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IX.

Mit dem Schwung eines mähenden Erzengels ging der August über das Land, und die Suck Anna vermochte der saugenden Kraft des Bodens keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen. Sie starb, als die ersten Ähren fielen, und wir begruben sie in dem sechs Schuh tiefen Loch, das in die Erde gegraben worden war und bis in die Unendlichkeit reicht. Es waren nicht viele, die sich von der Erntearbeit freigemacht hatten, um der Suck Anna das letzte Geleit zu geben und zuzusehen, wie sie von dem Grabe verschluckt wurde, während der heiße Glast der immer prunkvoller werdenden Sonne darüber zitterte, und sie sahen eigentlich auch kaum mehr zu, sondern blickten ins Land hinaus, auf die Felder: dort in der süßen Trockenheit des Korns wartete die Arbeit auf sie. Und die Suck Anna war rascher vergessen, als zu jeglicher andern Jahreszeit.

Denn der Rhythmus der Arbeit ist ein guter Herr der Menschen, er enthebt sie der Wahl und einer Freiheit, von der sie keinen Gebrauch machen können: ach, sie haben ja keine Zeit mehr, sich zu entscheiden, rascher und rascher entschwindet ihnen das Leben, und gelähmt sind sie ob der Eile dieses Entschwindens. Bin ich nicht selber oftmals gelähmt ob dieser Eile? ich, gerade ich, bin es, ich, der ich dazu bestellt bin, das Erdenleben der anderen notdürftig zu flicken, auf daß es noch eine Spanne anhalte und daß sie für diese kurze Weile nochmals zur Arbeit zurückkehren und sich ihrem Rhythmus einfügen können, der Hoffnung voll, es werde die Kraft des Ablaufs, es werde die ewig fortrollende Woge des Ackerns, Säens und Erntens sie hinübertragen über den Jammer des Menschlichen und über das Todesgrauen, das so rasch und so stark ansteigt, daß zu seiner Bewältigung jedwede menschliche Zeit zu kurz wird. Gleich ackernden Knechten sind sie, Folgsamen, denen man den nächsten, und wenn's hoch kommt, den übernächsten Feldstreifen anbefiehlt, und sie sehnen sich nach der Stimme, die ihnen zuruft: sei treu, tue deine Arbeit, halte aus, halte noch diese Ernte aus, möge sie auch dürftig werden, trage dein Korn zum Drusch, ackere noch einmal, sei ein treuer Knecht, nimm dir an Andreas ein Beispiel, an ihm, der treu schafft, obwohl ihn nur mehr wenige Jahre vom Tode trennen, tue es um deiner Ewigkeit willen, denn ich, die Stimme deiner Pflicht, ich habe die Last deiner Entscheidung und deines Gewissens auf mich genommen, ich bin die Stimme deines Gewissens und ich führe dich, ich bin der unabänderliche Sinn deines Lebens. Dies ist die Stimme, nach der der Mensch sich sehnt, nach der er bangt, damit sie ihn erlöse, und um dieser Stimme willen wird der Pflug aus der Hand des Vaters empfangen, um ihretwillen wird er an den Sohn weitergegeben, das Unendliche zu bezwingen in ewiger Weitergabe, Sinn des Lebens, der im Gestern liegt und im Morgigen, unfaßbar im unerfaßlichen Augenblick des Jetzt, mühselig vorwärtsgetragen von Ernte zu Ernte, vom Vater zum Sohn und zum Enkelsohn, von Ackerfurche zu Ackerfurche, eine zerbrechliche und doch schwere Last, aber wenn der Pflüger am Ende der Furche wendet, verzweifelnd schier, daß er trotz der vielen Furchen, die er schon gezogen hat, trotz der vielen, die er noch ziehen wird, niemals bis zum Rande des Feldes gelangen werde, da kann es wohl geschehen, daß der Verzweifelnde über seinem Haupt den Hauch seines eigenen Sinnes spürt, dahinziehend im obersten Äther mit dem ruhigen Flügelschlag des Unsichtbaren und Unhörbaren, so groß und so leicht und so schwer wie der Himmel selber, freilich auch so unerfaßlich wie dieser und von derart flüchtiger Gewalt, daß der Pflüger, hebt er das Gesicht, um das Unerkennbare zu erkennen, nichts mehr hört als einen verwehten Atem, der einst aus einem Mund emporgestiegen sein mag, ein einst gewesenes Wort oder auch nur einen einstigen Vogelruf, ein Echo eines Echos, aus dem er nichts mehr vernimmt als ein: beginne nochmals, beginne von vorne, denn wieder stehst du am Anfang der Unendlichkeit.

Es war mitten in der Erntezeit, als ich eines Nachmittags aus der Ordination kam und zu meiner Überraschung sah, daß der Lax, der sein Haus in der Dorfstraße hat, eben mit seinem leichten Wagen aus dem Tor herausfuhr. Neben ihm saß sein Sohn auf dem Bock. Er winkte mir zu und hielt an.

»Wollen Sie mit ins Oberdorf, Herr Doctor?«

Natürlich wollte ich. Ich fragte ihn, was er im Oberdorf wolle, jetzt mitten in den Erntearbeiten.

»Ich fahre zur Mühle hinauf.«

Lax besitzt oben, nicht weit von der Paßhöhe, eine kleine Sägemühle, ein altes Gerümpel, das vom Abfluß eines winzigen Waldsees gespeist wird und einstmals wohl mit dem Bergwerksbetrieb im Zusammenhang gestanden hatte. Er hatte das sicherlich wertlose Anwesen in jenem Expansionstrieb gekauft, der manchen Bauern eigentümlich ist, und betreibt die Sägerei von Zeit zu Zeit, wenn er eben ein paar Bretter braucht.

»So, zur Mühle? hören Sie, Lax, da könnte ich gleich einmal wieder einen Besuch bei den alten Mittis machen … wenn Sie einen Augenblick warten, hole ich nur noch eine Medizin für ihn …«

»Ja, ja, Herr Doctor, uns pressiert's nicht.«

Der alte Mittis und seine Frau wohnen in der sogenannten »Lucken am Berg«, einer kleinen Bergbauernsiedlung, die auf der almartigen Wiese zwischen den Wäldern vor der Paßhöhe liegt. Der Mittis leidet an der Galle, die Frau an der Wassersucht, und ich nehme nicht nur Medizin, sondern – und das ist wichtiger – auch etwas Tabak und Zucker aus der Handlung mit.

Dann fuhren wir los. Der junge Lax, ein sehniger Bursch, mit seinem starken Wildererblick dem Vater gleichend, hatte sich hinten aufgesetzt, ich saß neben dem Vater am Bock. In einer Wolke von Geknarr, Gequietsch und Geklimper bewegten wir uns vorwärts, langsam, denn die Bauernpferde sind nicht aufs Traben eingerichtet, auch wenn sie so prachtvolle Tiere wie diese hier sind. Sie trugen ihre großen messingbeschlagenen Kummete, an deren Seiten die runden Messingscheiben und Messingmonde an dünnen Kettchen hingen und in der Sonne funkelten. Die breiten falbseidigen Hinterteile bewegten sich im mäßigen Takt vor uns; von Zeit zu Zeit hob eines der beiden den Schwanz, stülpte den After heraus und ließ ein paar Äpfel fallen oder ein Gas streichen.

»Jedes andere Vieh steht oder setzt sich dazu«, meinte Lax, »nur ein Roß muß dabei laufen … das sollte unsereiner mal probieren … hüh.«

Aber bergauf nützte kein Hüh, die beiden Tiere gingen ihren Schritt, einen langen kräftigen Schritt, dem man es anmerkte, daß das Gewicht des Wägelchens überhaupt keine Rolle spielte. Bei den Kapellen bekreuzigte sich Lax, wie es die Sitte verlangt, und manchmal grüßte er lustig mit der Peitsche zu den Leuten auf den Feldern, die zurückwinkten und uns nachschauten, denn es war ja, als führen wir mitten am härtesten Werktag zu einer Hochzeit.

»Die wundern sich«, sagte Lax.

Doch mehr sagte er nicht, und ich fragte nicht, warum er mit dem leichten Wagen, auf den er doch nicht einmal Bretter laden konnte, zur Mühle fahre. Der Sohn saß mit Trapp stumm hinter uns.

