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I.

Vielleicht wäre es richtiger, mit meiner Kindheit zu beginnen, ja, vielleicht würde es genügen, ein kurzes Stück dieser Kindheit wahrhaft festzuhalten und niederzuschreiben, daß es damals ein großes Stadthaus gab und in ihm eine Stiegenhalle, in deren oberstem Stockwerk ich stand, hinunterspähend in den hallenden und kühlen Abgrund. Denn auch dies will ich niemals vergessen. Es würde vielleicht auch genügen, eine einzige Minute des gestrigen Tages aufzuschreiben, sie festzuhalten, damit [sie] aufgerichtet bleibe in dem sinkenden Dahinziehen der Himmel und der Berge, in dem mählichen Verdunkeln und Erhellen, das so leicht und so schwer durch uns hindurchflutet, doch ich will des Märztages gedenken, der nun schon Monate, ja, beinahe ein ganzes Jahr zurückliegt, so ferne wie der gestrige Tag, so nahe wie die Kindheit, denn so und nicht anders ist unsere Erinnerung: sie hebt das eine oder das andere heraus, und sie trifft damit das Leben und das Sterben zugleich, sie erfaßt einen einzigen Augenblick, der vielleicht an sich gar nicht bedeutsam ist; aber da sie ihm den Sinn seiner Gewesenheit und seiner Dauer verleiht und das menschliche Sein in die Natur zurückführt, jenseits von Tod und Leben, ins Unabänderliche, so will ich jenes Märztages gedenken, obwohl er sich gewiß nicht wesentlich von anderen Tagen unterschied und trotzdem voll innerer Bedeutsamkeit gewesen ist.

Es war ein Tag, an dem die Sonne schien und der Winter in die Schattenwinkel der Welt zurückgedrängt war: noch waren zwar auf der Landstraße hie und da die Furchen und Radspuren durch Eisstreifen eingeebnet, aber braun lagen bereits die Felder im Tale, wissend vom Grün, und grün tauchten bereits Wiesenflecken zwischen den Schneeflecken auf, Wiesen mit Gras, das sich erneuert und zwischen [dem] auch schon die Gänseblümchen wachsen, die Welt war wie ein großes erwachendes Gänseblümchen, und unmerklich nur bewegten sich die kleinen weißen Wolkenfetzen im ruhenden Blau der Sonne.

Ich hatte die wenigen Patienten, die zu mir gekommen waren, erledigt und befand mich auf dem Weg zu meiner Ordination im Unterdorf. Zweimal wöchentlich ordiniere ich da unten, in dem Raum, den ich mir hierzu im Wirtshaus Sabest eingerichtet habe, und außerdem Sonntags, immer zwischen zwölf und zwei. Im Winter benütze ich die Landstraße, die von Unter- nach Ober-Kuppron hinaufführt und sich von dort zum Kuppronsattel hinüberwendet, wenn Schnee liegt fahre ich sogar oft mit den Skiern ab, im Sommer aber nehme ich den Waldpfad. Der Rückweg freilich ist weniger angenehm; man braucht immerhin fast eine Stunde um hinaufzukommen, indes darf sich ein Landarzt um so was nicht scheren, er muß marschieren können, auch wenn er schon über fünfzig ist. Und manchmal gibt es ja ein Gefährt, einen Wagen oder ein Auto, das mich mitnimmt; das gehört zum Brauch der Gegend und ist nur richtig.

Es war Mittag und wie ein großes blaues Lied, als ich nach Unter-Kuppron kam; die Kirchenuhr schlug, und gleich darauf ließen die beiden Glöcknerbuben in das Lied des Himmels hinein auch noch die Mittagsglocke singen. In der Dorfstraße traf ich den Fremden.

Zwischen einer geschwungenen scharfen Nase und einem schon lange nicht rasierten Stoppelkinn hing ihm ein dunkler Gallierschnurrbart über die Mundwinkel und machte ihn älter aussehend als er es wahrscheinlich war; ich schätzte ihn auf dreißig oder etwas darüber. Er beachtete mich nicht, doch als er vorüber war, bildete ich mir trotzdem ein, seinen Blick erhascht zu haben und daß dies ein träumerisch starrer und dennoch kühner Blick gewesen sei. Vermutlich habe ich dies bloß aus seinem Gang erraten, denn dieser Gang war trotz offenkundiger Müdigkeit, trotz miserablen Schuhwerks beschwingt und streng zugleich, wahrlich, man konnte es nicht anders ausdrücken, es war ein beschwingtes und strenges Latschen, und es war, als würde, als müßte solches Gehen geleitet sein von einem scharfen, in die Ferne gerichteten Blick. Es war nicht der Gang eines Bauern, eher der eines fahrenden Gesellen, und dieser Eindruck war durch eine gewisse ungelüftete Kleinbürgerlichkeit, die hinter dem Manne herwehte, verstärkt, einer kleinbürgerlichen Selbstgerechtheit, deren Eindruck vielleicht von dem dunklen Anzug, vielleicht von dem schäbig im Kreuz baumelnden und beinahe leeren Rucksack bedingt war. Ein gallischer Kleinbürger.

