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In jenen ersten Novembertagen raffte sich das Jahr noch einmal auf und holte all seine Stärke zusammen zu zitternder Pracht und goldenem Klang: ein Nachherbst, ein Nachsommer von seltener Reife schmolz den Oktoberschnee von den Höhen, ein unergründlich heller Himmel hatte noch einmal alle Kälte der Welt in sich aufgesaugt, um sie hinter seiner durchsichtigen Bläue zu verbergen, hinter einem Blau, das nicht das des Vergißmeinnichts und nicht das des Enzians, sondern wie der Schatten in einer aufgeblätterten weißen Rose war, und voll starrer Milde schaute er durch das zarter und schärfer gewordene Geäst der Bäume: noch einmal strich das Unendliche in seiner lieblichsten Gestalt durch die Natur, faßbar dem Menschen, ehe es sich verschließt und an die winterlichen Grenzen der Sterne sich zurückzieht. Man nennt diese Zeit Altweibersommer, vielleicht weil sie mehr als jede andere die Ganzheit der Welt ahnen läßt, ihre Härte und ihre Milde, ihr Anbeginn und ihr Ende, vereinigt in der Fülle der Mitte, weiblich das Unendliche, wenn es zur Ganzheit und Ruhe wird, enthoben seinem Drängen und seinem Sich-selbst-Erschaffen; so gaben sich Erde und Welt noch einmal in ihrer Ganzheit.
In jenen ersten Novembertagen übersiedelte Wetchy in die Stadt, um sich eine neue Existenz zu suchen. Er hatte sein Haus aufgekündigt, und er hatte gut daran getan, denn der Gemeinderat, in dem nun der Marius saß, hätte es ihm ohnehin nicht belassen. Gleich nach dem Bergwerksunglück hatte Miland alle seine öffentlichen Funktionen niedergelegt, und den Bemühungen des Lax war es ohne viel Anstrengung und Aufhebens gelungen, den Marius an die freigewordene Stelle zu bringen. Der ersten Sitzung, bei der der Marius eingeführt worden war, war ich fern geblieben, und am liebsten hätte ich mich gleichfalls aus dieser Körperschaft zurückgezogen; aber als Gemeindearzt durfte ich dies nicht tun.
Und es war der 4. November, an dem mich Rosa weckte. Sie mußte wohl, wie es ihre Gewohnheit war, erst zaghaft angeklopft haben, und da ich es nicht gehört hatte, trommelten ihre Kinderfäuste mit aller Macht an die Türe, bis ich Antwort gab.
»Ja«, rief ich, »komm herein.« Es war noch dunkel, ich machte Licht. Sechs Uhr.
Sie stand vor meinem Bett: »Ich fahre in die Stadt«, sagte sie ernsthaft. Trapp, der sie begleitet hatte, legte den Kopf auf die Bettkante.
»Dazu mußt du mich jetzt schon wecken, du elendes Geschöpf … sogar fix und fertig angezogen bist du schon.«
»Die Karoline macht den Kaffee.«
»Na, weil heute der große Tag ist … ich bin bald unten.«
Während ich mich ankleidete, wurde es licht vor den Fenstern; wie luftiges Wachs stand der weiße Nebel davor, durchtränkt von Helligkeit wie ein Schwamm, und man ahnte den wolkenlosen Himmel darüber.
Als ich hinunterkam, saßen die beiden schon beim Kaffee.
»Freust du dich, Rosa?« fragte ich.
Die Karoline schneuzte sich vernehmlich, stand auf und machte sich beim Herd zu schaffen.
Rosa wischte sich mit dem Handrücken den Mund: »In der Stadt werde ich zur Schule gehen … wie der Suck Albert.«
»Das hättest du auch hier tun können«, sagte die Karoline vom Herd her.
»Nein«, sagte das Kind.
»So?« meinte ich, »du willst wohl bloß mit den Stadtkindern zusammen lernen?«
»Der Pappa hat gesagt, daß ich in der Stadtschule lernen muß.«
Unbeherrscht drehte die Karoline sich um: »Dein Pappa soll dich hier lassen.«
»Karolin', setz' dem Kind nicht solche Dinge in den Kopf; du weißt, daß ein Kind zu seinen Eltern gehört.«
Karoline schwieg beleidigt. Aber nach einer Weile sagte sie: »Jetzt, wo's bei uns erst schön werden wird.«
»Was?«
»Ja, alles wird jetzt besser werden, auch die Schule … jetzt müssen die Mädeln nimmer Dienstboten werden.«
»Das ist mir neu, Karolin'.«
»Weil Sie den Herrn Ratti nicht leiden mögen, Herr Doctor … aber der ist jetzt im Gemeinderat …«
Glücklicherweise trat da Suck mit seinen drei Buben ein.
»Wir kommen der Rosa Lebwohl sagen.«
Er glänzte vor Herzlichkeit. Der kleinste der Buben, der Franzi, hielt eine frischbemalte gedrechselte Holzpuppe im Arm.
Rosa rutschte vom Stuhl herunter.
»Gib das der Rosa … das hat dir der Franzi mitgebracht.«
»Das haben Sie fabriziert, Suck?«
»Natürlich.«
Die zwei größeren Buben hatten ihre Schultaschen mit. Für sie war es höchste Zeit, weiterzukommen. Rosa und Franzi begleiteten sie hinaus.
»Ja«, sagte Suck, »und ich werde dem Wetchy beim Aufladen helfen.«
»Nett von Euch, Suck.«
Er wehrte ab: »Keine Spur, das mach' ich dem Marius zutrotz.«
Karoline gesellte sich zu uns: »Du bist auch so einer, Suck.«
»Natürlich bin ich auch so einer … ist es dir vielleicht nicht recht, daß ich dem Wetchy helfe?« Die Zimmermannsaxt, die er mitgebracht hatte, über die Schulter gelegt, die Pfeife im Mundwinkel, stand er da und blinzelte aus seinen roten Fettwangen fröhlich heraus.
Sie kicherte: »Der Wetchy soll nur fortziehen.«
»Karolin'«, sagte ich, »aber das Kind willst du dabehalten.«
»Ja, das will ich dabehalten, das ist zu gut für die Eltern.«
»Red' keinen Unsinn, Karolin'«, sagte ich.
Suck lachte gutmütig, und ich mußte an die angesägten Pfosten denken. Konnte wirklich dieser gutmütige und herzliche Mann das getan haben?
»Du bist ein altes Weib«, meinte er.
»Ich? ich werde dir geben, altes Weib … für dich bin ich noch lange jung genug.«
»Ah, so eine bist du.«
»Lach' nicht, Suck … jetzt krieg' ich die Alimente nachgezahlt für das Kind … alles krieg' ich, für all die Jahre … dann bin ich reich.«
»No freilich, und dann willst mich heiraten?«
»Dich?« Karoline fauchte bösartig, »du wirst ja eingesperrt, warte nur, der Marius wird dich einsperren lassen.«
Ich schaute Suck an. Der wurde für einen Augenblick ernst. Doch dann gab er der bösen Karoline einen Nasenstüber und wandte sich zur Türe: »Ich gehe jetzt«, sagte er, »kannst auch helfen kommen, Karolin'.« Und draußen war er.
»Wer wird dir denn die Alimente nachzahlen?«
»Die Gemeinde«, sagte sie trocken und begann das Frühstücksgeschirr abzuräumen.
Etwa um neun Uhr hörte ich ein Auto hupen und sodann schwerfällig und dumpf über den weichen Waldboden vorbeifahren. Es war der Wagen, den Wetchy zum Transport seiner Sachen aus der Stadt bestellt hatte.
Ein wenig später ging auch ich hinüber.
Das Auto, dessen eine Seitenwand herabgeklappt war, ruhte sanftmütig auf seinen vier Rädern; es war schon halbbeladen, und die Sonne glitzerte in dem Spiegelschrank aus Wetchys Schlafzimmer, der – durch ein paar graurotgestreifte Matratzen gegen die Stöße geschützt – bis dicht an den Führersitz vorne herangeschoben war. Der Chauffeur stand mit gespreizten Beinen auf der Plattform, ließ sich die Gegenstände von Suck und dem Helfer, die schräge Tragbänder, der eine nach links, der andere nach rechts über die Schultern gelegt hatten, hinaufreichen, Kisten, Bettenteile, auch die kleine Tischbank Rosas war dabei, und er schien aus der Verstauung und Einteilung eine rechte Wissenschaft zu machen. Der übrige Hausrat stand noch auf dem Gartenrasen unter den Fichten, Rosa und Franzi kletterten darauf herum, und die restlichen Stücke wurden von dem hin- und herlaufenden Wetchy einzelweise aus dem Hause herausgetragen.
Ich hatte einen Korb Eßwaren mitgebracht, den ich der Frau mitgeben wollte: »Wo ist die Gattin, Wetchy?«
»In der Küche … nein, oben.«
Die ausgeräumte Wohnung war wie ein eben abgeworfenes Kleidungsstück, das noch die Körperformen seines ehemaligen Trägers zeigt und sich noch nicht zur bloßen Sache zurückgebildet hat. An den Wänden haftete noch der Atem der Menschen, die hier gelebt hatten, und es war, als ob die sich überall abblätternden grünlichen und bräunlichen Wandfarben, die an den Fußbodenkanten kleine Staubhäufchen bildeten, nunmehr definitiv sterben wollten, da nichts Lebendiges sie mehr anhauchen sollte. Denn von den vielen Schichten, die der Mensch um sich gelegt hat und die er ausfüllen will, Schale um Schale, um mit ihrem Besitz die Ganzheit der Welt zu erfüllen und sich zu ereignen, sind ihm Kleider und Wohnung die primitivst nächsten, und da sie am unmittelbarsten an seiner eigentlichen Wirklichkeit teilnehmen, bedeuten sie für die meisten auch schon die Weltganzheit und die ganze Weltwirklichkeit: und das ist es wohl, was man ihnen anmerkt. An die zehn Jahre mochte Wetchy hier gehaust haben, hierher hatte ihn sein Schicksal verweht gehabt, ein günstiger oder ein ungünstiger Wind, genau so, wie er jetzt wieder hinausgeweht wurde, er selber kaum solchen Geschehens bewußt, kaum seiner Wirklichkeit bewußt, obwohl er sie doch für wirklich hielt; an die zehn Jahre waren ihm diese Wände Asyl und Wirklichkeit gewesen, und er hatte sie mit seinem Leben angefüllt und mit Möbeln, die jetzt auf der Plattform eines einzigen Lastwagens Platz fanden, unwirklich in ihrer Gedrängtheit, und die wieder zwischen neuen Wänden ihm Wirklichkeit werden sollten, wenn sie nur erst wieder auseinandergebreitet werden würden, Schale seines Seins, Schale seines Schlafes, um diesen aufgestellt und ihn spiegelnd, Weltganzheit, seine Ruhe umfangend, und die ist dort, wo er schläft, wo er mit seiner Frau schläft, manchmal Hand in Hand, vereinigt mit dem anderen Geschöpf, Leib an Leib, dennoch Seele an Seele, Leiber zeugend, Seelen zeugend, als Familie zu einem gemeinsamen Leib und zu gemeinsamer Seele werdend, Lebenseinheit, die auch diese Wohnung gleich einem Gewässer in einem stillen Teich erfüllt hat. An der Mauer des Schlafzimmers hatte die Rückwand der beiden Ehebetten einen scharfen Querstrich in die Malerei gescheuert, und darüber hing noch der Hausspruch: »Wo Liebe wohnt, ist Gottes Segen.« In einer Ecke standen, schief ineinandergeschachtelt, die beiden Nachtgeschirre und harrten des Abtransports.