Allenthalben standen bereits Garben auf den Feldern, da und dort wurde noch geschnitten, aber wo man am zeitigsten dran war, da wurde schon aufgeladen, um das Gut zum Druschplatz hinunter zu bringen. Die Dreschmaschine steht zwar noch in ihrem Schuppen, der an die Feuerwehrremise angebaut ist, doch als ich dort – hinter der Schmiede – kürzlich vorbeigekommen war, standen die Schuppentüren offen, und die Maschine wurde bereits gebrauchsfertig gemacht und geputzt.

»Wie steht's denn mit dem Handdrusch, Lax?«

»Han?«

»No, der Marius will doch das Maschindreschen abschaffen …«

Er lachte: »Ja, ja, ein paar sind dafür … meinetwegen sollen sie's tun, wenn's ihnen Freud' macht … hüh.«

Die wenigen Bäume und Stauden an der Straße trugen alle den Erntestaub, ihre Blätter, ja, ihre Äste waren wie welk und ein wenig zur Erde hängend, bebend vor Müdigkeit, wie nach einer getanen Arbeit. Ein ganzer Schwarm Wildtauben, aufgeschreckt durch unseren Knarr- und Klimperlärm, stieg drüben am Waldrand auf. Ihre Flügel glänzten in der glänzenden Luft.

Ich fragte: »Warum sind sie denn dafür?«

Lax zuckte die Achseln: »Weiß der Teufel … der Marius redet ihnen ein, daß die Maschinen zu viel Menschen brotlos gemacht haben und daß deshalb die Kornpreise gefallen sind.«

»Hm, das sind so Weltverbesserergedanken, die hat er irgendwo gelesen … was meinen denn Sie dazu, Lax?«

Er lachte wieder: »Sollen's die anderen probieren, mir soll's nur recht sein, wenn die Preise anziehen … ein Häusler, der alles selber macht, kann übrigens leicht mit der Hand dreschen, wenn ich aber Drescher anstellen müßte, käm's mir zu teuer.«

»Aber mit der Goldsucherei von dem Marius sind Sie einverstanden.«

»Das ist was anderes«, sagte er kurz.

Wir kamen durchs Oberdorf. Es roch nach Stille und nach verlassenen Ställen. Ein paar Kinder lockten wir mit unserem Lärm heraus. Beim Berghof war niemand; auch Mutter Gisson erschien nicht beim Fenster.

Als wir das Dorf passiert hatten und das Haus Sucks in Sicht war, meinte ich, daß wir anhalten und den Witwer besuchen könnten.

»Warum nicht«, sagte Lax und gab dem Sohn die Zügel, während er über das Rad hinuntersprang, »warum nicht, wir haben ja Zeit.«

Wir gingen die kleine Anhöhe hinauf, auf der das Holzhaus Sucks steht. Er hatte unser Kommen bemerkt und trat aus dem kleinen Stallgebäude, das sich daneben befindet, heraus uns zu begrüßen.

Das runde Gesicht inmitten des Schifferbartes hatte etwas von seiner Röte eingebüßt, die Backen unter den Augenknochen waren etwas eingefallen; man merkte ihm an, daß er sich um den dahingegangenen Menschen härmte.

»Na, geht's halbwegs, Suck?«

»So, so, la, la … ein Wittiber mit einem Haufen Kinder.«

»Mußt wieder heiraten, Suck«, sagte Lax.

»Wird wohl notwendig werden«, sagte der Wittiber.

Lax faßte mit beiden Händen ein paar Brüste in der Luft: »Nimmst dir halt eine, die was ist … das ist auch was wert.« Er lachte: »Wenigstens für den Anfang.«

Suck seufzte. Er hatte Grund zum Seufzen. Da war eine gewesen, die konnte sagen: »Erinnerst du dich, wie wir zum ersten Mal miteinander getanzt haben«, und wenn man sich ins Bett legte, dann erinnerte man sich. Und diese war ihm weggefault und hatte zum Schluß gestunken. Jetzt aber wird eine kommen, für die es kein »Erinnere dich« geben wird, eine, die bloß kommt, weil das Geschlecht im Menschen niemals erschweigt und Frauen und Männer immer wieder sich zusammentun, mag es auch unter dem Vorwand der Kinder oder der Wirtschaft geschehen, und er wird sogar mit dieser auch noch Kinder zeugen, doch es wird ohne Erinnern an ein Einst und ohne Gedanken an das Ewige geschehen, es wird bloß für den Augenblick sein. Und den Augenblick gibt es nicht.

»Ja«, sagte Lax, »du kannst dir auch eine nehmen, die was hat … das kannst du ganz gut brauchen.«

Suck nickte. Dann fragt er: »Wohin fahrt ihr?«

»In die Mühle.«

Suck war weniger diskret als ich: »Du hast ja den leichten Wagen.«

»Ja«, sagte Lax zögernd, »wir haben droben bloß was zu richten.«

»Aha«, sagte Suck, und seine alte Lustigkeit huschte einen Augenblick über sein Gesicht.

»Da gibt's kein Aha«, fuhr Lax auf.

»Na, ich mein' doch nur, daß du das Holz jetzt nicht selber brauchst, sondern oben liegen lassen willst.«

»Ich schneid' überhaupt kein Holz, ich bring' die Säge in Ordnung.«

»Ja, aber wenn du doch einmal schneiden solltest, etwa zum Beispiel Pfosten, wie man sie im Bergbau braucht, dann darfst du dich nicht ganz auf den Wenzel verlassen … alles versteht der auch nicht.«

Jetzt schmunzelte Suck wieder sein altes verstecktes Schmunzeln, und ich mußte lachen.

Lax begab sich in die Rolle des Gekränkten: »Jetzt besucht man dich, weil du ein Wittiber bist, und du steckst noch voll von deinen alten blöden Witzen.«

Und er schwenkte seinen massiven Bauch zum Gehen um.

»Fahren Sie auch mit, Herr Doctor?« fragte Suck.

»Ja, zum Mittis hinauf.«

Da flüsterte er mir zu: »Gehen Sie über die Kapelle heim?«

Ich nickte stumm. Über die Kapelle und den Knappenweg ist es beinahe kürzer als auf der Landstraße und jedenfalls schöner.

»Vielleicht treffen Sie mich dort«, flüsterte Suck.

Lax drehte sich um: »Servus, Suck«, sagte er und schlug ihm auf die Schulter, »heirat' bald.«

Doch als wir weiterfuhren, da war er finster und nachdenklich. Es dauerte eine Weile, bis er den Mund aufmachte: »Auf die blöde Geheimnistuerei mit dem Berg darf man nicht hineinfallen … was, Herr Doctor?«

»Na«, sagte ich, »mehr Geheimnis als der Marius kann schon keiner machen.«

Er machte ein unangenehm berührtes Gesicht: »Ich brauch' keine Geheimnisse … der Wenzel, der sagt die Dinge, wie sie sind, der macht keine Geheimnisse.«

Nun fuhren wir Schritt für Schritt über die Serpentinen des Fichtenwaldes. An den Rändern gab es manchmal Laubbäume, Gras und Glockenblumen. Tief im Wald klang das weiche Krachen des Holzfällens. Ein paar Vögel zwitscherten, und sie verstummten, wenn wir uns näherten. Oben glänzte der Erntehimmel, bei uns unten atmete es sich kühl. Trotzdem hatten die Pferde jetzt schmale dunkelglänzende Schweißstreifen auf den Flanken.

An einer Kehre, die inmitten einer kleinen Lichtung liegt, erhebt sich ein Kruzifix. Lax bekreuzigte sich wieder: »Wer weiß, vielleicht ist das doch das Richtigere«, erklärte er nachher.

»Richtiger als was?«

Er antwortete nicht.

Als wir zu der Abzweigung kamen, die rechts zur Mühle und zum Grünsee hinauf führt, stieg ich ab und sagte: »Vergeltsgott.«

»Nichts zu danken, Herr Doctor, gerne geschehen. Und wenn Sie wieder hinunter fahren wollen, können wir uns hier treffen.«

»Danke, Herr Lax, ich gehe den obern Weg heim, Abendspaziergang.«

Er grüßte mit der Peitsche und lenkte das Gespann in den Waldweg.