Beim Wirtshaus angelangt sah ich nochmals die Straße entlang. Der Mann verschwand soeben in der Kirchengasse.

Vor dem Wirtshaus stand ein mit weißstaubigen Zementsäcken beladenes Lastauto; es mußte gerade eingelangt sein, über dem Kühlerventil zitterte ein kleines Wölkchen heißer Luft, ein sanftes Kräuseln irdischen Äthers, Vorbote des Sommers.

Die Hauseinfahrt ist von den Türen zur Gaststube und zu der kleinen Handlung, die gleichfalls von Sabest betrieben wird, flankiert. Beide Lokale können aber auch von der Einfahrt aus betreten werden. Zur Gaststube führen ein paar Stufen hinauf, die Handlung dagegen befindet sich auf Straßenniveau. Die Einfahrt, deren Schatten mich nun aufnahm, ist so hoch und breit, daß ein Heuwagen hindurch kann, sie ist unnützerweise wie ein Zimmer ausgemalt und riecht immer nach den leeren Bierfässern, die hier warten, von der Brauerei abgeholt zu werden. Hier ist auch mein Doctorschild angebracht. Da ich Tabak brauchte, ging ich in die Handlung, fand aber niemanden dort; auch in der anschließenden Fleischhauerei, einem kleinen in den Hof vorspringenden neueren Anbau mit flachem Dach war keine Menschenseele vorhanden. Die grauen und blauen Fliesen waren aufgewaschen und mit weißem Sand bestreut, die Stahlleisten mit ihren Haken waren blank geputzt; kein Fleisch hing daran, bloß eine Anzahl langer Dörrwürste hing still an den Wänden. Der unebene, zerschnittene Hackstock war gleichfalls sauber gewaschen, freilich ohne daß das schwarzeingefressene Blut aus dem Holze zu entfernen gewesen war, und so sauber und kühl die Luft hier auch roch, sie war doch wie eine frische und große Wunde. Ich ging in die Wirtsstube hinüber.

In der Stube saßen der Chauffeur und seine beiden Mitfahrer an dem langen Ecktisch und hatten ihr Bier vor sich stehen. Sonst gab es keine Gäste im Lokal, weder an dem zweiten Langtisch, noch an dem runden Honoratiorentisch beim Fenster, der als einziger mit einem blaugewürfelten Tischtuch bedeckt war und neben dem weißen Zündstein einen Behälter mit groben Zahnstochern trug.

»Der hat ein Maul«, sagte gerade der Chauffeur. Ich nahm an, daß es der Chauffeur war; er saß am dicksten da und sah wohlsituierter aus als die beiden andern. Und da es zum Wesen beginnender Behäbigkeit gehört, Worte und Gedanken wie die anderen Dinge des Lebens gründlich zu benützen, wiederholte er nach einer kurzen Pause des Überlegens: »Der hat ein Maul.«

»Ja, das hat er«, sagte ich, der Eintretende, zum Gaudium der Anwesenden. Aber obwohl ich es zu diesem Zwecke gesagt hatte, hatte ich doch den Fremden dabei im Sinn, ja, ich wußte beinahe mit Sicherheit, daß der Chauffeur ihn gemeint hatte.

Auch Peter Sabest, der achtzehnjährige Wirtssohn, der hinter der Schank stand, lachte. Er hatte ein erwachsenes Gesicht aufgesetzt und war mit dem Drehen einer Zigarette beschäftigt. »Womit kann ich dienen, Herr Doctor?« fragte er.

Ich verlangte den Tabak, den ich in der Handlung nicht bekommen hatte, und er gab mir [ein] Päckchen aus dem Glasschrank hinter der Theke.