Im Nebenzimmer war Frau Wetchy, verweinten Auges, mit dem Abnehmen von Gardinen beschäftigt. Der kleine Maxi kroch auf den Dielen herum und zog einen Gardinenteil hinter sich nach.
»Mut, kleine Frau«, sagte ich, »immer nur Mut, dann geht es schon.«
»Oh, Mut haben wir, Herr Doctor … wo wären wir, wenn mein armer Mann nicht solchen Mut aufbrächte … und die Hauptsache ist, daß man sich lieb hat, dann geht alles.«
»Ja, dann geht alles«, bekräftigte ich, obwohl ich wußte, daß selbst bei so großer Gnade des Einander-lieb-habens noch lange nicht alles geht. Doch da ich gleichzeitig Wetchy kommen hörte – seltsam hohl hallten und knarrten seine Tritte in dem leeren Haus –, übergab ich rasch meinen Korb und entzog mich den Danksagungen durch Flucht.
Wetchy kam gerade von der Stiege herein.
»Nun, bald fertig unten?«
»Ja, ich muß eben die letzten Sachen holen.«
Dann hörte ich ihn drinnen herrisch quäken: »Warum hängt hier noch der Haussegen an der Wand?«
Ich setzte mich zu den Kindern aufs Kanapee unter den Fichten, das wegen seiner Polsterung zuoberst aufgeladen werden sollte.
»Tüchtig aufgeräumt in dem Haus«, sagte Suck, der im Begriffe war, eine Kommode aufzuschultern, »sogar die Lichtschalter habe ich abgeschraubt.«
»So was«, meinte ich mit halber Aufmerksamkeit, denn ich wurde von einem neuen Ereignis abgelenkt: drüben bei meinem Gartenzaun zeigten sich zwei Gestalten, und es waren Marius und der Dorfpolizist.
»Suck, sieh mal, wer da anrückt …«
Suck stellte die Kommode wieder auf die Erde und schaute hin. Dann stützte er die Ellbogen auf die Platte, etwa wie ein Verkäufer hinter dem Ladentisch: »Der hat uns gefehlt.«
Wetchy erschien, ein Waschbecken in der einen Hand, in der andern die beiden Nachtgeschirre, den Haussegen unter den Arm geklemmt und die Gardine über den Nacken gelegt.
»Jetzt wirst eine Freude haben«, eröffnete ihm Suck.
Der kurzsichtige Wetchy fragte, was wir sähen.
»Na, der Marius besucht dich höchstpersönlich«, sagte Suck hinter seinem Ladentisch und deutete mit dem bärtigen Kinn zum Garten hinaus.
»Ich gehe«, sagte Wetchy und blieb gelähmt stehen.
»Geh' nur«, lachte Suck ungerührt.
»Mädi komm«, stieß Wetchy in seiner Angst hervor, als müßte er auch sein Kind schützen.
»Na, Wetchy, man tut Ihnen doch nichts, niemand tut Ihnen was zuleide.«
Er versuchte mit den geschirrbeladenen Händen die Schweißtropfen von Oberlippe und Stirn zu wischen: »Ja, Herr Doctor«, klang es schüchtern.
Stolz, lässig und unrasiert trat Marius in den Garten. Er gab mir und Suck die Hand, während er bei Wetchy, der seine Last noch immer nicht abgestellt hatte, dessen enthoben war. Komödiantenhaft fremd nickte er ihm einen »Guten Morgen« zu, von Wetchy mit einem Neigen des gardinenbeschwerten Nackens beantwortet. Aber Suck sagte: »Da ist noch wer« und schob die Rosa dem Marius vor die Füße, so daß dieser nicht umhin kann, die hingestreckte Hand des Kindes zu nehmen.
»Mach' einen schönen Diener«, befiehlt Wetchy mit bebender Stimme, was ihm von Marius einen verächtlichen Blick einträgt.
Suck hingegen, angreiferisch gesinnt, läßt es nicht genug sein: »Willst du dem Onkel keinen Kuß geben?« fragt er heuchlerisch und hebt das rotznäsige Mädel zu Marius' Gesicht hinauf. Das Kind strampelt mit den Füßen gegen die Brust des Onkels, Suck lacht, Wetchy murmelt mit abwehrend vorgestrecktem Geschirr: »Nicht, nicht«, und es ist eigentlich zum ersten Male, daß ich den Marius verwirrt und einer Situation nicht gewachsen sehe, denn er schaut ziemlich hilflos von einem zum andern, versucht es auch mit seinem gewinnenden Lächeln, das ihm freilich vergeht, wie ihm die herumschlagende Rosa mit allen Fingern in die Augen gerät. Da tritt er einen Schritt zurück, findet wieder in seine Würde und sagt streng: »Sie sehen doch, daß das Kind nicht will.«
»Allerdings«, freut sich Suck und läßt das Mädel hinabgleiten, »ich möchte ja auch nicht wollen.«
Marius, bei aller Höflichkeit, zieht ein saures Gesicht; diese Art von Spaßen entsprechen nicht seinem Stil.
Ich frage: »Was führt Sie her, Ratti?«
Er hat sich wieder in seine gewohnte ein wenig überhebliche Positur begeben: »Ich übernehme das Haus für die Gemeinde.«
»Triumph auskosten«, stellt Suck richtig.
Marius machte eine Bewegung, als verlohnte es sich nicht, überhaupt darauf zu antworten, doch dann sagt er: »Die Gemeinde hat in die vorzeitige Vertragsauflösung eingewilligt … das ist weiter kein Triumph.«
»Sei nicht so feig«, sagt Suck, der wieder bei seiner Kommode ist, »gib' zu, daß du den Wetchy hinausgebracht hast und daß du dich darüber freust, du Feigling.«
Der Vorwurf der Feigheit sitzt; die Antwort ist ein wenig verschnörkelt: »Die Gemeinde hat eingesehen, daß es besser ist.«
Nun ist's auch mir zu viel: »Zum Teufel, Marius, machen Sie doch uns und sich selber keinen Firlefanz vor; was Sie sich und anderen eingeredet haben, geht auf keine Kuhhaut, aber eingesehen hat es deswegen noch lange keiner.«
»Ach was«, sagt Suck und marschiert mit der Kommode auf dem Rücken zum Auto.
Marius besinnt sich. Mit mir will er es sich nicht ganz verderben. Und mit einer kleinen eleganten Geste zeigt er auf den Rasen: »Ist dies ein Garten, Herr Doctor?«
»Immerhin … was wollen Sie damit?«
»Nicht ein Blumenbeet, nicht einmal ein wenig Gemüse … nichts.«
»Herr Ratti …«, läßt sich da Wetchy vernehmen, der noch immer angewurzelt dasteht.
Indes der Marius hat jetzt seinen Anlauf genommen und da ist er nicht so leicht aufzuhalten: »Wem die Liebe zum Boden fehlt, der ist kein Mensch, der schändet die Erde mit jedem Tritt, den er auf ihr tut, den muß man fortscheuchen, denn er schändet alles, was er berührt …«
Ich versuche, ihn zu bremsen: »Na, übertreiben Sie nicht gleich wieder …«
Tatsächlich wirkt es, er mäßigt sich: »Herr Doctor, es ist so, alles Unheil der Welt kommt von den Menschen, denen die Erde fremd geworden ist, kommt von der Stadt … Herr Doctor, ich bin viel gewandert, viel habe ich gesehen, und immer wieder habe ich mich überzeugt, daß der Bauer mit seiner Abneigung gegen den Städter recht hat … die Bauern der ganzen Welt lieben einander, gäbe es bloß Bauern, es gäbe keine Kriege … aus der Erde wächst der Mensch, aus der Erde wächst seine Gemeinschaft, eine einzige Gemeinschaft wäre die Welt, wenn es nur Bauern gäbe … aber die Städte stehen außerhalb jeder Gemeinschaft, weil sie gepflastert sind, weil sie die Erde verloren haben … dort wächst der Haß … das spürt der Bauer, und deshalb mag er den Städter nicht, den eigenen schließt er aus seiner Gemeinschaft aus, wenn er sich eindrängen will, gegen den fremden führt er Krieg, aber sein Haß gilt dem einen, wie dem andern … Bauern gegen Bauern führen keinen Krieg, sie hassen einander nicht, sie sind Opfer des Stadthasses.«
Das klang wieder einmal ganz vernünftig, wenn es auch nicht eben höflich gegen mich städtischen Menschen war. Immerhin verwunderlich, wie dieser Kleinbürger, der der Marius im Grunde doch ist, sich als Bauer fühlt und sich zu seinem Anwalt macht.