Ich ging die Landstraße weiter, am Rande, wo sie nicht so staubig war, dachte an Suck und an das merkwürdige Stelldichein, das er mir bei der Bergkapelle gegeben hatte, und in knapp zwanzig Minuten war ich bei der Luckensiedlung auf der Paßhöhe.

Die Leute hier oben leben ein einsames Leben; sie haben weder mit dem alten Knappenort, noch mit dem Unterdorf viel gemein, und wären nicht die Autos, die jetzt öfters den Paß befahren, und für die sogar eine Bretterbude mit Bierausschank errichtet worden ist, es wäre alles so wie vor fünfhundert Jahren.

Das Haus der beiden alten Mittis hat sicherlich ein paar hundert Jahre hinter sich. Dunkelbraun und bemoost steht es nicht weit von der noch weißen Bretterbude mitten in der Almwiese, daneben und nicht viel jünger, Schweinekoben, Ziegenstall, Holzlage, kurzum alles, was dazugehört.

Wie ich eintrete, sitzt der alte Mittis in der Küche; sein vielgefaltetes Ledergesicht, aus dem die porzellanartigen Greisenaugen kaum mehr einen Blick nach außen senden, bekommt bei meinem Erscheinen ein paar neue Falten, die sich als erfreutes Lächeln entpuppen.

»Nun, Mittisvater, noch immer der Alte … geht's vorwärts?«

Sofort nimmt er einen weinerlichen Tonfall an: »Kein Tabak …«

Das war das Übliche; ich packte meinen Tabak und den Zucker aus.

»Ihr sollt nicht so viel rauchen, Mittisvater, das ist nicht gesund für Euch …«

Er stopfte eilends seine kalte Pfeife und stellte sich taub.

»Nicht so viel rauchen sollt Ihr …«

»Zu essen gibt sie mir auch nichts …«

Das gibt auf die eben eintretende Gattin, und es war gleichfalls nichts Neues, ein gewohntes Lied, obwohl es nicht gar so arg schlecht mit den beiden bestellt ist; die unverheiratete Tochter Marie besorgt die paar Joch, die sie besitzen, und manchmal schickt der Sohn, der irgendwo bei den Staatsforsten angestellt ist, auch ein paar Groschen.

»Er lügt«, sagte die alte Frau. Und nun kam von ihrer Seite die alte Gegenklage: »Er schlägt mich.«

Es wird schon Zeiten gegeben haben, da der alte Wilderer und Holzknecht sie geprügelt haben dürfte. Für sie war es gestern, war es heute. Je näher der Mensch an den Tod heranrückt, desto mehr zieht er sein vergangenes Leben an sich heran; die Fäden der Erinnerung werden ihm immer kürzer, verstricken sich immer mehr, werden zu einer unentwirrbaren Gegenwart. Und so trugen die beiden ihren dezennienalten Streit noch heute aus, mit einer erstaunlichen Vitalität in all ihrer Hinfälligkeit.

»Was gibt's denn heute bei Euch zum Essen?«

»Knödel, Milchsuppe.«

Es war das übliche Menü. »Nun, Mittisvater«, sagte ich, »da gibt's doch was Feines zu essen.«

Er hörte nicht darauf. Offenbar konnten keinerlei Nahrungsmengen und keinerlei Speisen seiner Phantasie Genüge leisten. Wohin führte die? zu welchen Genüssen?

Plötzlich sagte er: »Jetzt soll das Wildern erlaubt werden.«

»Was, Mittisvater, wollt Ihr auf Eure alten Tage wieder den Stutzen herausholen!«

»Mein Mann hat das nie getan«, fuhr die alte Frau dazwischen, in deren Gedächtnis es geblieben war, daß es da etwas zu verheimlichen gab.

Durch den Widerspruch gereizt, beharrte er jetzt: »Viel hab' ich geschossen.«

»Nicht wahr ist's …«

Das war des Rätsels Lösung; die Erinnerung an die Reh- und Gemsenbraten, die er in der schönen Wildererzeit nach Hause gebracht hatte, ließ ihm jetzt alles andere als Un-Speise erscheinen.

»Mittisvater, die Milchsuppen ist viel besser, wenn man keine Zähne mehr hat …«

Ja, ich hatte das Richtige getroffen; seine suchende Phantasie wußte nun, was sie wollte, die Gesichtsfalten mehrten sich, und listig mit der Zunge schnalzend, sagte er: »Milchsuppen? ah nein …«

»Wir wollen mal lieber untersuchen, Mittis, und den Rock ausziehen.«

»Rehkeulen … die jungen Leut' heute, die können nimmer schießen …«

»No, das Hemd auch … so, Vater …« ich versuchte die Geschwulst an der Leber abzutasten, »… Schmerzen?«

»Nein … wenn das Schießen jetzt erlaubt ist …«

Ich hielt inne: »Wer hat Euch denn das erzählt?«

»Die Marie …«

»Aber ist ja nicht wahr …« ließ sich die Alte wieder vom Herd her vernehmen.

Ruhig sagte Mittis: »Wahr ist's.«

»Und woher hat's die Marie?«

»Im Dorf war sie drunten.«

Etwas mußte dran sein. Jedes Gerücht schien mir in diesem Dorfe jetzt möglich, so lange der Wenzel mit seinen Spaßen dort wirkte.

Der alte Mittis spann seinen Gedanken weiter: »Dann werden die Jäger alle erschossen …«

»Ihr seid ja wirklich dazu imstande, Ihr werdet ja immer gesünder.« Meine Untersuchung war beendet; der Zustand war verwunderlicherweise unverändert.

Natürlich mußte nun auch noch die Frau daran kommen; ich nahm mein Hörrohr heraus.

»Der Murner-Jäger hat auf mich geschossen … jetzt kriegt er's«, lachte er.

Das dürfte vor sechzig Jahren gewesen sein. Doch für den Haß gibt es keine Zeit.

»Könnt Ihr nicht verzeihen, Mittisvater?«

Er schaute mich verständnislos an: »Einer muß kommen, der alle Jäger erschießt, … alle … freilich die jungen Leute heut' … aber jetzt wird er kommen …«

Ich hatte inzwischen begonnen, die alte Frau zu untersuchen. Seit Jahren wohl waren diese Körper, der ihre, wie der ihres Mannes, nicht mit Wasser in Berührung gekommen; aber an solche Dinge ist ein Landarzt gewöhnt, und er lernt an ihnen nicht nur ein Stück Verachtung der hygienischen Mätzchen, sondern auch ein Stück Hochachtung vor dem Menschengeist: wie gleichgültig ist es oft, ob das Körper genannte Wunderwerk gewaschen ist oder nicht, angesichts des Geistes, dessen unvollkommenes Gefäß [es] ist, angesichts des Wunderwerkes des Geistes in seiner Vollkommenheit, vollkommen selbst noch, wenn er so roh und unerschaffen ist wie bei diesen beiden alten Menschen, die beide nicht einmal lesen und schreiben können.

»Hier hat er mich geschlagen«, sagte das verhutzelte Weiblein und deutete auf die Schulter.

»Tut's noch weh?«

»Ja, sehr.«

Ein haltbarer Schmerz, so haltbar wie der Haß, der allein in der Asche eines überlangen Lebens noch glüht. Und welche Ernte ist übrig geblieben von einer überlangen Gemeinsamkeit, die einstmals sogar Lust gewesen war? nichts mit Ausnahme der Hochzeitsphotographie, die drin in der Stube als einziger Schmuck an der Wand hängt, über den beiden engen ungelüfteten Betten, die noch dastehen wie damals; nichts ist übrig geblieben als Haß, trotzdem Wunderwerk des Hasses, frühestes und böses Gewitterleuchten des Menschengeistes, sich sehnend schon in seiner frühesten Ungeschlachtheit nach einem Erlöser, und mag es auch nur einer sein, der alle Jäger erschießt.

»Da ist die Medizin, Mutter Mittis … und auch ein bißchen Zucker …«

Natürlich hatte sie den Zucker auf dem Tisch schon längst bemerkt. Jetzt aber trocknete sie rasch ein paar Tränen, weil sich das so gehört und Dank ausdrücken sollte.

»Die Medizin wirklich nehmen, und den Tee auch …«

»Ja.«

»Wo ist denn die Marie?«

Sie zeigte zur Türe hin.

