unterbrochen, um nach dem Patienten zu sehen, aber schließlich doch so tief, daß ich sein Aufwachen überschlief. Als ich die Augen öffnete, saß Frau Wetchy auf dem Bett neben ihrem Mann, sie hielten sich an den Händen und aus Angst, mich zu stören, trauten sie sich nicht, miteinander zu reden: sie blickten einander bloß in die müden Augen.

»Schmerzen, Wetchy?«

Er schüttelte den Kopf und lächelte.

»Trotzdem werden wir Schmerzensgeld verlangen, und Schadensersatz, und Verdienstentgang … so leichten Kaufs wird mir die Gesellschaft nicht davonkommen.«

Er schüttelte wieder den Kopf: »Ach nein, Herr Doctor, das hat wenig Sinn …«

»Na, darüber wollen wir noch reden …«

»Nein, Herr Doctor, wir werden möglichst bald wegziehen, das ist alles …«

»Und was dann?«

Er lächelte zuversichtlich: »Ich werde meine Familie schon durchbringen …«

»Ja«, sagte die Frau, »er kann alles, was er will.«

Und der kleine dürftige Herkules in seinem Bette sagte: »Von schlechten Menschen kann man leicht weggehen, nur bei guten fällt es einem schwer … und Sie waren sehr gut zu uns, Herr Doctor.«

Beide hatten sie Tränen in den Augen, und ich vielleicht auch. Aber sie klagten nicht. Und als ich ihn nun rasch untersuchte, um keine weitere Rührung aufkommen zu lassen, da zeigte es sich, daß ihm auch eine Rippe gebrochen worden war.

Es mochte etwa fünf Uhr morgens gewesen sein, als ich heimkam. Schwarz standen die Bäume gegen den bereits heller werdenden Himmel, auf dem es keine Wolke mehr gab. Von seiner Kuppel hatten sich die Sterne bereits morgendlich losgelöst, und kleiner gewordene, starr glänzende Punkte, so schwebten sie in dem grünlich werdenden Äther, um nun bald in ihm sich aufzulösen. Sinnlos lag die Welt darunter, sinnvoll doch in ihrer Grausamkeit und Güte, und an manchen Stellen bekam sie bereits Farbe.


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