Leider nicke ich zustimmend; man darf ihm kein Zeichen der Zustimmung geben, sofort kommt er wieder in Schwung:
»Aus den Städten kommt es herausgekrochen, hassenswürdig und hassend, Maschinen bringt es mit und Radioapparate und Hypotheken, und dafür will es mit unserem Brot genährt werden … wie die Weiber schmeicheln sie sich heran mit ihren Geschäften, ja, wie die Weiber, denn sie tun ja nur so, als ob sie Männer wären, weil ihnen der Bart im Gesicht hängt, aber die Weiberhabsucht in ihrem weichen Gesicht können sie damit nicht verdecken …«
Mir fällt ein, was Mutter Gisson über seine Männlichkeit gesagt hat. Er schließt die Augen, öffnet ein wenig den Mund und drückt mit Daumen und Zeigefinger seinen Gallierschnurrbart zurück, gleichsam, als müßte er das Geheimnis erst in seine Hand hauchen, denn geheimnisvoll fährt er fort:
»Sie zeugen noch Kinder, aber sie sind keine Männer, und ihre Kinder sind es noch weniger und ihre Enkelkinder noch weniger … je älter die Städte werden, desto verweibter werden sie … Weiberbärte tragen sie, Weiberhände haben sie, und die Gemeinschaft, die sie untereinander halten, ist ein Schachern, wie könnte es anders sein, da sie ihr Leben nicht aus der Erde holen, sondern einer vom andern … giftgeschwollen sind sie, nach der Art von Weibern, die sich wie Männer gebärden, so ist ihr Haß, weich, freundlich und geschäftig, und gleich Weibern wissen sie gar nicht, daß sie hassen und hassen müssen, sondern meinen, Unrecht zu erleiden, wenn man sie wegscheucht …«
Seine Stimme ist immer schriller und hysterischer geworden:
»Haßsüchtig sind sie, herrschsüchtig sind sie, sie und ihre Brut, Weiberhaß, Weiberherrschsucht, sie wollen das Land nicht bearbeiten, sie wollen es haben, damit sie Hypotheken darauf pflanzen können. Und mit Weiberlist und Weibsvernunft ist es ihnen gelungen, haben sie die Herrschaft der Welt an sich gerissen … Weiberherrschaft, Weiberherrschaft … Haßherrschaft … die Städte sind das Unglück der Welt.«
»Warum schreit er so?« fragt Suck, der zurückkommt.
Mit dem Geschirr in der Hand steht der Weltbeherrscher Wetchy da, man merkt, daß er gerne etwas sagen möchte, stumm bewegt er die Lippen, seine schüttern blonden Augenbrauen sind zusammengezogen, die Haut der Glatze zuckt, indes damit läßt sich eine Lawine nicht aufhalten.
Der Marius deutet jetzt über die Schulter zu ihm hin: »Ist jemals einer von denen zur Erde zurückgekehrt? hat je einer von denen wieder gelernt, den Pflug zu führen? eine Kuh zu melken? nein, keiner noch hat aus der Stadt den Weg zurückgefunden, da gibt's nur einen Weg hin, aber keinen zurück … wer ins Weibervolk geraten ist, der kann nimmer heraus, der kann immer nur noch andere hineinziehen … doch aus ist's jetzt mit der Weiberherrschaft, mit der Städteherrschaft, zurück mit dem Gezücht in seine Höhlen, wo es hingehört, die neue Zeit hat begonnen, die Gemeinschaft der Männer hat sich wieder erhoben, ihr ist das Land Untertan, weil es die Gemeinschaft der Erde ist, und die Städte werden verdorren in neidischer Habsucht, versöhnt die Erde, von der wir das Gezücht wegtilgen, versöhnt der Himmel, der sich wieder herabbeugen wird zur neuen Reinheit der Welt, wenn die Erdlosen, die Gottlosen verschwunden sein werden …«
Da gibt es einen klirrenden Krach: Wetchy hat sein Porzellan einfach fallen lassen, und über die Scherben hinweg tritt er an den Marius heran, der erstaunt innehält.
»Herr Ratti«, sagt der kleine Agent mit der Gardine im Nacken und sein Atem keucht, »Herr Ratti, jetzt aber ist's genug … Sie haben mich beleidigt, Sie haben meine Familie beleidigt, ich habe es hingenommen, und meinetwegen will ich auch habsüchtig sein, obwohl ich so viel Habsucht wie auf dem Dorfe noch nirgends anderswo angetroffen habe …«
Marius will ihn hochmütig abstoppen: »Jeder Mensch hängt am Besitz, Sie hingegen hängen bloß am Geld.«
»Gut«, sagt Wetchy, »ich sehe zwar keinen Unterschied, aber ich bin eben städtisch, auch da mögen Sie meinetwegen recht haben … ich nehme alles hin, jedoch gottlos lasse ich mich von Ihnen nicht nennen …«
»Der Gott kommt von da«, Marius bückt sich, nimmt eine Handvoll Erde und zeigt sie dem Wetchy.
»Da sind auch Scherben drin«, sagt Suck, »Marius schneid' dich nicht.«
Wetchy blinzelt das braune Häufchen kurzsichtig an. Dann sagt er merkwürdig ruhig: »Ich weiß es nicht, ich bin ein sehr armer Mensch, ich muß viel darüber nachdenken, woher ich das Brot für den nächsten Tag herbekomme, damit die meinen zu essen haben. Mir wächst das Brot nicht, ich muß es suchen. So ist [es] wohl für jeden in der Stadt. Aber ich habe dabei gelernt, und vielleicht haben manche in der Stadt das gleiche dabei gelernt, denn warum soll ich es allein gelernt haben, da ich doch nur ein armer Mensch bin wie alle anderen, daß man sich nicht an das halten darf, was man in die Hand nehmen und berühren kann, sondern an das, was geschieht, an das, was man nicht in die Hand nehmen kann wie diese Erde und das doch da und sichtbar ist … ja, vielleicht ist das so, weil in der Stadt die meisten Dinge nur Menschenwerk sind, da dient man eher dem Unsichtbaren, das nicht in den Dingen ist, das unsichtbar und trotzdem sichtbar ist … ja, dem dient man …«
»Jawohl, dienen …« unterbrach ihn der Marius, »zu dienen hat das Stadtvolk, wie die Weiber zu dienen, anstatt zu herrschen …«
»Hör' lieber zu«, sagt Suck, »heute kannst du einmal was vom Wetchy lernen.«
»Nein«, sagt der kleine Agent, »der Herr Ratti kann von mir nichts lernen, er ist von einer andern Welt … und wenn ich dienen sage, so meine ich, daß ich für meine Frau und meine Kinder sorgen soll in Ehrbarkeit, damit das Leben nicht auslöscht. Auch das kann der Herr Ratti nicht verstehen, denn er hat weder Weib noch Kind, und er glaubt wohl auch, daß dies mit Dienen und mit dem Unsichtbaren nichts zu tun hat … ja, das glaubt er wohl … ich aber weiß das Gegenteil, ja, das Gegenteil …«
Er stockt, läßt den Kopf sinken und scheint nachzudenken.
»Nun, Wetchy«, ermuntere ich ihn, damit nicht wieder der Marius dazwischen kommt.
»Ja … ich bin kein gelehrter Mensch … ich kann mich nicht gut ausdrücken, aber sehen Sie, Herr Doctor, wenn man ein Kind satt machen kann und wenn es froh ist, dann … ja, dann spürt man eben das Unsichtbare, das von Gott kommt, genau so wie diese Erde da und sogar noch mehr, es ist unsichtbar und doch so groß, größer als das Kind, das satt ist, größer als dieses kurze Leben, größer als der Tod, es ist der Trost, ja, der große Trost … sehen Sie, man braucht dazu nicht sehr fromm sein, und man faltet doch die Hände und dankt unserem Herrgott, daß er es so gemacht hat, und man weiß, daß er da ist … unsichtbar …«
»Bravo, Wetchy«, sagt Suck und packt am Kanapee an, »bist ein braver Mensch.«
Marius mit überlegenem Gesicht hat gerade nur so hingehört. »Das ist Weiberreligion«, sagt er, »die reicht eben nur so weit, um der Brut die Mägen zu füllen, Städterreligion, und dem Bauer stiehlt man dazu das Brot.«
Das war denn doch zu grob, und ich fuhr dazwischen: »Hören Sie mal, Marius, Sie muten einem schon allerhand zu, schließlich komme auch ich aus der Stadt … und meinen Sie, daß es außer dem Bauerntum keinen andern Beruf geben soll? ich möchte wissen, was die Bauern sagten, wenn sie kein Krankenhaus in der Stadt hätten und keinen Arzt. Ihr Wenzel wenigstens wäre oben schon erledigt gewesen.«
Er zuckt die Achseln, sagt aber höflich: »Herr Doctor, ich werde mir doch nicht anmaßen, den ärztlichen Stand herabzusetzen …«
»Daß Krankenpflegen eine weibliche Angelegenheit ist, paßte ganz gut in Ihren Kram.«
Er denkt nach; dann gibt er sich einen Ruck und sagt freimütig: »Herr Doctor, ja … auch das gehört zur Städterreligion, zur Religion der Feigheit … der Mensch soll sterben wollen, nicht gesund gepflegt werden, so verlangt es die Erde, und wenn Sie den Wenzel auf der Erde hätten liegen lassen, so wäre ihm wohler gewesen … was gebrochen ist, soll zugrunde gehen, und was die Erde heilen will, das heilt sie selber …« er geriet wieder in Aufregung, »alles andere ist künstlich, ist Weiberfeigheit, städtische Feigheit, Agentenfeigheit …«
Obschon wissend, daß ich es mit einem Narren zu tun habe, beginne ich mich ernstlich zu ärgern: »Ich möchte Sie einmal wirklich krank sehen, ich wäre neugierig, ob Sie dann auch solchen Unsinn verzapften …«
»Der Mut, Herr Doctor, der Mut zum Tode …«
Doch er kommt nicht weiter. Wetchy war mit allen Zeichen zunehmender Ungeduld dieser Auseinandersetzung gefolgt, er hatte einen Finger erhoben, und es war nicht recht zu erkennen, ob er damit auf den Marius weisen oder wie in der Schule sich zu Worte melden wollte, wahrscheinlich beides, der Finger zittert, und der ganze Wetchy bebt und zittert vor nervöser Kühnheit, da er nun dem Marius die Rede abschneidet: »Nein, nein, nein«, und obwohl es leise und verhalten ist, klingt es wie ein Schreien, »nein, nein, Herr Doctor, lassen Sie ihn … auch das versteht der Herr Ratti nicht … er spricht von Mut, aber in Wirklichkeit hat er Angst, ja, Angst, er fürchtet sich, fürchtet sich vor dem Unsichtbaren, weil das Unsichtbare ihm das Unrecht verbieten würde, und lieber sucht er den Tod, als daß er unsern Herrgott suchte …«
Marius sah ihn fassungslos an, wollte reden, gelangt jedoch nicht dazu.
»Ja, Herr Ratti, Sie sprechen vom Tod … ich will Ihnen was sagen … für unsern Herrgott kann man sterben, ja, das kann man und muß man, wenn's darauf ankommt, aber sonst kann man ihm nur im Leben dienen, dafür hat er uns das Leben geschenkt … Herr Ratti, Sie beschimpfen uns als feige, weil wir an diesem Leben hängen, an diesem bißchen schweren Leben, von dem wir nicht viel wissen und das sicher noch viel schwerer ist als das Leben Ihrer Bauern … doch gerade weil es so klein und armselig ist, weil es nichts ist als das Leben eines kleinen schäbigen Agenten, gerade deswegen wissen wir, wir Leute aus der Stadt, daß wir es nicht verschleudern dürfen, ja, wir müssen damit behutsam umgehen … wir wollen nicht für die Erde sterben …«
»Das sage ich ja«, ruft der Marius dazwischen.