»Na, vielleicht treffe ich sie … grüß Gott, Mittisleut.«

Ich hätte die Marie ganz gerne gesprochen, um ihr wieder einmal die Verwendung der Medizin einzuschärfen. Doch es war schließlich ziemlich gleichgültig. Der Zucker war jedenfalls wichtiger als das Medikament.

Der Weg zur Bergkapelle mündet auf der Paßhöhe in die Fahrstraße. Ich brauche aber nicht bis dorthin zu gehen, sondern kann gleich die steinige Grashalde rechts der Straße hinaufklettern, dann ein Stück mit auswärts gestellten Füßen, um auf dem Nadelboden nicht auszugleiten, durch den Tannenwald, und bin dann auch schon auf dem Weg droben, der von hier aus beinahe eben längs der Kuppronwände bis zum Zwergenstollen und zur Kapelle führt, eine Fortsetzung des alten Knappenwegs ist und, wahrscheinlich älter als die Fahrstraße, in vorgeschichtlicher Zeit die einzige Verbindung zum Paß gewesen war.

Es war etwa sechs Uhr Abend, und der Wald war schon milde geworden. Als ich auf die langgestreckte Almwiese hinaustrat, hatte ich zu meiner Linken die Kuppronwände in ihrer ganzen Länge, auch sie schon milde und grau, bloß auf ihrem obersten Kamm lag noch die Sonne. Ein paar Heustadln sind auf der Wiese verstreut, abendlich riecht sie nach stillem Wald und Kraut und führt ganz sachte aufwärts, um in einen lichten Föhrenbestand überzugehen. Man hörte die Schellen von der Hochalm droben, und in dem tiefer gewordenen Himmel, von dem die Tagesdecke abgezogen worden war, schwebte lautlos ein Raubvogel.

Allerdings, immer hörbarer wurde nun aus dem Walde unten die Mühle, das langsame Ticken des Rades und das gedämpfte, immer wieder absetzende Kreischen der Säge. Lax sägte, und wahrscheinlich sägte er Bergwerksholz, er, ein überlegter und gewinnsüchtiger Mann, sägte Holz auf Vorrat, ohne die Dimensionen zu wissen, ohne zu wissen, ob er es überhaupt brauchen könnte, er tat es aus den tiefverschleierten Gründen seiner Seele, und vielleicht bekreuzigte er seine fleischige und breite Brust, so oft er ein neues Holz auf die Säge legte. Je näher ich zu der Abzweigung kam, die da hinunter zum Grünsee führt, desto deutlicher wurde das Geräusch. Dann brach es ab.

Die Abzweigung zum Grünsee ist eigentlich ein Bachbett. Der See, der da drunten wie ein stilles Auge zwischen den tannenbewachsenen Lidern seiner Ufer sich öffnet, wird von mehreren solcher Bergwässer gespeist, und dieses nimmt nun hier seinen Ursprung. Zwischen Felsstücken und Zimtstauden schlängelt sich das Bächlein, fast bewegungslos ehe es den Abhang erreicht, und sein Quell entsickert einer kleinen sumpfigen Hochwiese. Königskerzen, Schierling, Glocken- und Dotterblumen stehen hier im herbsüßlichen Geruch modernder Pflanzen, in jenem kühlen und erquickenden Modergeruch, der selbst in praller Sonne über Bergquellen zittert, aber das Sonnenhafte bis in den Abend, bis in die Nacht aufbewahrt wie einen silbern nachhallenden, niemals vergänglichen Trompetenton. Außerordentlich klar stand das Wasser in den Grasmulden, jedes Würzelchen war auf ihrem Grunde zu sehen, Kuhmist, von Almvieh stammend, war reichlich vorhanden, und die zahlreichen herumliegenden Geröllfelsen waren mit frischem hellgrünem Moos bedeckt. Hierher pflegt das Hochwild zur Tränke zu kommen, und auch Trapp trank jetzt lange und mit nachdrücklichem Zungenschlag. Dunkler wurden die Felswände, langsamer ihr Leuchten; der Sonnenstreifen, oben auf ihrem Rand, war verschwunden.

Auch in dem Niederholz, durch das der Weg in leichter Neigung jetzt wieder abwärts leitet, auch in den hellen Sträuchern voller Spinnweb und abendlichem Insektengesumm waren noch Sonnenreste lebendig, dann rückte der Wald wieder näher, säumt in brauner Nächtlichkeit den Weg, doch als ich aus ihm hinaustrat, war es der helle Abend, und er spannte sich über die Bergkapelle und über das ganze Tal, das auf den gegenüberliegenden Höhen noch voller Sonne war, dennoch auch selber voll eigener Sonne in dem gelben Glanz der Ährenfelder, in denen die langen Reihen der Garben standen. Links aber, über der Zwergengrube hing der steinerne Schlangenkopf.

Auf den Kapellenstufen saß nicht nur Suck, sondern auch der Bergmathias.

Und sie hatten ihre Stutzen zwischen den Beinen.

Bei diesem Anblick sagte ich: »Donnerwetter.«

Sie lachten beide, auch der Wittiber.

»Also, was ist los?«

»Wirst schon sehen«, sagte der Bergmathias.

»Später«, sagte Suck.

Sie erhoben sich: »Kommen Sie, Herr Doctor, höchste Zeit.«

Wir gingen zum Zwergenstollen hinauf, und die beiden taten schweigsam und geheimnisvoll, und sie brachten das Lachen nicht aus den Gesichtern.

»Wollt ihr gar wildern und euch dazu gleich den Doctor mitnehmen?«

»Mag schon sein.«

Als wir vor dem vermauerten Eingang der Zwergengrube standen, schauten sie ein wenig unschlüssig herum, und Suck kratzte sich am Kopf.

Rechts unweit des Schachteingangs sind zerklüftete Felsmassen der Wand vorgelagert.

»Dort hinauf«, sagt der Bergmathias.

Von rückwärts geht es ganz bequem durch das Geröll hinauf. Es ist wie eine große Kanzel. Zum Schluß will sich Suck auf ein kleines Felsplateau mit Klimmzug aufziehen.

»Halt«, sagt der Bergmathias und schlägt erst mit der Stockkrücke hin.

Eine kleine schwarze Schlange, die auf dem noch heißen Stein gelegen hatte, fällt herunter, Trapp will nach ihr schnappen, doch sie war auch schon in leisem Huschen davongeglitten.

Mathias räumt mit dem Stock noch die ganze Felsplatte auf, und dann ziehen wir uns hinauf. Trapp blieb unten liegen.

Wir saßen hier wirklich wie auf einer Kanzel oder auf einem Hochstand, übersahen den Schachteingang und den Wald. Sie legten ihre Stutzen vor sich hin.

»Schön bequem ist's da«, sagte Suck und lehnte sich an den ein wenig überhängenden Fels hinter seinen Rücken.

»Wollt ihr mir jetzt endlich sagen, was das bedeutet?«

»Wir warten aufs Wild«, sagte Mathias.

Ich sah zu Suck. Über das friedfertige und friedliche Gesicht, das eben noch lachen konnte, über dieses Gesicht, in das der Kummer zwei weiche Löcher gegraben hatte, weil die Liebe ihm weggefault, weggestunken, wegverwest worden war, glitt unheimlich der Haß, und der Mund, der eben noch geschmunzelt hatte, sagte: »Der Wenzel.«

»Der Wenzel? der kommt da herauf?«

»Ja, zum Stollen.«

»Wollt ihr ihn umbringen?«

Schweigen.

Suck lachte, aber er lachte böse: »Das beste wär's.«

»Nein«, sagte der Bergmathias, »aber er soll den Schacht nicht anrühren.«

»Kommt er allein?«

»Kaum, er hat ja seine Burschen.«

»Seine Garde«, sagte ich.

Jetzt lachten sie wieder, weil ihnen das Wort gefiel.