»Du bist ja heute Alleinherrscher im Hause, Peter.«

»Nicht für lange«, meinte er bedauernd, »sie sind bloß zum Markt gefahren.«

Die Chauffeure, oder richtiger, der Chauffeur und seine beiden Helfer hatten aufgemerkt, als ich per Doctor tituliert wurde, ich wurde ihnen vertrauenerweckend, und da sie den Spaß fortzusetzen wünschten, sagte der eine, es war der ältere: »So einer hat nichts und nimmt das Maul voll.«

»Leeres Maul muß reden«, entdeckte der Jüngere, ein kleiner Mensch mit rundem Gesicht und einer Stupsnase, den man für einen Tschechen hätte halten können, gewissermaßen für einen jungverheirateten Tschechen, denn er war sicherlich kaum mehr als fünfundzwanzig, und an seinem Finger steckte doch schon ein Ehering.

»Na«, meinte ich, »bei den Weibern stimmt das nicht ganz, die reden auch mit vollem Mund … oder etwa nicht, junger Ehemann?«

Da mußten sie wieder furchtbar lachen, aber Peter, der die Blondheit und die weiße Haut seiner Mutter geerbt hatte, errötete, genau so wie diese es zu tun pflegte. In wenigen Jahren wird er dies freilich nicht mehr zustande bringen; da wird seine Haut ein weißliches, weißes Leder sein, über eine Fettschicht gespannt, die kein Erröten zuläßt.

Ich hatte meine Pfeife gestopft, in Brand gesteckt und setzte mich zu den Chauffeuren.

»Was hat er denn geredet?« fragte Peter.

Der ältere der beiden Mitfahrer hatte seinen Rock abgelegt, wohl weil die Sonne draußen so sommerlich schien, er griff sich ins Hemd und kratzte seine Brust: »Ja, wovon hat er eigentlich geredet?«

Der Chauffeur machte eine unwillige Gebärde des Nichtwissens: »Wenn man fährt, paßt man auf die Straße auf.«

Ich meinte: »Zum Teufel, wenn ihr nicht wißt, was er geredet hat, so hat er vielleicht gar nicht geredet.«

»Ich bin rückwärts auf den Säcken gesessen«, entschuldigte sich der Jüngere.

»Unsinn hat er verzapft«, sagte der Chauffeur.

»Ich glaube, es war ein Zigeuner«, sagte der ältere Mitfahrer und kratzte weiter. Der Floh schien den Weg zum Rücken genommen zu haben.

»Ein Gallier«, sagte ich.

»Ah«, sagte der Chauffeur wegwerfend, weil er sich unter einem Gallier nichts vorstellen konnte.

»Schön, daß ihr ihn mitgenommen habt«, sagte ich, »der Kerl war hundemüde.«

Sie sahen mich erstaunt an, weil ich wußte, von wem die Rede war. Und sie waren ein wenig verärgert darüber. Kein Spaß mehr.

»Ich nehme sonst nie einen mit«, brummte der Chauffeur, »schon weil's verboten ist.« Er schob die Ledermütze zurück. Seine spärlichen Haare klebten an der Stirne.

Der große Leonberger des Wirts kam, die Flanken an den Stühlen und Tischkanten reibend, nun langsam aus dem Hinterzimmer hervor. Als Hundebesitzer werde ich von ihm geschätzt, er legte den Schädel mit dem stets leicht geifernden Maul auf meine Knie und in seinem blutunterlaufenen Auge war die wohlwollende Trauer einer treuen Gesinnung und einer maßvollen Rede: »Da bist du ja wieder, Mensch, und du riechst teilweise nach Doctor und teilweise nach deinem Hund Trapp und teilweise nach den anderen Dingen des Lebens, von denen ich aber jetzt nicht weiter sprechen will.«

»Ja«, entgegnete ich, »ja, Pluto, der Trapp läßt dich schön grüßen.«

»So sei es«, antwortete das Auge Plutos.

»Geh' hinaus, Pluto«, sagte ich, »draußen ist ein Märztag, dessen Sonne nach Sommer riecht.«

»Ja«, antwortete er, »ich weiß es, ich bin auch heute schon draußen gelegen, und es war mir angenehm.«

In der Wirtsstube war es kühl, wenn auch infolge der geschlossenen Fenster etwas stickig. Der säuerliche Geruch nach Küche und Bier und Wein, nach Schweiß und halbgarem Fleisch, dieser Ritter- und Landsknechtgeruch, in dessen Dunst das Abendland die Welt erobert hat und der nun nur mehr in Wirtshäusern ein kleinbürgerliches und haustierhaftes Dasein fristet, freilich immer noch bereit, hervorzubrechen und über Schlachtfelder sich zu legen, er war auch hier vorhanden, und die Chauffeure schmeckten ihn.