Über Wetchys Gesicht kam ein Lächeln, beinahe sein verbindliches Agentenlächeln: »Für uns kleine Leute hat das Leben einen hohen Preis … einen sehr hohen … ja, und … und der ist unsichtbar …« er hielt inne, »… Herr Doctor, ich kann das nicht ausdrücken … der Preis ist im Leben und doch schon auch nach dem Tod, so groß ist er … ich kann das nicht ausdrücken …«
»Weil Sie nichts zu sagen haben, wer was zu sagen hat, kann's auch ausdrücken«, erklärte der Marius.
»Das ganze Leben ist in dem Preis und der ganze Tod, das meine ich. Und dort ist auch der Herrgott.«
Ich verstehe ihn: »Sie meinen das Unendliche, Wetchy.«
»Ja …«, er kapiert nicht sofort, »… das Unendliche … die Kinder satt bekommen, und über den Tod hinaus … das wird schon das Unendliche sein …« Und dann sagt er: »Das Ewige in der Seele.«
Der Marius richtet sich majestätisch in die Höhe, und mit einer großen Geste deutet er zum Kuppron hinauf: »Dort … dort ist das Unendliche, dort, wo das Meer zum Himmel dringt, wo das Erz des Berges ausstrahlt, wo sich die Elemente vereinigen, keine Pflanze, kein Tier mehr wohnt, dort ist das Unendliche …«
»Was ist dort los?« fragt Suck, »was schaut ihr alle auf die Alm?« Und er blickt gleichfalls über die Fichtenwipfel hin in die hellblau ruhende Ewigkeit, die regungslos die lichten Sonnenmatten und die ruhigen Felsen da oben umschwimmt.
»Ja«, schreit der Marius, »dort thront der Berg, aus der Erde ist er entstiegen, das Blut des Opfers hat er angenommen, und seine Arme breitet er wie einen Regenbogen vom Himmel zum Meer, und das Meer schwebt über seinen Gipfel und gleitet wieder hinab, ja, so haucht er das Blut aus, das er getrunken hat, so versöhnt und so rein und so kühl … das ist das Unendliche …«, er breitet die Arme aus, als wäre er selber der Regenbogen, »dort ist es …«
»Dort … ja«, sagt der Agent und nickt, »aber ohne Seele ist dort auch nichts.«
Marius wendet sich rasch um, läßt die Arme sinken: »Sie können dort überhaupt nichts sehen; das Stadtvolk wohnt in seinen feigen Höhlen, es sieht die Sonne nicht, die zur Erde will, und nicht die Erde, die zur Sonne emporsteigt … es weiß das Unendliche nicht einmal auszusprechen und sucht es in der Brut, die es zeugt.«
Da sagt Wetchy: »Nein, Herr Ratti, in der unsichtbaren Seele … und … ja, und vor der haben Sie Angst.«
»Hm«, macht Suck und lacht leise auf.
Marius lugt zu mir, als ob er von mir Einverständnis erwarte und eine Hilfe gegen so viel Stumpfheit und Dummheit. Ich aber lege dem kleinen Agenten die Hand auf die Schulter: feierlich blickt der Marius wieder zum Berg empor.
Der Chauffeur tutet ungeduldig, und ich sage: »Ich meine, daß jetzt alles aufgeladen ist.«
Wetchy ist erschöpft; er macht wieder sein hilflos betretenes Gesicht, und seine Augen suchen herum: »Ja«, sagt er schließlich, »alles aufgeladen, aber im Haus …«
Suck weckt den Marius aus der Feierlichkeit: »Wenn du jetzt das Haus versiegeln wirst … versöhnt das auch den Berg?«
»Das kann auch der Gemeindediener tun«, erwidert der Marius und begibt sich zur Gartentüre, neben der der Polizist lehnt und sich mit dem Chauffeur unterhält. Und hierauf geht er grußlos von dannen, beschwingten stolzen Schrittes und ein wenig latschend.
»Schön war's doch, was er da vom Berg erzählt hat«, meint Suck, »nur anhören kann man's nicht … vorwärts, Wetchy, was ist noch drinnen?« Und er treibt Wetchy vor sich her ins Haus hinein.
Frau Wetchy erscheint mit einem großen Korb voller Kram, und nachdem unter vielem Hin und Her und unter zunehmender Aufregung alles verstaut ist, und nachdem die Stricke über den Wagen geworfen und durch die Seitenringe gezogen sind, so daß nun der peinliche und ein wenig ins Ewige weisende Augenblick des Abschiednehmens heranrückt, der Augenblick, in dem alle Beteiligten ein Stückchen von ihrem eigenen Sterben spüren, da hisse ich Frau Wetchy und die beiden Kinder rasch auf den Chauffeursitz hinauf, während Wetchy, der nassen Auges vielerlei durcheinanderstammelt von dem Helfer auf das hochschwebende Kanapee emporgezogen und ihm von dem sich entgegenstemmenden Suck der Rückzug abgeschnitten wird, und ehe er sich noch da oben ängstlich zurechtfinden kann, hat das Auto angeruckt, und Wetchy, der die Hand zum Winken heben will, muß sich anklammern. Dann sind sie fort. Suck und ich schauen uns an. Auch unsere Augen sind ein wenig feucht.
So blieb das Wetter.
Und am zweiten Tag nach Wetchys Abreise – ich wollte zur Mittagszeit pünktlich in der Unterdorf-Ordination sein und war eben im Begriff, mich zu einem raschen Imbiß mit Karoline an den Tisch zu setzen, auf dem uns Rosas Gedeck fehlte – stürzte Agathe atemlos zur Türe hinein:
»Herr Doctor, kommen Sie … rasch …«
Ich bin gewohnt, in dringlicher Weise geholt zu werden, also erschrak ich nicht allzusehr: »Na, Agathe, erst schöpf einmal Atem … in deinem Zustand rennt man nicht so … was ist denn passiert?«
Sie schüttelt den Kopf: »Nein, nein, Herr Doctor, kommen Sie …«
Am Ärmel zog sie mich hinaus.
»Schön, Agathe, aber ich muß doch wenigstens meine Instrumente mitnehmen … wer ist denn krank?«
»Mutter Gisson …«
Jetzt erschrak ich: »Mein Gott … hat sie dich geschickt?«
»Nein … kommen Sie, Herr Doctor …«
»Ist sie zusammengebrochen? ist sie ohnmächtig?«
Ich dachte an eine Herzschwäche, an einen Schlaganfall, und von Agathe mich losreißend, lief ich hinauf, um meine Tasche mit dem Notwendigsten zu holen. »Ich bin bei Mutter Gisson«, rief ich in die Küche, als ich wieder unten war. »Komm, Agathe, gehen wir.«
Doch wie wir beim Gartenausgang sind, und ich mich nach links zum Dorfe wenden will, bleibt sie stehen: »Sie ist nicht zu Hause …«
»Wo ist sie denn?«
Zu meiner Verwunderung denkt sie einen Augenblick nach: »Beim Kalten Stein.«
»So? … dort hast du sie liegen lassen?«
»Nein.«
Es wurde rätselhaft: »Hat's dir jemand gesagt, daß sie beim Kalten Stein liegt?«
In ihren Augen steht entsetzensvolle Angst: »Nein …«
Bei Schwangeren gibt es manchmal ein leichtes Irresein: »Sag mal, Agathe, von wo kommst du eigentlich?«
Sie weist zum Dorf hin: »Sie ist nicht zu Hause … in ihrem Fenster steht ein Leuchter mit einer Kerze …«
»Und?«
»Die Wohnung ist versperrt.«
»Agathe, ich meine, du sollst dich jetzt erst ein bißchen ausruhen … und ich will inzwischen zu Mutter Gisson hinüberschauen, auf jeden Fall, und dann bringe ich dich heim … ich muß ohnehin in die Ordination hinunter.«
Sie hatte mich wieder beim Rockärmel gepackt, nun aber ließ sie los und sagt mit eigentümlich erwachsener Festigkeit: »Wenn Sie nicht mitkommen, geh ich allein.«
»Aber, Kind, du weißt doch nicht einmal, daß sie beim Kalten Stein ist, wenn es dir niemand gesagt hat … und warum soll sie denn bei dem schönen Wetter zu Hause sitzen; sie wird schon wieder heimkommen.«
»Nein, nein, Herr Doctor … ich weiß es … ich hab's gespürt und bin herauf gerannt … und im Fenster steht der Leuchter …«
Ich hatte ihre Hand genommen: »Wenn man ein Kind kriegt, dann hat man manchmal solche Gedanken, Agathe … das ist wie ein schlechter Traum …«
Ihr Schuldmädelgesicht wird nachdenklich, doch dann sagt sie mit auffallender Bestimmtheit: »Das kann kein Traum sein …«
»Na, soll ich mich nicht trotzdem erst bei Mutter Gisson vergewissern …?«
Da wird sie sonderbar erwachsen: »Wenn ich bloß geträumt habe, dann sitzt sie gesund zu Hause, dann wär's schade um den Weg … wenn ich aber nicht geträumt habe … Herr Doctor, kommen Sie …«
Vielleicht ist es ihr Ernst; jedenfalls packt es mich nun gleichfalls, aber ich will es sie nicht merken lassen: »Gut«, sage ich, »höchstens sind wir einmal miteinander spazieren gegangen.«
Da greift sie zuckend nach meiner Hand: »Herr Doctor, jetzt … jetzt spür' ich's wieder …«
Und sie läßt meine Hand nicht mehr los, sei es aus Angst, sei es, weil sie meint, mich führen zu müssen. Hand in Hand gehen wir, nein, laufen wir beinahe, vorbei an Wetchys Haus, das geschlossen ist und stumm, laufen durch den Fichtenwald, Hand in Hand wie zwei Kinder, ich alter graubärtiger Doctor und die junge Schwangere, und der Wald ist sommerlich und dennoch winterlich duftlos, klarer der Himmel, der in ihn hereinschaut, härter das Gitterwerk, unter dem wir laufen, ein Mittagshimmel zu Mitternacht, und der Wald, stumm und geschlossen, wächst ihm nicht mehr entgegen, es wächst nichts mehr und keine Wurzel dehnt sich knackend. Wir aber laufen durch die Stille. Und kommen zur Lichtung oberhalb der beiden Täler, die jetzt wie zwei Seen sind, in denen der Sommer sich noch einmal spiegelt. Und hier bleiben wir stehen, denn in ihrer Hand gab es einen kleinen scharfen Ruck, als wäre es der Ausschlag einer Wünschelrute.