»Die Ärgsten sind die beiden Lax«, sagte Suck, »der Vater, wie der Sohn.«

»Ich dachte der Krimuß.«

»Der Krimuß ist besser, der ist bloß ein Geizhals, der will bloß Geld und will nicht sterben, damit's keiner erbt …«

»Und der Lax?«

»Der hat's eigentlich in die Hand genommen … der bearbeitet die ganze Gemeinde, daß sie die Schurfrechte ausnützen soll …«

»Aber dazu braucht's doch die Bergwerksbehörde und weiß Gott was alles … und vor allem Geld … der Lax kennt sich doch aus, deswegen glaube ich an all dies einfach nicht.«

»Darauf kommt's ihm doch gar nicht an.«

»Was will er denn sonst?«

»Fressen, fressen, fressen … vielleicht will er auch nur den Krimuß auffressen, weil jetzt dazu die Gelegenheit da wäre … den Lax müßte man eigentlich abschießen.«

Wieder ging der böse Zug über sein Gesicht.

»No, Suck, heute habt ihr euch aber ganz schön miteinander unterhalten.«

»Er ist doch nur gekommen, weil er auch mich herumkriegen will, er geht ja von einem zum andern und macht sich Liebkind.«

Es begann zu dunkeln.

Ich sagte: »Habt ihr schon was von der Wilderei gehört, die jetzt erlaubt werden soll?«

»Das wird wohl auch vom Lax stammen, vom jungen«, meinte der Mathias, der bisher stumm dagesessen hatte.

»No, Suck«, sagte ich, »das wäre doch etwas, wenn die Jagdgesetze auf einmal abgeändert werden würden, da wäre der Lax doch für etwas gut.«

»Selbst wenn der Lax was Gutes täte, ich sagte nein darauf«, erwiderte Suck wild. Aber dann mußte er über seine Wildheit selber lachen: »Einem schlechten Kerl muß man immer nein sagen.«

»Huh, jetzt hätte ich mich beinahe schon vor Ihnen gefürchtet, Suck.«

»Und außerdem steckt überall der Marius dahinter«, erwiderte er.

»Der gehört also auch zu den schlechten Kerlen …«

»Ärger«, sagte der Bergmathias, »der wird erst schlecht.«

Der Abendwind strich über uns hinweg, und wir schwiegen. Mathias und Suck schauten mit Jägeraugen in den langsam dämmernden Wald hinaus.

»Jetzt kommen sie«, sagte der Bergmathias.

Ich hörte erst nichts, aber Trapp ließ ein leises Knurren vernehmen.

»Ruhe, Trapp«, sagte ich.

Es dauerte ein paar Minuten. Dann hörte auch ich Gesang und den Gleichklang vieler Schritte im Wald.

Und dann zogen sie auf die Lichtung heraus.

Voran der Zwerg Wenzel als General, hinterdrein in Zweierreihen die Burschen; ich konnte ihrer vierzehn zählen.

Sie sangen ein merkwürdiges Marschlied, das ich später noch oft hören sollte:

»Wir sind Männer, keine Knaben
Unsern Boden soll kein andrer haben
Wir fluchen Händlern und Agenten
Sie tun unsern Boden schänden
Wir Jungen die Zukunft in Händen halten
Ehren die Väter, hassen die Alten
Tapfer treu und keusch und rein
Im Sonnen- wie im Mondenschein.«

»Halt«, kommandierte der General Wenzel.

»Zweites Glied vor.«

Jede zweite Reihe trat vor; jetzt standen sie in drei Viererreihen, hinter ihnen die beiden letzten, gewissermaßen in Unteroffiziersstellung, es waren Peter und der Schmiedegeselle Ludwig.

»Erste und dritte Reihe zum Carré.«

Die erste Reihe bewegte sich nach links, die dritte nach rechts. Jetzt bildeten sie ein quadratisches Hufeisen, an dessen offener Seite der kommandierende Wenzel stand.

»Hintermänner vor.«

Peter und der Schmiedegeselle marschierten drei Schritte vor.

Ich bin ein alter Soldat; es hatte großartig geklappt. Suck stieß mich vergnügt mit dem Ellbogen an.

»Tuchfühlung … richt' euch.«

Vorschriftsmäßig taten sie es und standen stramm.

»Ruht.«

Die rechten Füße gingen vor; sie standen locker, wie es sich gehört. Kein Zweifel, daß sie dies nicht zum ersten Male machten; da ist schon oft exerziert worden.

Wenzel machte eine Kunstpause. Ganz leise kam der Geruch der Erntefelder über die schwärzer werdenden Wipfel herbeigeweht, im Wald zwitscherte ein letzter Vogel.

Dann hob Wenzel an:

»Kameraden, ich weiß, daß ihr Disziplin zu halten versteht, auch wenn der eine oder andere von euch jetzt irgendwo ein Mädel im Heu liegen hat, die ohne ihn nichts rechtes anzufangen weiß …«

Gelächter. Er wußte, wie er seine Leute zu packen hatte.

»Ruhe.«

Das Gelächter verstummte.

»… und ich bin überzeugt, daß ihr weiter Disziplin halten werdet. Vergeßt nicht, daß ihr einen Eid geschworen habt, einen heiligen und freiwilligen Eid, und daß jeder eine Sau ist, der einen Eid bricht, eine Sau, die man absticht. Leider lassen sich keine Würst draus machen …«

Wieder Gelächter. Ich war auf die Fortsetzung neugierig. Cäsar, der seine Soldaten ermahnt.

»Die Zeit der Tat kommt heran. Der Tag der Vergeltung. Der Tag der Rache. Und dann wehe unseren Feinden. Freilich, wenn ihr feige Säue sein wollt, so ist es besser, wenn ihr gleich wieder heimgeht. Jeder ist seines Schwurs entbunden. Es ist bequemer herumzuhuren, als seine Pflicht zu tun. Wenn einer lieber huren will, soll er sich am besten sofort melden. Wir lassen ihn ohne Bedauern gehen.«

Kunstpause.

»Schön. Es meldet sich keiner. Es tut mir leid, daß der Marius nicht da ist. Er hätte sich über euch gefreut.«

Sohin geht es doch nicht ohne den Marius. Er steckt auch hier dahinter.

Wenzel kommandierte:

»Habt acht … Stillgestanden.«

Es geschah.

»Linker und rechter Flügel ausschwärmen und sichern.«

Die beiden Flügel des Hufeisens liefen auseinander und verteilten sich als Wachen rings um die Lichtung. Die beiden Unteroffiziere folgten.

»Mittelreihe, Werkzeug.«

Jetzt bemerkte ich, daß die stehengebliebene Mittelreihe Rucksäcke trug, in denen Schaufeln, Krampen und ähnliche Geräte eingeschnallt waren. Die wurden nun hervorgeholt, und Wenzel, der seine Jacke abwarf, ergriff eine Spitzhacke.

»Jacken ausziehen. An die Arbeit.«

Mit großen Schritten ging der Zwerg auf den Zwergenstollen los. Vor dem vermauerten Eingang hob er mit großem Schwung die Spitzhacke und ließ sie in eine Steinfuge einsausen. Es krachte knirschend, und das Rieseln von Kies und Sand wurde hörbar. Im Echo hallte das Krachen verwehend nach.

Er schlug nochmals zu.

Da brüllte der Bergmathias: »Laß den Berg in Ruh.«

Wenzel stockte, die an den Rändern der Lichtung verteilten Mannen kamen heruntergeeilt. Sie starrten in unsere Richtung, konnten uns aber nicht sehen. Es gab einen Augenblick der Stille.

Da lachte der Wenzel auf: »Kusch da droben.« Und schlug zum drittenmal zu.

Kaum war dies geschehen, als sich neben mir ein Schuß donnernd entlud, lange im Echo nachrollend. Es war Suck gewesen; nach der Richtung seines Gewehrs sah ich, daß er in die Luft geschossen hatte.

»Verrat«, schrie jetzt einer drunten, »Verrat.«

»Verrat«, wiederholten die anderen. Es war ein Heidenlärm. Und schon sah man auch Messer aufblitzen. Suck und Mathias neben mir schnaubten vor Vergnügen.

»Ruhe, zum Teufel, Ruhe«, schrie jetzt der Wenzel, »Disziplin …«

Aber mit der Disziplin haperte es jetzt; es dauerte ziemlich lang, bis Ruhe eintrat.