Der ältere Mitfahrer gab die Suche nach dem Floh auf; er zog die Hand aus dem Hemd und betrachtete bedauernd seine leergebliebenen derben Finger.

Auf einmal wurde der Chauffeur redselig: »Haben Sie je so einen Unsinn gehört, Herr Doctor? wir sollen keusch leben, damit es auf der Welt besser wird …?«

»So? das hat er verzapft?«

»Ja«, der Chauffeur trank sein Bier aus, »so ein Schwein.«

»Du hast ihm aber zugestimmt«, behauptete jetzt der ältere Mitfahrer.

»Ich? ich habe mich nicht darum gekümmert, ich habe auf die Straße geschaut … wenn einer Ja gesagt hat, dann warst du es.«

»Warum soll ich nicht Ja sagen? ich pfeif' ohnehin auf die Weiber … ob nun davon die Welt besser wird oder nicht.«

Etwas schuljungenhaft und weil er sich am Gespräch beteiligen wollte, warf Peter ein: »Es wird ein Pfaff gewesen sein.«

»Pfaff hin, Pfaff her«, meinte der junge Ehemann, »wenn so einer über ein Mädel kommt, dann redet er anders daher.«

Die Messinghähne am Schankkasten glänzten wie der Märzmittag draußen, drüben in der weißbeleuchteten Häuserfront glühten dunkel die Fenster und bemühten sich, die Wellen des Sonnenhimmels nachzuahmen, es ist die Zeit, in der das Licht wie ein Schwarm gläserner Mücken sich auf die Erde senkt, sie zu befruchten.

»Und ich will von dem Gerede nichts hören«, setzte der junge [Mann] fröhlich fort, »das ist alles ein Quatsch.«

»Und Ihre junge Frau will auch nichts davon hören«, sagte ich.

»Nein, das will sie nicht.« Und er lachte mit der glücklichen Miene eines Menschen, der ein Wunder erfahren hat und ihm verhaftet bleiben will.

»Na«, sagte ich, »vielleicht bekehrt er Sie noch. Setzen Sie sich jetzt doch zu ihm.«

»Nein«, sagte der Chauffeur, und obwohl er doch mutig aussah und mit seiner Lederkappe einem Lokomotivführer glich, bekam er dabei eine etwas scheue Stimme, »nein, er mag ruhig auf seinen Säcken bleiben, denn wir nehmen jetzt den Kerl nicht weiter mit, ich kann ihn mit seinem Gerede nicht brauchen … die Straße übers Gebirge ist lausig, eine Serpentine nach der andern, und der schwere Wagen … ich muß froh sein, wenn ich drüber bin, ehe es ganz dunkel wird.«

Die Leute sagten »Grüß Gott« und verließen die Wirtsstube. Ich sah ihnen durchs Fenster nach. Unschlüssig spähten sie links und rechts die Straße entlang, dann kletterten sie auf ihre Plätze, zweimal drückte der Chauffeur den Anlasser, und nach einem kurzen Ruck und einer Wendung des Volants ratterten sie ab. Der Mitfahrer auf den Säcken bemerkte mich beim Fenster und winkte mir.

»Sind Patienten droben?« fragte ich Peter, als ich mich wieder zur Stube wandte.

Nein, es sei noch niemand gekommen, und Peter schien damit zu rechnen, daß ich das Gespräch mit ihm fortsetzen werde, nicht nur, weil er sich allein hier langweilte, sondern weil er überhaupt in einem guten Verhältnis zu mir stand. Und wer der Landstreicher gewesen sei, von dem wir gesprochen hatten?

Aber da konnte ich ihm keine Auskunft geben. Vielleicht hatte der Chauffeur den Menschen nun doch wieder mitgenommen, und er saß nun neben ihm, während er den Wagen langsam nach dem Oberdorf hinaufsteuerte und der Steigung halber unausgesetzt den Geschwindigkeitshebel zu betätigen hatte. Aber vielleicht auch hatten die drei Männer den Landstreicher jetzt auch schon wieder vergessen, hatten sich mit jedem Ruck der Kupplung ein Stück der Erinnerung aus den Köpfen beuteln lassen und dösten nur mehr noch vor sich hin. Ich zumindest hatte alle Lust, zu vergessen. Und so ging ich durch das Hinterzimmer auf den Hof hinaus, von dem die angebaute Treppe in den Oberstock und zu dem offenen Gang führt, an dem die Fremdenzimmer und die Wohnung Sabests, aber auch meine beiden Räume, Wartezimmer und Ordination liegen.