Dann zieht sie mich weiter.
»Da geht's doch nicht zum Kalten Stein, Agathe.«
»Nein, sie ist jetzt dort.«
Es ist einer jener schmalen Pfade, die das Weidevieh sich durch den Wald bahnt und die dann von den Holzfällern benützt und ausgetreten werden, und Agathe, halbschräg nach rückwärts gewandt, zieht mich hinter sich her, einen kleinen Jungen, den sie nachschleppt. Der Pfad führt den waldigen Steilhang entlang, die Bäume stehen schütterer mit viel Unterholz dazwischen, das sich oftmals über den Weg drängt, hie und da geht es über eine kahlere Böschung, die wie ein kleines Kap in den luftigen Talraum vorgeschoben ist, und von einer dieser Stellen überblickt man die Kalte-Stein-Wiese mit ihren bleichenden Lärchen und den gelb gewordenen Birken, hört ihren sanften hellen Engelssang inmitten der ungefügeren Musik dunklerer Tannenkulissen und abwärtsströmender Bergwellen. Einem Zymbelschlag gleich, ein einziger Punkt, hängt ein Falke darüber und verschwindet.
»Willst du zum Heidenschacht?«
Sie zieht mich weiter: »Ja … vielleicht.«
Wir kommen beim Untern Heidenschacht aus dem Walde. Es ist eine kleine morastige Lichtung am Ausgang eines breiten Felseinschnittes; das Vieh hat den Grund zu tiefen Schollen und Gruben zertreten, auf den Schollenkuppeln stehen Grasbüschel, herbstmüde und schon stumpf, und am Grunde der tieflochigen Spuren blinkt das Wasser; ein paar Klöppel sind über den Fleck gelegt, um ihn passierbar zu machen, und manchmal tropft ein Tropfen in die feuchte Stille. Der Bach, der dies alles so bewässert, kommt aus dem Felseinschnitt, er überrieselt hier den Weg, der vom Kalten Stein bis zum Obern Heidenschacht hinaufführt, und vor uns, am jenseitigen Bachufer, liegt im Gebüsch versteckt und verschüttet der Stolleneingang des Untern Heiden.
Wir haben den Morast überquert, und auf dem Wege angelangt wendet sich Agathe bachaufwärts.
»Also doch zum Obern Heiden?«
Sie antwortet nicht, sie beschleunigt bloß, so atemlos sie ist, ihren Schritt; die Hand in der meinen ist feucht, ich spüre den hämmernden Puls, aber auch ihre Angst spüre ich, sie strömt durch die Hand in mich ein, es ist, als kreiste ein gemeinsamer Angststrom in uns beiden, von einem zum andern und wieder zurück, und als verböte er, unsere Hände zu lösen. Und als sei es ihr Gedanke, fällt mir nun blitzartig ein, daß es am Obern Heiden gewesen war, wo man den Jäger Gisson erschossen aufgefunden hatte.
Nun sind wir in dem Felseneinschnitt. Unirdisch rein, gleichsam unmittelbar aus dem Unendlichen kommend, fließt das Bächlein zu unserer Linken dem Weg entgegen; die steinernen Hänge auf beiden Seiten sind mit Tannen besetzt, und ein wenig höher, zwischen den Geröllhalden, die oftmals bis zum Weg herunterreichen, wächst bereits das Latschenholz in den Wänden, die immer näher zusammentreten, so nahe, daß schließlich starr und winterlich die Enge mit moosigen Schatten angefüllt ist, schwärzlich die Tannen im Kühlen stehen, und das Goldene hoch oben flüssig auf dem Dunkel schwimmt.
Zum Obern Heidenschacht.
Und dann öffnet sich die Klamm zu einem gewölbten Riesenkessel; Schale, schallend von Sonnenstille, angefüllt bis zum Rand, nein, überfließend mit goldener Leichtheit, verziert ringsum mit einem Kranz von Bäumen, und drüben an der Sonnseite in dem Föhrenhain sind sogar ein paar Lärchen eingesprengt, und ihre grauen Stämme glimmen hellmatt wie zinnerne Leuchter.
Agathe drückt meine Hand: »Still«, sagt sie und bleibt lauschend stehen.
Der Obere Heidenschacht.
Drüben im Föhrenhain ist sein Eingang, eine natürliche Höhle, von der man übrigens nicht einmal weiß, ob sie wirklich je eine bergmännische Fortsetzung gehabt hat, oder ob ihr diese nur von der Phantasie angedichtet worden ist, weil es ihr und dem Kuppron angemessen ist, daß in dieser wildesten und großartigsten Mulde ihm von den Heiden das Erz entrissen worden sei. So oder so, es ist ein gemiedener, ein unheimlicher Ort, so sanft der Hain sich auch den Hang hinaufzieht, so hell auch die Bachquelle neben dem Höhleneingang entspringt, und daß der Jäger Gisson dort gefallen ist, hat den Ort nicht heimlicher gemacht.
Wir stehen und lauschen hinüber.
In der Mitte der Mulde bildet der Bach einen kleinen Teich; steinern und wimpernlos schaut er mit der seelenlosen Glätte zu den Felszacken und zur Bläue hinauf und trinkt sie in sich ein.
Es ist so still, daß man jeden Laut, jeden Seufzer in der Runde vernehmen müßte, doch ich höre nichts, nur das gleitende Murmeln des Wassers, das über die Steine des Teichausgangs fällt.
Gleichsam einen geweihten Saal betretend, gehen wir langsam und beinahe auf Fußspitzen durch die Mulde, an den Händen uns haltend, die junge Schwangere und ich alter Mann, und wie wir in der Mitte und bei dem Teiche sind, da ist es mir, als müßten wir untertauchen in dem Spiegel des Himmels, unsere Hitze wegzuspülen und unsern Sommer, ehe wir uns weiter wagen dürften. Und da die Sonne auf den Steinen spielt, spielend das Unendliche auf der irdischen Leier, da ist es wie ein Singen, und es ist wie ein Befehl an unsere Angst, daß sie mitsinge, weil sie, ich spüre es in Agathes Hand, zu einer seltsam beschwingten und fast fröhlichen Angst geworden ist, angesichts des Unsichtbaren, dem wir zuschreiten, vorsichtig noch, obwohl wir wissen, daß wir uns nicht verbergen können.
Und doch war es ein Singen.
Denn es ist Mutter Gisson.
Sie steht unter den Föhren, oder richtiger sie schwebt dort, wandelnd und dennoch ruhend zwischen den Stämmen, und es war würdig und milde zugleich, eine fließende Starrheit, behütet von den breiten durchsichtigen Kronen der Föhren, begrüßt von den hellen Zweigen der Lärchen dazwischen, und milde und starr und fließend ist das Licht, das durch die lichten Kronen rieselt und den lichten Hain erfüllt. Und starr und milde und würdig zugleich ist das Sprechen Mutter Gissons und wie ein Singen. Wir scheuen uns, näherzutreten, wir stehen Hand in Hand, allein sie kommt uns entgegen, uns anlächelnd, dennoch uns nicht beachtend, sondern mit Anderem, Fernerem redend:
– »Ja, Irmgard, dein Kranz ist so leicht, daß du ihn nimmer abzunehmen brauchst, weiß und grün singt er leichter als ein Kuß …«
Dann hält sie inne, als horchte sie.
– »Klage, oh, klage nicht, liebes Herz, klage nicht ob des Unerfüllten, schäme dich nicht, verstecke [dich] nicht, immer warst du es selber, nichts an dir ist vernichtet, kein Bann bannt dich, auch du bist erfüllt …
– Irmgard,
– Irmgard, hörst du, was die Vögel zu dir sprechen? sie flattern hinüber und herüber, und ihre Grenze ist leicht. Hörst du die Blumen? sie wachsen hinüber und herüber, und sie haben keine Grenze …
– Irmgard, Seele, weißt du's noch? da du auf meinem Schoße saßest und noch nicht die Sprache der Menschen verstandest, da hörtest du die Sprache der Katze und verstandest sie, und verstandest die Sprache des Rehs, das zu uns kam, und noch früher sprachst du die Sprache der Gräser und Halme und der Wellen. Hörst du sie wieder, die Sprachen?
– Wir werden zu zweit sein, Irmgard, und wir werden's nicht merken, namenlos du, namenlos ich, doch namenlos werden wir's wissen.
Irmgard, Irmgard …«
Sie steht nun bei den letzten Bäumen am Saume des Hains, knapp an der Böschung, an deren Fuß wir warten, und ich sehe, daß sie bloßfüßig ist.
Dann sagt sie und hebt den Arm mit flachgedrehter Hand, so daß Luft und Himmel und der ganze Sonnentag darauf ruhen:
»– Das Licht kommt von hüben und kommt von herüben; nun wird es sich bald nicht mehr vermengen … und ohne Schatten sind die Blütenstrahlen, die dich tragen, Irmgard …
– Klage nicht, klage nicht, du tust mir weh, wenn du klagst, Irmgard, und ich finde dich nicht … irre nicht umher und friere nicht … zweisam sind wir …«
Wieder horcht sie. Und dann lächelnd: »Ja, Kind.«
Sie verstummt.
Ich würde nicht zu sprechen wagen, doch Agathe sagt gleichsam selbstverständlich: »Mutter.«
Sie nickt uns zu, und ein wenig fühle ich mich zu den seligen Geistern gezählt, mit denen sie Zwiesprache hielt, da sie sagt: »Ja, auch ihr seid da, so gehört sich's … kommt nur mit.«
Wir folgen ihr hinauf zur Quelle beim Heidenschacht. Und wie sie vor uns hergeht, von Föhrenstamm zu Föhrenstamm, lautlos auf nackten Sohlen, und wie sie sich an jedem der Stämme ruhend stützt und anhält, da sehe ich, obwohl es einem huschenden Schweben gleicht, daß sie sehr schwach ist.
Indes, sie achtet nicht der Müdigkeit. Und vor der Eingangsgrotte des Stollens, dort, wo der Föhrenhain steiler anzusteigen beginnt und das Gefelse gleich einem mäßig großen Steinbruch aus dem Erdreich dringt, da lehnt sie bloß an dem Stamm, der in langgezogener S-Form neben der Quelle wächst und seine Wurzeln in das steingrüne Wasserbecken taucht, da lehnt sie und wartet, bis wir herangekommen sind. Von der Quelle aufwärts ist der Boden dichter mit Sträuchern besiedelt, Meisterwurz und Tollkirsche wachsen hier, und über den Steinbruchrand oben neigt sich ein schon kahl gewordener Ebereschenzweig, auf dem noch die roten Beeren sitzen. Jenseits des Lebens, jenseits des Todes ist der späte Herbst, Wolke aus Kristall, verwittert, wo sie die Erde berührt. Und Mutter Gisson lächelt uns zu.