»Wer seid ihr da oben?«

Ich fand es angezeigt, zu antworten: »Ich, der Doctor.« Sofort wurde Wenzel höflich: »Guten Abend, Herr Doctor … schießen Sie?«

»Ich nicht, die anderen.«

»Da kann doch ein Unglück geschehen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Wenzel«, sagte ich, »mit Spaßen werden [Sie] nicht weiter kommen, jetzt ist's mal ernst.«

Er überlegte. Dann fragte er: »Wie viel seid ihr denn da oben, Herr Doctor?«

»Genug, um euch alle der Reihe nach abzuschießen«, antwortete Suck an meiner Statt.

»Der Suck«, sagten ein paar der Burschen.

»Ja, der Suck«, bekräftigte Suck und wies auf sich, obwohl ihn die von unten nicht sehen konnten.

»Herr Doctor«, sagte jetzt Wenzel, »könnten Sie nicht ein bißchen herunterkommen.«

»Ich glaube nicht, daß wir viel mit einander zu reden haben …«

»Herr Doctor, es wäre wichtig …«

»Schau lieber, daß du weiter kommst, mit deiner Saubande«, schreit der Bergmathias hinunter.

»Selber Sau, dreckige«, schreit einer der Burschen zurück, »komm herunter, wenn du dich traust.«

Der Bergmathias dröhnt vor Lachen: »Ob ich mich trau'? mit euch allen werde ich fertig, mit euch allen mitsamt euren Taschenmessern, ihr Buberln … und ich sag' euch, weg vom Berg, oder ich jag' euch davon.«

Wenzel mischt sich ein: »Bergmathias, du redest, als ob du den Berg gepachtet hättest … der Berg gehört der Gemeinde, der ganzen Gemeinde, und wir, wir arbeiten für die Gemeinde.«

Der Bergmathias steht auf, lehnt den Stutzen an den Fels, und schickt sich an, hinunterzusteigen.

Da sage ich: »Mathias, laßt lieber mich mit ihnen reden.«

»Ich will ja gar nicht reden, Herr Doctor, die bekommen ganz was anderes zu hören.« Er lacht, aber sein roter Bart ist gesträubt, und seine Hand hält das griffeste Messer, das in der Seitentasche an der Hosennaht steckt.

»Nein, Mathias, das ist nicht nötig, das besorgt der Trapp allein ebensogut … was fällt Euch denn ein …«

Er brummt, bleibt aber.

Ich rufe: »Wenzel, was haben Sie mir zu sagen?«

»Bitte, Herr Doctor, dürfte ich nicht um eine etwas geheimere Zwiesprache ersuchen … es ist wichtig.«

»Also kommen Sie mir entgegen.«

Ich lasse mich von der Felskanzel hinuntergleiten, und gleich darauf höre ich das suchende Tappen des Wenzels im Geröll. Ich leuchte ihm mit meiner Taschenlampe entgegen.

»Was wünschen Sie?«

Er schaut mich treuherzig von unten an: »Herr Doctor, so viel Aufhebens wegen ein bißchen Exerzieren … was haben wir denn dem Berg schon getan?«

»Stellen Sie sich nicht dumm, Wenzel, … Sie wissen genau, worum es geht.«

Er schlug sofort um und sagte stramm: »Jawohl, Herr Doctor.«

»Na also.«

»Herr Doctor, ich bitte um ehrenvollen Abzug.«

»Was soll das wieder für ein Spaß sein?«

»Nein, Herr Doctor, kein Spaß, aber wir können uns doch nicht so einfach in die Flucht schlagen lassen, die Burschen ertragen das nicht …«

»Das ist ihnen bloß gesund.«

»Wenn zum Beispiel Herr Doctor mit uns abmarschierten, so wäre dies eine große Erleichterung der Situation.«

»Aber gar keine Spur, ich gehe selbstverständlich mit Suck und Gisson.«

Mit einem verzweiflungsvollen Lächeln schaute er herauf: »Man soll Menschen nicht nutzlos demütigen und erbittern, Herr Doctor. Man soll keinen Haß säen.«

»So? und wie ist das dann mit dem Wetchy? Für eure Soldatenspielerei ist eine kleine Demütigung ganz am Platze.«

»Ja, aber die Burschen werden Sie hassen, Sie und den Suck und den Gisson«, und mit großer Herzlichkeit fügte er hinzu, »das möchte ich doch vermeiden.«

»Den Haß nehmen wir schon auf uns.«

Der Zwerg wurde noch eine Spur kleiner: »Heute haben Sie gesiegt, aber …«

»Halt, heraus mit der Sprache, Wenzel, wann und wo gedenkt der Marius zu siegen?«

»Aber, Herr Doctor, der Marius … wo denken Sie hin …«

»Reden Sie mir nicht ein, daß nicht diese ganze Soldatenspielerei auf ihn zurückgeht.«

Mit der seltsamen Mischung von Freimut und Verschlagenheit, die ihm zu eigen war, sagte er: »So eine Sache mit dem Marius … man kommt nicht los von ihm … aber er tut ja nichts, immer nur Ideen und es geschieht nichts … da muß man dann die Sache eben selber in die Hand nehmen.«

»Sie sind ein raffiniertes Aas, Wenzel, das sind Sie.«

»Ja, Herr Doctor, mag sein … aber der Marius ist ein guter Mensch, dem dürfen Sie nichts tun …«

»Und Sie werden jetzt gefälligst mit Ihren Mannen abmarschieren …«

»Wenn Sie's befehlen … aber was den Marius anlangt, so meine ich's im Ernst …« Er salutierte wieder einmal militärisch und ging.

Aber nach zwei Schritten wandte er sich nochmals um: »Was sagen Sie zu meinem Exerzieren, Herr Doctor? was, das klappt, das gefällt Ihnen doch auch?« Dann verschwand er definitiv in der Dunkelheit.

Ich kehrte zu meinem Platz zurück.

Unten hörte man Wenzels Stimme: »Vergatterung … über speziellen Wunsch des Herrn Doctors wird die heutige Übung abgebrochen … Zweierreihen bilden …«

»Wenzel«, rief Suck hinunter, »marschierst du wirklich ab?«

»Ja.«

»Ich will euch was sagen … wir bleiben auch nicht da heroben … wenn aber einer von euch uns etwa am Weg auflauern sollte, so wird geschossen …«

»Ich stehe für meine Leute ein«, sagte Wenzel großartig, »wir sind Soldaten.«

»Na, schön«, sagte ich, »uns soll's nur recht sein.«

»Achtung, Gleichschritt, marsch …« ertönte es unten. Und tatsächlich marschierten sie ab.

Suck und Mathias waren etwas enttäuscht. Es war ihnen zu einfach und zu friedlich verlaufen. »Ein paar hinter die Ohren hätt' ihnen gebührt, daß sie nimmer aufstehen können«, meinte der Mathias in seiner langsamen Bergmannssprache.

»Dazu wird sich leider noch Gelegenheit ergeben«, sagte ich.

Als wir am Knappenweg waren, hörten wir unten die Schar ihr Marschlied singen, und der Bergmathias, der noch immer mit dem gleichen Gedanken beschäftigt war, wiederholte: »Ein paar hinter die Ohren hätte ihnen gebührt, dann wäre ein für allemal Ruhe gewesen.«

»Nicht so lange der Marius im Dorf ist«, sagte Suck.

Der Wald war stockdunkel. Hie und da gab es einen Leuchtkäfer. Vom Dorfe her hörte man das Achte-Läuten. Die Tage wurden kurz. Durch die Bäume blinkten die Sterne des Augusthimmels, und je tiefer wir gelangten, desto dunkler wurde der Geruch der Luft, desto dichter drang die Ernte der Felder in den Wald. Und in der dunklen Verbundenheit, die aus der erntetragenden Erde aufsteigt und das Eigenleben des Menschen auslöscht, so daß er nur mehr zu lieben oder zu hassen vermag, oftmals kaum mehr wissend, ob den Nächsten liebend oder hassend umschlingt, haßten wir drei, die wir da hinabstiegen, den Marius und den Lax, aber auch den Wenzel und seine Schar. Und wir setzten unsere Pfeifen in Brand, als könnten wir mit unserem Rauch den Haß betäuben.

Bei den ersten Feldern des Oberdorfs verabschiedete sich Suck, um zu seinem Haus abzuzweigen. Ich ging mit Mathias zu Mutter Gisson.

Wir trafen die Irmgard und die Agathe bei ihr. Die beiden Mädeln waren gerade daran, sich zu verabschieden.