Schön brannte die Sonne herab. Das rauhe Eisengeländer, über das ich mich lehnte, floß heiß durch meine Hand, und das Lied des Vorfrühlings war beinahe verstummt, so erstaunt war es über seine eigene Kraft. In der Mitte des Hofes steht mächtig und verwunderlich ein großer Kastanienbaum: wäre er nicht von den Mauern des Hauses und der Ställe so geschützt, er hätte in dieser rauhen Höhenlage nimmer gedeihen können. Seine unbelaubten Äste warfen verschnörkelten Schatten, so schlief ihr Grün in ihnen.

Während ich so meine Gemächlichkeit sonnte und auf das immer leichter werdende Murmeln des Lichtes lauschte, hörte ich das Rollen eines Wagens in der Hausdurchfahrt, und die Wirtsleute kutschierten herein, aber nicht nur sie, sondern mit ihnen auch ein Kalb, ein Stierkind, ein Kuhkind, das mit gefesselten Beinen auf dem Plateau des einspännigen Fleischerwagens lag und aus seitwärts gedrehtem Kopf zu dem Kastanienbaum emporsah, ohne dessen Seltenheit zu erkennen.

Das Gefährt hielt an. Sabest sprang vom Bock, half auch seiner Frau herunter, und während sie ihre Einkäufe aus dem Wagen räumte, hob Sabest mit Hilfe des Hausknechts, der aus der Remise herausgekommen war, das Kalb herunter, entfesselte es, so daß es auf wackligen Beinen dastand, und band es lose an das Wagenrad. Dann wurde das Pferd ausgespannt.

Der Theodor Sabest ist nicht so, wie man sich einen Wirt und Fleischer vorstellt, er kann kein Fett ansetzen; er paßt eher zu seinem Kaufmannsladen. Aber das ist nur der erste Eindruck. Denn man merkt sehr bald, daß er zum Typus der magern Metzger gehört, ja, man möchte beinahe sagen, zum Typus der magern Henker, und es fällt ihm schwer, die Gemütlichkeit zu produzieren, ohne die ein Wirtsgeschäft nun einmal nicht zu führen ist. Aber man kann sich vorstellen, wie dieser brutale und leidenschaftliche Mann einst um das blonde Mädchen, das jetzt seine Frau ist, geworben haben muß. Sie, die trotz ihrer Blondheit auch nicht gerade sanft ist, ist eine richtige Wirtin geworden, tüchtig und von jener offenen und doch verschlagenen Sinnlichkeit, die zwischen Küche und Alkohol ihren eigentümlichen Platz hat. Wenn man sie ansah, bedauerte man es, daß sie nicht mehr Kinder hatte, doch ein Henker will keine Mutter, sondern eine Geliebte zu Hause haben, er hegt den Urwald, in dem die Menschen zu ihrem Glück, zu ihrem Unglück zusammengeführt werden, er höhnt jene, die roden und hinausstreben aus der feuchten Dunkelheit, denn er weiß, daß der Mensch, mag er auch Häuser mit breiten Toreinfahrten bauen oder gar mit Autos sich fortbewegen, niemals über den Rand des Waldes vordringt, er weiß, daß Anfang und Ende alles Menschlichen in der Dunkelheit des Urschlafs und des Vergessens liegen, daß jede Handlung, jedes Gespräch, jedes Tun, jedes Lassen in die Finsternis des Ur-Gestrüppes zurückführen können, und daß die düstere Flamme stets bereit ist, hervorzubrechen, uns zu verzehren. Wohl ist anzunehmen, daß der Wirt Theodor Sabest sich über diese Dinge wenig Gedanken machte, und es mag auch sein, daß ich, der Arzt, der manches um seine Ehe weiß, ein wenig zu viel in seine Seele lege und wenn man ihn selber fragte, so würde er wohl antworten, daß sie aus lediglich pekuniären Gründen es bei einem einzigen Erben bewenden ließen.

Doch da nun auch Pluto herausgekommen war und gutmütig an dem Kalb schnupperte, ja, mit schwerer Pfote es sogar zum Spielen aufforderte, wurde es unruhig, zerrte am Strick und sprang steifbeinig vorne hoch. Und das sah beinahe unwürdig aus für ein Geschöpf, das nun doch bald zum Tode geleitet werden sollte. Da ging ich in meine Ordination.

Dies war der erste Tag, den ich beschreiben wollte.


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