»Willst mich wohl mahnen, Agathe, und kommst Kräuter suchen?«
Agathe weiß nicht, was antworten. Nun ist sie hier und müde; sie steht da hohen Leibes und legt die Hände darauf. Schließlich sagt sie still: »Mutter, zu Euch sind wir gelaufen … der Herr Doctor und ich …«
Da zankt sie mit uns: »Wie seht ihr denn aus … was soll denn dein Kind von dir denken, Agathe …?«
Das ist richtig. Ich bin gleichfalls erschöpft. Wie zwei Schulkinder, die sich vor dem Gewitter gefürchtet haben und heimgelaufen sind, so stehen wir da aufgepflanzt unter dem mißbilligend freundlichen Auge Mutter Gissons.
»Sollst trotzdem noch deine Kräuter kriegen … es gibt noch welche … als Angebinde für das Kind … hast du Körnlein mitgebracht?«
Über Agathens Gesicht huscht eine Kinderschlauheit, und sie kramt aus ihrer Tasche eine Handvoll Korn, die sie Mutter Gisson entgegenhält.
»Gut«, sagt diese, »aber nicht in diesem Zustand, das ist ja eine Schande … tunk' erst deine Hände ins Wasser und dein Gesicht auch.«
Agathe kniet zum Quell hin und taucht die Hände ein, wäscht ihr Gesicht, und als ob dies nicht genügte, beugt Mutter Gisson sich zu ihr hinunter und das Wasser schöpfend, läßt sie es Agathen über Haar und Nacken rieseln.
»Und du?« fragt sie mich.
Aber weil ich eben ein alter Doctor bin, ist es stärker als ich, und ich sage: »Mutter, strengt Euch das Bücken nicht zu sehr an?«
Da lacht sie: »Kannst es nicht lassen? auch heute nicht? … komm lieber her und tunk' dich ein …«
Sie richtet sich auf und wird wieder ernst: »Irmgard«, ruft sie halblaut, »Irmgard, bist du hier, liebes Kind? hast du das Wasser getrunken …?«
Auch ich warte.
Sofort wird es mir verwiesen: »Scher dich nicht um die Irmgard …«
Gehorsam gehe ich zur Quelle und tue wie mir geheißen. Das Wasser ist eiskalt, und während ich meine Pulse lange im verwandelnd Dahinfließenden kühle und meine Schläfen benetzte und in das unablässig sich Gebärende des Quells schaue, da ist mir, als gebe es ein Fließen und Aber-Fließen zwischen dem Drüben und dem Herüben, so unablässig, daß keine Grenze mehr besteht und daß dies Fließen auch nur noch mein Haupt berühren müsse, um mich zu öffnen, einfließend in mein Herz, meine Seele umfließend wie ein Silberband, eindringend in ihre tiefste unerreichbarste Tiefe, die wartet und über jede Grenze sich hinaussehnt. Unten am Quellengrunde liegt stark und gewunden die Wurzel der Föhre, der Quellenrand ist mit tränenfeuchtem Gras bewimpert und moosig, und ich höre, wie Mutter Gisson »Trink'« sagt: da neige ich mich bis zu dem Spiegel und tue auch dies.
Nachher sagt sie zu mir: »Siehst du … hier hat er gelegen, hier an diesem Platz … hierher hat er sich noch geschleppt, um zu trinken … es ist wie heute, und es ist wie niemals, und es ist wie ewig …«
Und nach einer langen Pause, sagt sie so leise, daß kaum ich es hören kann, und es ist wie ein Vermächtnis für mich: »Der Mittis hat's getan …«
Die bloßen Füße im Waldboden, lehnt sie an dem Föhrenstamm; sie hat den einen Arm darum geschlungen, und wie sie meine Verwirrung sieht, geht ein Lächeln über ihre Runzeln, ihr gewohntes, leicht belustigtes Lächeln, so daß man meinen möchte, sie brauche bloß heimzugehen in ihre Küche, damit alles so bliebe, wie es gewesen war und sie morgen den Mittisleuten wieder Kräutertee und Zucker schicken würde. Und sie lächelt: »Behalt's für dich.«
»Mutter, Ihr habt aber …«
Da streicht sie mir sanft über meine bärtige Wange, die noch feucht ist vom Quellwasser, und sagt: »Wer nicht für's Leben sorgt, lebt selber nicht und der stirbt auch nicht … dazu ist uns das Leben geschenkt, das weißt du so gut wie ich.«
Ich sehe den Mittisvater vor mir, dem sie das Leben geschenkt hat und der darauf rechnet, daß der Marius das Erschießen der Jäger zur Pflicht erheben werde, aber die Stille in den Händen Mutter Gissons ist wie eine Heimkehr, größer als der Mittis, größer als jedes Leben, es füllt die Stille aufsteigend und ruhend die Körbe der Baumkronen, und sie erfüllt die Welt.
»Nun scher dich bald fort, Herr Doctor … die Agathe ist schon ungeduldig … und die Irmgard auch … zum Kräutersuchen können wir kein Mannsbild brauchen …«
»Ja, Irmgard«, nickt sie, »von nun ab wird die Agathe an unserer Statt die Kräuter pflücken, und unser gedenkend wird sie sie auch finden.«
Da ist es wie ein Seufzen, das durch die Stille weht.
Und Agathe wischt die nassen Hände an der Schürze trocken und sagt: »Ja, Mutter.« Auch sie ist jetzt bloßfüßig.
Ich aber gehe. Ich gehe langsam zum Teich hinunter, als wäre dies der würdigste Ort des Wartens. Ich durchquere das Latschenholz, das inselgleich in seinem Umkreis angesiedelt ist, und dann stehe ich an seinem steinigen Ufer.
Kein Laut ist zu hören, kein Duft zu spüren; ich schmecke die Luft, sie ist wie destilliert. Nur das Sichtbare ist vorhanden, erfüllt von der Stille, körperlos, als sei es das Weltall selber. Wie die Wände eines ungeheueren hohlen Baumes ragen die Felsen um den Kessel, eines Baumes, der keine Außenseite mehr hat, und wie Wurzelsaft dunkel ruht der Teich inmitten, tiefer noch dringend sein Wurzelgehäuse in noch tiefere Stille, tiefer noch reichend bis zu dem Mittelpunkt der Welt. So ruht er inmitten. Das Echo der Wände singt Schweigen, und Schweigen singt des Echos Quell aus der Tiefe. So träumt das Sterben, und in seinen ruhenden Wellen spiegeln sich die mittäglichen Sterne, die über dem Brunnenrand blinken –, mittäglich die Nacht, auf deren Grund der Sterbliche um den Kristall wandelt. Traum wohnt in Traum, Unendliches in Unendlichem, Unsichtbares in Unsichtbarem, doch das Auge des Sees und das Auge des Himmels spiegeln einander. All dies sehe ich, sehe es ohne Angst, da ich langsam die Grenze des Sees entlang gehe, und doch ist meine Angst noch vorhanden, jene beinahe heitere Angst, die auch den lichtesten Traum noch erfüllt, denn sie stammt aus dem unerreichbar Unendlichen, sie ist die Angst des Unerweckten und der Unerweckbarkeit in der Zeit, und sie glänzt in des Gewässers Spiegel neben mir, der das Blütenlicht der oberen Bläue in seiner flüssig silbernen Schwärze trägt und die Bilder der ragenden Felsenrinden zu immer tieferen Tiefen zieht, der das Gewicht der Luft trägt, in der ich gehe, und der auch mich zieht, zu sich zieht, in sich zieht, daß ich über ihn schreite, einzusinken in das Sterben und in die spiegelnde Verwandlung des Lebens. Wo ist das Bild, wo das Urbild? Grenze, die sich selber spiegelt, so tauchen die Steine des Ufers in das Nochmalige ein und nochmals auf aus dem Feuchten, und in seiner Helle stehen, flimmernden Sternschwärmen gleich, die Fische, wandern ruhend, kaum sich bewegend, im Kreise der Milchstraße, wandern im Kreise über die kristallene Schlange der unsichtbar schwarzen Tiefe. Wandle ich um meinen Traum? oh, wir Sterblichen, immer umwandeln wir den Schacht unserer Träume, immer umwandeln wir ihren Abgrund, den aufwärtsstrebenden, den abwärtsstürzenden, doch erst im Tode nimmt er uns auf, stürzend und schwebend die Seele in ihr Spiegelbild, Echo der Seele, dennoch sie selber, und alles Gleichnis wird Wahrheit. Und langsam schwingt des Baumes Rindenschale um mich: siehe, der Himmel ist seine Krone, und kristallen unsichtbar streben seine Äste, winden und neigen sich, ein Gitterwerk des Wissens, stummes Wissen um das Sein, das so groß ist, daß auch das Künftige zur Erinnerung wird, grenzenloses Wissen, da die Unendlichkeiten sich zusammenfügen wie Tag und Nacht, einander gebärend, wiederhallend das eine vom anderen, stummes Wissen voller Blütenaugen, und das sind die Sterne. Aufwärtssschwebend, abwärtsgleitend wandle ich am Rande des Teichs, am Rande des Himmels, des geöffneten Bechers, in dem das Wissen ist, wandle ich am Rande des Seins, und wohl noch schreitend, dennoch kaum mehr vorwärtsstrebend, kaum mehr meinen Körper fühlend, schier nur mehr mein Auge, das lebt und erfaßt, werde ich sanft ruhend vorwärts getragen in das Bild, das langsam kreisend und starr mir entgegengleitet, und ich flüchte nicht in meiner Angst, vielmehr ist sie es, die hold mich trägt durch das Kreisen des gewaltigen Gehäuses, in dem nur der Weiher ruht, unsichtbar in seiner Tiefe die Angst, ruhend die Zeit in ihm, die mir entgegen kreist: so kehre ich heim zu den Föhren und dem Quell, kehren Föhren und Quell zu mir zurück, Heimat, in die ich zurückgelange, die in mich wieder gelangt, und während die Landschaft ihre Bewegung sachte nun einstellt und meine Füße den moosig kiesigen Waldboden wieder spüren, erblicke ich die Mutter, ruhend neben dem Quell, und sie erblickt mich und nickt mir zu. Agathe aber, Kräuter im Schoße, kauert zu ihren Füßen.