»Mitten in der Erntezeit geht ihr spazieren?«

»Ich habe mir die Mädeln heraufkommen lassen«, antwortete Mutter Gisson an Irmgards Statt.

»Nach der Ernte ziehe ich ganz herauf«, sagt Irmgard.

Und die Agathe sagt mit einem Blick auf Mutter Gisson: »Die Irmgard hat's gut.«

»Du hast's besser«, sagt Mutter Gisson, »du kriegst dein Kind.«

Die Fenster der Küchenstube standen offen. Draußen wechselten Abend und Nacht den letzten unendlich weichen Händedruck ehe sie einander ablösten, und die Stimmen derer, die wieder einen Tag ihres Lebens hinter sich gebracht hatten und nun bald zu Bett gehen wollten, klangen durch die Straße, Weiberstimmen, Kinderstimmen, und manchmal der Baß eines Mannes.

Da setzte sich die Agathe nochmals hin und lacht: »Ich warte es gleich bei Euch ab, Mutter Gisson … behaltet mich gleich hier.«

»Wirf sie hinaus, Mathias«, sagt Mutter Gisson.

Und Irmgard, am Pfosten der Stubentüre lehnend, sagt: »Er soll's probieren …«

»Euch nehm' ich zwei Dackeln am Fell und trag' euch hinaus«, kommt es aus dem Bart des Mathias hervor. Und richtig erwischt er die Agathe am Genick und ebenso die Irmgard; und die beiden lassen sich von ihm hinausexpedieren, oder zumindest bis zur Türe, denn da sträuben sie sich lachend noch einmal, wollen nicht in die Nacht hinaus, die wie ein Korb voll weichen schwarzen Samtes ist, in den sie hineingeworfen werden sollen. Doch es nützt ihnen nichts, sie werden hinausgestoßen, und als ob dadurch alle Falten der Nacht aufgeschüttelt worden wären, dringt durch die geöffnete Türe ein Schwärm von Motten und Mücken herein, die Glühbirne zu umtanzen.

»Gute Nacht«, tönt es draußen noch aus [der] weichen Wärme der Dunkelheit, und ferner schon, weicher »Gut' Nacht, Mutter.«

Dann kehrt der Mathias zurück und meint: »Ja, die Irmgard gehört herauf …« Und nach einer Weile sagt er: »Alle Kinder müßte man dem Miland wegnehmen, so lange er den Marius bei sich behält.«

Geheimnislos hart ist die Küche im elektrischen Licht, und Mutter Gisson sagt: »In Gefahr ist bloß die Irmgard.«

Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Die Gefahr ist in ihr, nicht im Marius … wäre sie so wie die Agathe, dann gäbe es keine Gefahr …«

»Und der Peter?«, wage ich einzuwerfen.

»Das war Liebe«, sagte sie und nach einer kleinen Pause fährt sie erst fort, »da war kein Haß im Spiel …«

»Ja«, sagt der Mathias, »der Haß …«

Und daraufhin erzählten wir ihr, was sich beim Zwergenstollen zugetragen hatte.

Der Mathias aber beschloß die Erzählung: »Und jetzt ist der Haß ausgebrochen zwischen uns und denen … besser wäre es gewesen, den Wenzel gleich abzuschießen …«

»Nein«, sagte Mutter Gisson, »der Haß geht gegen das Wissen.«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Ihr den Marius bei Euch aufgenommen hättet, als er Euch darum bat«, erwiderte ich.

Sie schüttelte den Kopf: »Er wäre von selber wieder davon …«

»Er hat Euch aber um's Wissen gebeten.«

»Er hat's nicht gewollt, er hat's nicht wollen können, denn er ist einer, der vom Wissen kommt und das Wissen verliert, und so einer findet nimmer den Weg zurück zum Wissen, selbst wenn er wollte … aber er kann nicht wollen.«

Und dann sagte sie: »Er wandert.«

»Das tun wir alle, Mutter Gisson.«

»So meinst du's, Herr Doctor, weil du ein Mann bis[t] … nur die Männer wandern … Frauen bleiben und wissen …«

»Das ist bitter, Mutter, unsereiner möchte auch gerne wissen.«

»Sei zufrieden mit dem, was du hast.«

»Nein, eben nicht.«

»Herr Doctor«, sagte sie beinahe feierlich, »glaubst du denn, daß es irgend einen Mann gibt, der mehr kann als das Wissen wollen? das ist ja gerade sein Wissen! deswegen kann es ja wachsen … Bei uns Weibern ist's anders. Wir haben unser Wissen, es kann klein sein, es kann groß sein, es kann sogar schöner werden, aber es kann nicht wachsen … wir können es nicht mehren, wir können's bloß behalten, wir müssen's behalten. Das ist unsere Liebe … eure Liebe aber, und dafür lieben wir euch ja, wir blöden Weibsleut, ist das Wissen-wollen.«

»Und der Marius?«

»Der glaubt, daß er weiß … er glaubt's, weil er mit der Ruten gehen kann und weil er spürt, wenn's einem in der Schulter reißt … der sitzt auf seinem Wissen wie ein Weib … und deswegen kann er nimmer wissen wollen, deswegen ist er ohne Liebe … ein Zauberer ist er, sonst nichts.«

»Ja.«

»Ein Weib, das übers eigene Wissen hinaus will, das ist ohne Liebe und ist Haß, und ein Mann, der auf seinem Wissen ausruht, der ist auch der Haß.«

»Mutter Gisson, wenn einer wandert, ruht er doch nicht aus.«

»Wandern«, sagte sie, »Wandern, ja … sie wandern gern, die Zauberer, die Zigeuner … sie glauben, daß sie ihren Haß auswandern können mit den Füßen … und wenn sie nicht wanderten, dann wüßten sie von ihrem Nicht-Wissen … wer haßt, ist ein armer Teufel, und er braucht auch immer einen Teufel, den er hassen kann …«

»Er aber nennt es Gerechtigkeit.«

Sie schaute mich an: »Das ist doch …«, und sie öffnete ihre leeren Hände, spreizte ein wenig die Finger, deren Nägel schon greisenhaft bläulich verfärbt waren, und es war, als ließe sie durch die Finger das nackte Nichts hindurch- und davonrinnen. »So ist das«, sagte sie, als sie die Hände sinken ließ.

Wo ist das Wissen, nach dem wir fahnden und nach dem der Marius nicht mehr fahndete? das geheimnisvoll Unerreichbare? Und ich ahnte, daß es ein schlichtes und nüchternes Wissen um das menschliche Herz ist und daß solches Wissen alles Gewesene, alles Seiende, alles Künftige in sich einschließt: denn alles, was geschieht, geschah und je geschehen wird, ist Spiegel des menschlichen Herzens, und wer um das Herz weiß, der weiß um das Ur-Alte und um das Ur-Neue, kein Zauberer ist er mehr, sondern ein Erkenner, ein Seher, einer, dessen Wort, dessen schlichtes Alltagswort so stark ist, daß es jederzeit zur ganzen Natur sich zu entfalten vermag. Dies ahnte ich vor dem Antlitz der alten Frau, die mir gegenübersaß und mich anlächelte.

»Und trotzdem, Mutter, sagt Ihr, daß seine Zeit gekommen ist.«

»Ja«, sagte sie, »weil der Haß keinen Ausweg mehr hat, sie müssen dem nachlaufen, der haßt und der ihnen das Wissen verspricht, das er nicht hat.«

»Das Gold«, sagte ich.

»Nur die Unterdörfler«, sagte der Bergmathias.

»Wer zaubert, verführt«, sagte Mutter Gisson und lachte ein wenig, »wer verführt, der zaubert.«

»Auch der Miland ist ein Unterdörfler«, sagte ich, »und auch er ist verführt, obwohl er zum Wissen möchte und obwohl er das Gold nicht will.«

»Der Miland«, sagte Mutter Gisson, »der Miland, dem hat man die Liebe nicht gegeben, die er gebraucht hätte, und jetzt sucht er den Bruder und kann den Haß nicht sehen.«

»Und die Irmgard?«

Mutter Gisson seufzte: »Die liebt ihn, die war' schon richtig, aber er ist eben der Vater …«

Ich sagte: »Vielleicht liebt sie den Marius, die beste Frau kann sich in einen Halunken verlieben, wenn er ein Verführer ist …«

Jetzt lachte Mutter Gisson wieder: »Aber nicht, wenn er kein Mann ist … ich hab' dir ja schon gesagt, daß er keiner ist …«

»Was? das geht so weit? nichts, gar nichts?«

»Natürlich geht's so weit mit seinem Stolz, mit seinem Weiberstolz … mit dem kann sich jede ruhig ins Bett legen …«

»Oder gar keine«, sagte ich.

»Ja, gar keine … deshalb ist er ja auch so grausam in seinem Haß, grausamer als jede Frau …«

Des Menschen Vorrecht ist die Suche nach dem letzten Versenken des Ichs, und Lieben heißt für ihn Schicksal-auf-sich-nehmen, Lieben heißt für ihn, Verborgenstes-erkennen, die Verborgenheit einer unerkennbaren Zukunft und einer zum Vergessen versunkenen Vergangenheit in ihrer Ganzheit aufnehmen, und das geliebte reale Wesen ist ihm nichts anderes als eine Schale all der Verborgenheit, die er selber als seine vergessene Vergangenheit und dunkle Zukunft in sich trägt, Verborgenheit, ihm selber unerreichbar und die jedes Menschenwesen dennoch offenbaren will, um der Liebe teilhaftig zu werden, auftuend seinen innersten, im tiefsten Schacht versunkenen Ich-Kern liebend und bereit, geliebt zu werden; doch wenn die Liebe solcherart das Innerste zu erspähen trachtet und das Innerste darbietet, so kümmert sich der Haß um keinerlei Verborgenes, er kümmert sich um keinen Wesenskern, um keine Vergangenheit, um keine Zukunft, um keinerlei Verborgenheiten des Schicksals, sondern er haßt das Reale, die Oberfläche, das sichtbar Vorhandene, und wenn die Liebe unermüdet und immer wieder dem Innerlichsten zustrebt, so sieht der Haß immer nur das Äußerlichste, und dies mit derartiger Ausschließlichkeit, daß bei aller Furchtbarkeit und Grausamkeit sich der hassende Teufel niemals von einer gewissen lächerlichen und dilettantischen Wirkung freimachen kann. Der Hasser ist ein Mann der Lupe, und wenn er einen haßt, so kennt er genau dessen Oberfläche, angefangen von den Fußsohlen in den Schuhen bis zu den luftbewegten Haaren auf dem gehaßten Kopf. Will man eine Auskunft haben, so wende man sich an den Hassenden, will man aber wissen, wie es wirklich ist, so frage man den Liebenden.

Und der Bergmathias sagte: »Er haßt den Berg, auch wenn er mit der Rute auf ihn herumklettert und ihn erkennt.«

Und Mutter Gisson sagte: »Wär' er ein Mann, ich hätte weniger Angst um die Irmgard … mit einem Mann wird jedes Mädel fertig … aber seine Stärke ist das Nichts …«

»Mutter Gisson«, sagte ich, »Ihr aber seid stärker als das Nichts.«

Sie sagte: »Meine Angst ist größer als die seine.«

»Ja, Mutter, aber Eure Angst gilt der Irmgard, nicht Euch selber.«

»Angst ist Angst«, sagte sie.

Und ich sagte: »Einer, der den Welterlöser spielen will und es nicht ist, der kann Euch nichts anhaben.«

Da sagte sie: »Der richtige Erlöser schickt immer die falschen voraus, damit sie für ihn reinen Tisch machen … erst muß der Haß kommen mit seiner Angst, dann die Liebe.«

»Himmelherrgott, Mutter, jetzt fangt Ihr auch schon mit den Erlösern an … die Leute sollen sich vernünftig benehmen, dann brauchen sie überhaupt keinen Erlöser, dann hätten sie auch schon ihre Liebe … sie brauchten bloß auf Euch ein wenig zu hören.«

Sie lächelte mit ihrer ruhigen Sicherheit: »Die Welt erlösen … ja, immer dreht es sich darum, … wenn die Männer zum Wissen wollen, und die Frauen ihr Wissen haben und es bewahren, so oder so, Herr Doctor, es geht immer ums gute Sterben … und wenn ein Mensch kommt, der ins Wissen geht und es so sehr will, daß er es zeigen kann und in ihm sterben kann … dann ist es das Wissen und die Liebe zugleich … die Weiber sind bloß hier und auch der Marius ist bloß hier, und wo die Männer eigentlich stecken, das wissen sie wohl selber nicht … was, Herr Doctor?«

»Nein, das wissen wir nicht.«

»Aber wenn einer kommt, der hier und dort zugleich ist, in seinem Leben und seinem Tod, ein Mensch, der beides ist …« sie nickte mir zu, »Herr Doctor, da könnt' es schon so was geben, wie Erlösen … ist's nicht so?«

»Ja, alles gut und schön, Mutter, aber das ist noch lange kein Grund, daß Ihr dem Marius weicht.«

Sie lächelte noch immer: »Wir weichen, wenn die Zeit da ist, und wenn es reif ist, ist es auch gut, was geschieht … es muß bloß reif werden.« Und mitten aus ihrem stillen Lächeln heraus fragte sie: »Magst keinen Schnaps, Herr Doctor?« Vielleicht wollte sie auch nicht mehr von dem Marius und nicht mehr von der Angst sprechen.

»Ja«, sagte ich, »natürlich will ich einen Schnaps, aber Ihr dürft dem Marius trotzdem nicht weichen … ich jedoch muß heim, die Karoline wartet mit dem Abendessen auf mich.«

So bekam ich meinen Schnaps und ging heim, mit ein wenig schlechtem Gewissen, aber auch mit einem tüchtigen Hunger, denn es war neun Uhr geworden. Das Tal lag zu meiner Rechten, ruhend vor Arbeit, ruhend in der Frucht seines Bodens, ruhend in einer Welt, die sich bereits selbst zurückholte, ehe sie sich zum Schlaf falten wird, und wenn man tief einatmete, glaubte man das Reifen der Äpfel in den Bauerngärten unten zu spüren. Ging ich selber ins Wissen? Als ich nach dem Abendbrot in mein Arbeitszimmer kam, um die noch nicht gelesenen Nummern der medizinischen Wochenschrift durchzusehen, da war es mir einen Augenblick lang, als hätte ich das Wissen, das mir zugeteilte Wissen geflohen: war es nicht auch Verachtung für die medizinische Forschungsarbeit gewesen, Verachtung für die stillen und winzigen Erfolge der Laboratoriumsarbeit, Verachtung für das, was man wissenschaftlichen Fortschritt nennt, war es nicht solche Verachtung, die mit dazu beigetragen hatte, daß ich die Stadt verließ? War ich nicht nur überheblich und ungeduldig gewesen? überheblich, weil ich meinte, dies alles im Stiche lassen zu dürfen, vertrauend darauf, daß bloß die Festigkeit und der innere Wille des Arztes am Krankenbett gelte, gleichgültig, ob er dieses oder jenes oder am besten gar kein Mittel verschreibe? ungeduldig, weil ich nicht durch das Wissen zur Liebe wollte, sondern in ihrer unmittelbaren Ausübung, in einer gewissermaßen pflichterfüllten Liebe, die von Krankenbett zu Krankenbett geht und bloß deshalb nicht Haß ist, weil das Hassen nicht zum Beruf des Arztes gehört, hoffend, daß mir mit solcher beruflicher Liebe auch das neue und endgültige Wissen anfliegen werde? war dem nicht so? war nicht auch ich nur ein kleiner Erlöser, zufrieden mit seiner kleinen Zauberei? hatte nicht auch ich die Freiheit, die mir gegeben war, über mein Leben zu entscheiden, schlecht genützt? Zu welchem Wissen strebte ich jetzt noch? Doch während ich so dasaß bei der mückenumschwärmten Lampe, lesend und doch kaum mehr lesend, überlegend, ob ich nicht doch noch zu Wetchy und zu dem Kinde schauen sollte, das nicht gesund werden wollte, hörte ich die Stimme des irdischen Seins: halte aus, halte noch diese Ernte aus, möge sie auch dürftig sein, ackere noch einmal, sei ein treuer Knecht, beginne nochmals, beginne von vorne, denn immer wieder stehst du am Anfang der Unendlichkeit, des Wissens und der Liebe.


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