Und Mutter Gisson sagt:
»Komm, hock' dich her zu uns, und träum' nicht von der Angst.«
Sie hat das Haupt an den Baumstamm gelegt, runzlig ist ihr Antlitz, runzlig seine Rinde, und beide fast von der gleichen Farbe. Ich träume nicht. In dem Baum und in dem Gesicht ist das gleiche Leben, unvergänglich, grenzenlos. Sachte hat die Zeit wieder ihren Lauf begonnen, ganz langsam, als entströme sie in einem leichten steten Hauch dem Eingang des Heidenstollens, auf dem der zerrissene Schatten der Föhrenkrone hingeweht ist, schattenloser Schatten.
Ich sitze neben ihr auf einem der herabgestürzten Steinblöcke; in seine Runzeln wächst zart und hart das grüne Moos. Stiller noch ist die Stille.
Und Agathe sagt: »Ich bin daheim.«
Baumkrone verflicht sich mit Baumkrone den ganzen Hain hinauf, und in ihnen verflochten ist die Sonne, ist die Stille.
Agathe ordnet die Kräuter in ihrem Schoß.
Und wieder höre ich das Seufzen der Stille.
Mutter Gissons Hände ruhen auf der Erde, über die die braunen Föhrennadeln wie alte brüchige Sonnenstrahlen gebreitet sind; und sie sagt: »Es ist nur Tee, Agathe, und Schnaps und manchmal Medizin, und doch ist es mehr, und du mußt es behüten.«
»Mutter, ich werde es finden und behüten und immer Euer gedenken.«
Da klagt das Schweigen, und ich vernehme es: »Mutter, oh, Mutter.«
»Ja, Irmgard«, antwortet Mutter Gisson.
»Oh, Mutter, sie hat das Kind, und für das Kind wird sie die Kräuter pflücken.«
»Du sollst nicht klagen, Irmgard, Seele. War es nicht auch für dich größer als du selbst?«
Das Licht fällt wie ein Schleier durch die Hirtenkronen der Bäume und sagt: »Ich weiß es nicht mehr.«
»Irmgard«, sagt Mutter Gisson, »du bist da.«
Und verwoben in die Stille, die in den Ästen hängt, hinanreichend bis in das Blau, ist die Güte; und das Schweigen sagt: »Ja, Mutter.« Nun ist es Irmgards Stimme.
Sie lächelt: »Nun seid ihr alle da, nur der Mathias fehlt, aber er ist schon auf dem Weg … wir warten ja auf ihn.«
Sie schließt die Augen: »Wie eine Rose ist der Tag, wie eine, die immer weiter aufblüht und zum Himmel wird.«
»Mutter«, sagt Agathe, »das Kind in mir ist wie ein singender Himmel, und sein Schlaf ist voll blauer Sterne.«
Und das Schweigen spricht: »Wie ein Genesen seiner selbst ist alles Sein geworden, noch bin ich hier und doch verstreut in fernste Fernen und im Nirgendwo, und immer ich, und niemals ich.«
»Ja«, sagt Mutter Gisson, »so ist es wohl, so wird es wohl werden …«
Schatten um Schatten hauchen die Kronen des Hains, zarter und zarter werdend, auf sich selbst, auf Stämme und Boden, aber der Schatten des Weltenbaums ist das Licht.
Und sie sagt nochmals: »Ja, Irmgard …«
Sie schweigt, als überlegte sie's. Und dann:
»In jedes Menschen Tiefe ist es Nacht und ist so warm wie Erde; dort ist er Mutter seiner selbst, und kehrt er heim in seinen tiefsten Schoß, so ist er wie ein Kind des eigenen Seins und Lebens.«
Sie schweigt, und mein Leben ist wie eine dunkle Stille, eingebettet zwischen dem Glanz der Tiefe und dem Glanz der Höhe, Schatten, der sich selbst beschattet.
Und zweifelnd denke ich: Kann je ein Mann in seines Traumes Schacht, sich selbst zum Kind', sich selbst zur Mutter werden? ist nicht das Wissen ihm der tiefste Grund, aus dem er herkommt in Unendlichkeiten, zu dem er wandert durch Unendlichkeiten, als sei es Tag gewesen vor dem nächtlich Weg, ein Tag, der nach Unendlichkeiten einst ihn neu erwartet?
Nichts gibt mir Antwort. Der Felseneingang, mit sich selbst beschäftigt, glüht schweigend sonnenwärts und trinkt das Schweigen, das herniederstrahlt, als gäbe es für Felsen keine Nacht. Doch plötzlich sagt das Schweigen leise, und es ist Irmgards Stimme: »Weder Tag, noch Nacht, weder Wissen, noch Nichtwissen, weder Vergessen, noch Erinnerung. Beides.«
Mutter Gisson jedoch blickt mich jetzt fast belustigt an: »Du siehst Unendliches nur in der Zeit, ein jeder Mann ist so, kriegt's mit der Angst, wenn ihm sein Traum beschert, daß auch die Zeit in sich zu ruh'n vermag. Ist's nicht so, Herr Doctor? sag' nein, wenn's nicht so ist …«
»Ja, Mutter«, sag' ich, und ich denke, daß jeder Weg auf Erden unausschreitbar ist, und daß erst in unendlich fernen Ewigkeiten uns Unerreichbares gleich einem Lächeln grüßt.
Und sanft singend wie Gärten in Frühlingsnächten stimmt mir das Schweigen bei: »Jungfräulich ist das Unendliche.«
Sie aber sagt:
»Die Angst des Mannes ist die Dunkelheit, er scheut die Schlange, die am Grunde ruht, und alle Sehnsucht gilt dem fernen Licht, dem unsichtbaren, immer nur erahnten, das bloß im Bild und Aberbild den Schein der Helle hinterläßt, so groß sein Glanz, daß keines Menschen Auge es je erspähen wird, kein künftiges Geschlecht …«
Ist es noch sie, die spricht? ist es der Baum, der Fels? sie hält den Kopf gesenkt, und ihre Stimme wird zum lichten Raunen, wie das von Zweigen, die das Morgenrot bereift, wie das des Felsens, den die Sonne streift, es ist, als hielt' die Grotte Zwiesprach mit den Menschen. Und sie fährt fort:
»Doch bildlos wäre deine Welt, wär's nicht ein Ruhen. Und all dein Schreiten war' ein leeres Hasten vom Unerfaßten zu dem Unerfaßten, wär's nicht ein Ruhen. Du schaust die Zeit, ihr Quell ist zeitenferne, und zeitenfern' kehrt sie zum Quell zurück, ein Himmelsschacht, in dessen tiefster Erde, dir selber Quell und Mündung, deine Seele ist, und einer Mutter gleich, die ihrem Kinde ein Bild ums andere aufschlägt und ihm zeigt, so ahnt sie weisend dir das ferne Licht, dein Wissen, das Bild um Bild aus deinem Dunkel steigt. Denn nur im Bilde deiner Irdischkeiten siehst du das Licht, zu dem du heimwärts strebst, und wäre nicht dein irdisch ruhig Schreiten, der Himmel wäre nicht, in dem du ruhend schwebst. Und in der Mitte ruht dein fernstes Ziel.«
Sie verstummt. Und Fels und Grotte, Baum und Hain, der Lärchen Gelb, der Föhren Grün, sie werden wieder stummes Licht. Und während ich ins Zeitenlose schaue, hör' ich Agathe, die zum Himmel spricht:
»In mir sind alle Blumen wach, wie Sternenknospen in der Dämmerung. Oh, Mutter, ich bin [in] der Freude.«
Verwebt mit dem Geäst der Föhren ist das kristallene Geäst des Himmels, verwebt mit Wissen und mit Denken sind der Felsen Schründe, ist der Quelle Tränken, verwebt in Strahlen sind Agathens Augen, und unten ruht der Weiher. Atemlos.
Da schaut die Mutter freundlich auf. Und wieder ist's, als hemmt' die Zeit den Lauf und werde sonnenstill zum tönenden Gebäude.
Sie aber sagt zu mir:
»Bang' nicht der Jahre, die vergangen sind, sie sind dir hold. Schön ruht die Zeit in ihrer Mitte, unendlich ruhen ihre Grenzen hier; groß ist die Runde, größer noch die Mitte, und jede Angst erschweigt in ihr.«
Agathe ruft, und es wird sanft und weit: »Neun Monde sind die schönste Zeit.«
Und das Schweigen singt klagende Antwort: »So schön ist keine Unendlichkeit.«
»Ja«, sagt Mutter Gisson und blickt mit leisem Einverständnis zu der Schwangern hin, »schön ist's und doch nicht angstgefeit …«
Sie streichelt mit der flachen Hand die Erde: »Hier hatt' ich Angst …«
Dann sagt sie:
»Hier war sein letzter Trunk, hier war sein Tod … hier habe ich die Erde aufgewühlt mit meinen Händen … und hatte Angst …«
Sie wird ganz ruhig, und ruhig wird der Wald, die Stille wird so ruhig, daß man die Jahre hört, die eines nach dem andern sich nun eingefunden; sie stehen still um uns, durchsichtig und ein Wald, ein zweiter und aus Glas.
Dann aber spricht sie:
»Er wurde mir geraubt, und ich hatt' Angst.«
»Denn groß ist unser Glück, im anderen zu atmen, als wär' man Kind und Ahne schon zugleich, als war' man ungeboren, dennoch schon gestorben, als war' der Kuß, in dem wir schlafend leben, die Mitte alles Seins und aller Ewigkeit. Und da man mir's geraubt, da hatt' ich Angst. Kein Schreiten ist das Glück und auch kein Fahnden, kein Spähen ist es nach Unendlichkeit, unendlich ist es, ohne End' vorhanden, und über alle Grenzen seligweit ist es das Ganze grenzenloser Welt, die silbern über ihre Ränder fällt, in Silberhimmeln fallend aus dem Überfluß, des dunklen Beckens dunkler Quellenkuß. Dies hat man mir geraubt, und groß war meine Angst, nicht Angst der Nächte, nein, der hellen Tage, da starr die Felsen standen unerbittlich licht und nichts sich regte, nichts mein Schreien erhörte und nur die Schlange über Steine schlich und meine Hände wund wie offne Herzen waren, da hatt' ich Angst, Angst um mein Weibsein und um meine Gnade; wer nicht das Ganze fühlt, ist nicht mehr Weib.«
Das Schweigen weint, weint stummes Licht und stille Sonnenstrahlen, und jede Träne ist ein goldner Pfeil.
Agathe aber spricht: »Das Ganze ist mein Kind, und ich bin nur ein Teil.«
Durchsichtig reglos stehen die Jahre, ein unsichtbarer Wald um uns herum, still steht die Sonne, brennend stumm, als sollte sie diesen Sommertag für ewig aufbewahren.
So wird das Warten. Wagte ich zu sprechen, die Stimme entschwände mir von den Lippen, weggetragen, aufgesaugt vom Lichte.
Mutter Gisson hat die Hand auf Agathens Scheitel gelegt: »So ist das Licht, so ist die Angst, Agathe, die Angst der Frau, und wenn es dir begegnet, nimm es schwer und froh.«
Und sie spricht:
»– So sucht ich jenen, den man mir geraubt, und grub mit meinen Händen nach dem Blut, das mir die Erde weggetrunken hat; ich sah das Ganze dieser Welt nicht mehr, sah nicht mehr ihre Ränder. Nichts sah ich.
– Ich sah bloß mich und sah mich trotzdem nicht, denn steinern war der Schmerz um mich und grau und hart und Stein.
– Ich war kein Weib mehr.
– Wie ein Mann tat ich mein Tagwerk, und abends lief ich zu dem Quell und zu der blinden Ferne.
– Die Kinder hab' ich betreut, gekleidet, hab' sie gewaschen und genährt, ich tat's und wußte nichts davon und hab' sie nicht gesehen.
– Und doch waren's seine Kinder. Ich aber nicht die Frau mehr, die sie einst empfing.
– Es wuchs der Tod um mich herum und wuchs in mir, und seine Felsen schütteten mich zu.
– Da brachte ich in meiner Not die Kinder her zum Quell, daß sie den Vater riefen; sie riefen nicht, sie spielten mit den Kieseln.
– Ich aber lag hier, Hände in der Erde, und alles Licht war Stein, und hohl war jede Wolke, zerschellend in der Enge. So lag ich hier, lag eingekerkert zwischen Mauern, und immer höher, immer höher wuchsen sie, ein toter Schacht, und all mein Sehnen war, in seinen Boden tiefer, tiefer einzusinken. In Nacht vergraben, war ich losgelöst. Da spürte ich, wie meine Finger, ein Finger nach dem anderen gelöst und ausgegraben wurden. Es war der Bub, er war zu mir gekrochen, grub mir die Finger aus, als wären's Kieselsteine, und wie mit Kieseln spielte er mit ihnen. Und kroch auf mir herum, als wäre ich die Erde.
– Da ging ich heim und kam nicht wieder her.
– Und tat mein Tagwerk, tat mein Leben, und es ward gut. Sah in die Ferne, die ihn aufgenommen, und langsam wurde sie Unendlichkeit, und langsam wußte ich in ihr das Ziel jenseits des Todes, nein, jenseits aller Tode, das Ziel, zu dem er hingestrebt und das er nun, als wär's ein spätes Kind, mir unters Herz gelegt, daß es da wachse. Und jätend Stück um Stück, und pflanzend Reis um Reis, kam ich zu ihm, der meiner harrt, der um mein Kommen weiß, als hätt' es niemals anders sein können.
– So war's ein leises Rauschen erst gewesen, als gingen Quellen unterm Boden hin, und mählich nur ist es zum Licht genesen, doch plötzlich wußte ich's: ich bin, bin wieder Frau, bin wieder Weib, aus dessen Wissen sich die Welt erneut. Was einstens süß und dunkel war, es ward nun Glanz, es wuchs die Welt, sie wurde wieder ganz, und wachsend floß sie über jedes Beckens Rand, ein Gartenspiegel in den Kreis gebannt, die Quelle ich und doch nichts als ein Schauen, von ihm gelebt, ihn lebend, ein quellendes Vertrauen und ein gebärend Wissen. So wuchs die Welt mit jedem Tag zu größerem Tag, mit jeder Nacht zu lichterer Nacht, und himmelszelten ward die Erden, ein ewig wachsend lichtes Sterben.«
Sie schweigt, und die vielen durchsichtigen Jahre, die wie ein Wald um sie versammelt sind, holen Atem und sagen: »Weckst du das ferne Licht trotz irdischer Beschwerde, so wirst du, Weib, verklärt zur unsichtbaren Erde.«
»Oh nein«, sagt Mutter Gisson, »das wissen wir besser, die Agathe und ich, erst muß man sein Kind lieb haben.«
»Nie war ich Erde, kein Kind war mir beschieden«, singt nochmals Irmgards Stimme stumm vom Weiher her.
»Du, Irmgard, hattest leichter, und du hattest schwer, sagt Mutter Gisson, »du warst in einem höheren Frieden, dein Leben war von Anbeginn ein schönes Sterben, ein lichtes Leben war dein Sterben stets, sanft sterbend lebtest du hienieden und sterbend lebtest du.«
Dann schließt die Ruhe ihr die Augen zu, und wieder ist's, als ob der Felsen riefe, des Himmels Schatten und der Grotte Tiefe:
»Er aber blieb bei mir, und war er nicht vollendet, er alterte mit mir, ich schritt den Kreis für ihn, und hat er mir Unendlichkeit gespendet, die Ganzheit wurde beiden gleich verliehen, da ich sein Leben lebte, er das meine. Und in der Ganzheit fand er erst das Ziel, unendlich fern, unendlich wiederkehrend, da zwischen Welt und Welten jede Grenze fiel, und ist er auch entrückt in jede Silberwolke, und weht sein Antlitz auch von allen Höhen, er blieb bei mir, in mir, die ich ihm wartend folge, und alternd wachsend ward sein Antlitz schön.«
Und die Jahre sagen: »Hast du in deinem Kreis die Erde eingekreist, so wird dein Antlitz, Mann, zum erdsichtbaren Geist.«
»Ja«, sagt sie und blinzelt ein wenig zu mir, als ginge es uns beide an, »so ist's, richt' dich danach, Herr Doctor.«
Sie ruht ganz still. Dann aber sagt sie leis:
»Dem Licht der Mitte zugewandt, fließ ich nun selbst ein Tropfen über meinen Rand.«
Das Licht wird weiß. Allein sie blickt's nicht mehr; sie sieht's in sich.
Dann fragt sie:
»Irmgard, friert dich noch sehr?«
Das Schweigen antwortet: »Es ist nicht warm und es ist nicht kalt, Mutter, es ist schön.«
»Gewiß«, sagt Mutter Gisson, »es ist schön, und er ist dort, dort wo es weder Wissen noch Vergessen gibt. Hörst du ihn, Irmgard?«
»Nein«, antwortet das Licht, als wollte es verlöschen, »ich höre ihn nicht, und ich höre auch Euch nur mehr sehr leise, Mutter.«
Mutter Gisson schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte: »Ich kann nicht lauter sprechen, Irmgard, bald ist unser Reden nur mehr Licht.«
Der Himmel ist herabgeglitten und hüllt Agathen in sein blaues Kleid, wir aber schweben über den Gewässern, und mit uns schweben Berge, Bäume, Gräser, es schwebt die Stille und die Starrheit, es schweben Sterne, schwebt die Klarheit, kristallnen Fittichs tragen uns die Jahre, als wären's Engel, in das Unsichtbare und halten schwebend uns in aller Welten Mitten.
Und schwebend hingelagert sagt sie: »Wenn abends die Mutter uns zu Bett gebracht und die Kerze ausgelöscht hat, dann wurde es licht und man flog davon.«
Weltverloren, traumverloren.
»Auch damals war's, als war' man nicht geboren.«
Die Erde selber hält jetzt ihren Atem an, es stockt die Quelle. Und wir, dem Traume aufgetan, sind wir schon jenseits unsichtbarer Schwelle? Ist's nicht der Schattenflug ins schattenlose Sein?
Da sagt sie beinah' fröhlich: »Nun habt ihr mich begleitet, kehrt jetzt heim.«
Agathe weint, indes man hört es nicht.
Sie aber lehnt, geschlossen ihr Gesicht, das Haupt am Föhrenstamm, als sollt' es in ihn wachsen. Und befiehlt: »Mathias.«
»Ich bin da, Mutter«, sagt er und tritt hinzu.
Und nach einer Weile: »Nun find' dir eine gute Frau, 's ist Zeit dazu.«
Um ihren Mund spielt noch einmal ein Schimmer der alten Heiterkeit: »Und kommt ein Kleines, hab' ich's jetzt schon lieb … das kannst ihm später sagen …«
»Ja, Mutter.«
Sie blickt Mathias an und mich und die Agathe, und schließt die Augen. So wartet sie mit uns.
Dann greift sie mit der hohlen Hand zum Quell hinab und führt das Naß zum Mund und trinkt.
Und spricht nicht mehr.
Der Wald der unsichtbaren Jahre ist verschwunden, die Zeit folgt nicht mehr nach, die Zeit ist überwunden. Doch durch die Föhrenstämme geht ein Schweigen, es ist das Schweigen eines starken Mannes, ein liebendes Schweigen, und es sagt: »Komm.«
Da atmet sie noch einmal, lächelt.
Und der Mathias legt die Hand auf ihre Augen.
Durch den Talkessel streicht ein leiser Wind, und die Äste knistern, als wäre ihnen kalt in der Sonne.
So war's geschehen.
Und als ich dann hinuntereilte, um die Leute im Dorf zu verständigen und hinaufzuschicken, da war die Klamm am Austritt des Felsenkessels schon in nachmittägige Schatten gehüllt, und der Geruch des Herbstes floß mit dem Wind kühl und feucht, moosig und modrig, um mich herum zu Tal.
Als ich ins Dorf kam, standen die Leute bereits vor Mutter Gissons Haus; einige schickten sich gerade an, zum Heidenschacht hinaufzugehen. Auch Suck kam gerade daher. Ich fragte nicht weiter, woher sie ihr Wissen hatten. Die Kerze im Fenster brannte noch, flackte in der Sonne; es war kaum mehr ein Stümpfchen, und über den Zinnleuchter rann das Wachs und stockte.
Mit Einbruch der Dunkelheit wurde sie heruntergebracht, und es kamen die Milands und der Pfarrer zur letzten Ölung. Mutter Gisson lag in ihrem Bett – noch nie hatte ich, der wohl alle Dorfbewohner im Bett kannte, sie darin gesehen. Die Stube war voller Leute, die Weiber knieten um das Bett, und schiefgesichtig, selber verlöschend, sprach der kleine Pfarrer mit ihnen das Vaterunser.
Bis zum Begräbnistag hielt das Sommerwetter an. Mutter Gisson ging von der Sonne in die Erde. Doch am nämlichen Abend noch setzte der Winter blitzartig mit einem Schneesturm ein. Innerhalb einer Viertelstunde war die Temperatur um 25° gefallen.