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Irmgard Miland war eine Gisson, ihre Mutter war eine Gisson, aber die echteste Gisson war ihre Großmutter, obwohl der Name Gisson nur der erheiratete war. Bei Frauen so starker Art empfindet man es stets als Ungehörigkeit, daß sie des eigenen Namens verlustig werden, statt ihn auf Tochter und Enkelstochter und Aber-Enkelstochter zu vererben. Indes, im Falle der Gissons, der in mancher Beziehung als ein Ausnahmsfall zu betrachten ist, ist der Name Gisson von »Mutter Gisson«, wie sie allgemein genannt wurde, so restlos aufgesaugt, so restlos übernommen worden, daß man gar nicht auf den Gedanken kommt, es müsse doch einmal auch einen männlichen Träger dieses Namens gegeben haben, und wenn man daran denkt, so scheint es einem, als sei der Mann dieses Namens gar nicht gestorben, wie er es zweifelsohne getan hat, sondern als sei auch er aufgesaugt worden von der Frau, als sei er nicht eingegangen in die Erde, die seine Gebeine birgt, sondern in die Frau, und dies nicht etwa, weil er ein Schwächling war, sondern weil man sich ihn nur als einen starken, ja, gewaltigen Mann vorstellen kann, der in seiner Stärke sich solches Verlöschen gewünscht haben mochte. Ja, das geht so weit, daß man bei seinem Sohn, dem rotbärtigen Mathias, der ihm an Kraft und mächtigem Aussehen angeblich durchaus gleicht, immer wieder vergißt, daß auch er den ein wenig fremdländisch klingenden – derartiger gibt es einige hier im Oberdorf – und schönen Namen Gisson trägt; ruft man ihn, so heißt er einfach der Bergmathias.
Jetzt war es April. Auf dem vielfach schon schwarz gewordenen Schnee, der an vielen Stellen schon wieder schwarze Erde und bleiches Gras sehen ließ, klatschte schwerer Regen vom tiefen Himmel, und Himmel wie Regen schienen bereit, sich alsbald wieder zu Schnee zu verwandeln. Mit verwischten Umrissen tauchten die Dinge aus dem Nebel, wenn man sich ihnen näherte, Tannen, von denen es tropfte, Häuser, auf deren Dächern der Rauch wie ein leichter Nebelbrei lag.
Es war etwa elf Uhr, als ich Sucks Haus, das ein wenig außerhalb des Oberdorfs liegt, verließ und mich auf den Heimweg machte. Es war ein unangenehmer Fall; die Frau hatte eine Furunkulose, fieberte und sollte das Kind nähren, und auch dieses gefiel mir nicht mehr recht. Und wie immer bei derartigen Anlässen wurde ich ärgerlich ob des Fortbestandes der Menschheit unter solch erschwerten Umständen. Warum gaben sie es nicht lieber auf? bloß weil sich jeder fürchtet, als einer jener letzten Menschen sterben zu müssen, die dies mangels Nachwuchs allein und ohne Hilfe zu besorgen hätten? Natürlich galt es jetzt, auf Flaschenmilch überzugehen, und dabei konnte von Pasteurisierung hier heroben keine Rede sein. Es war ein Jammer.
Als ich unter solch ärgerlichen Gedanken durch die Dorfstraße hinabging, die – zum Unterschied von Unter-Kuppron – eigentlich bloß streckenweise eine richtige Dorfstraße mit aneinandergereihten Gebäuden, oftmals aber durch unverbaute Ackerlücken oder kleinere einzelne Holzhäuser unterbrochen ist, als ich also da, die Kapuze des Lodenmantels über den Kopf gezogen, zwischen den nassen Häusern hinabging und meinen Stock in den Schneemorast stieß, fiel mir beim Berghof plötzlich ein, Mutter Gisson zu besuchen.
Der Berghof ist ein langgestreckter niederer Bau, dem man die gotische Entstehung noch an den Fenstergewänden und Kragsteinen anmerkt und in dieser alten Knappensiedlung, die Ober-Kuppron ja ist, einstens eine Art Bergwerksdirektion gewesen sein mußte. Heute bildet er, und auch dies schon seit unvordenklichen Zeiten, einen nicht ganz geklärten Gemeinschaftsbesitz einiger Familien, vermutlich der ehemaligen Bergmeister, Oberknappen und anderer Bevorzugter, und die haben den Komplex durch Anbringung gesonderter Eingangstüren und durch Teilung des großen Hofes so weit es anging in bäuerliche Einzelwohnstätten verwandelt. Richtige Bauernhöfe sind hierdurch freilich nicht entstanden, und das war schließlich auch nicht notwendig, denn hier heroben gibt es ja auch keine richtigen Bauerngemarkungen, sondern die Anwesen sind aus Waldrodungen entstanden und zumeist so klein, daß kein einziges über Häuslergröße hinausgewachsen ist, aber es mag sein, daß gerade der Bestand dieses Gemeinschaftshauses für die Ober-Kupproner den Kitt eines Zusammenhalts abgibt, in dem irgend eine ferne Erinnerung an die alte zünftlerische Bergmannseinheit noch fortlebt. Die Talbauern unten haben hierfür kein Verständnis, und wenn sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, auch selber nicht reich sind, so erscheint ihnen der Oberdörfler mit seinem Kleinbesitz auch heute noch unbäuerisch und proletarisch, der Berghof jedoch, trotz seiner ehrwürdigen Tradition, als eine Art Mietskaserne. Lange genug haben sie's dem Miland nachgetragen und ihn scheel angesehen, weil er eine von hier genommen hatte.
Wie die meisten der Fenster in diesem Landstrich sind auch die Mutter Gissons mit Hängenelken geziert; blütenlos noch hängen die graugrünen Stengel gleich einem dickverfilzten wetterharten Bart aus den Kasten, und das Regenwasser rann an ihnen herab. Und wie bei den anderen Wohnungen war auch hier eine der Fensteröffnungen in einen Türeingang verwandelt, dessen äußerer Holzflügel bei Tage immer offenstand und mit einem Drahthaken an die Mauer rechts befestigt war, während links die Holzbank zum Draußensitzen in den Boden gerammt war, versehen mit einem Fach für die Holzschuhe, die hier üblicherweise vor dem Eintritt von den Füßen gestreift werden. Durch die innere Glastüre jedoch gelangt man unmittelbar in die Küche.
Hier stand ich nun, entledigte mich meines regenschweren Mantels, und Mutter Gisson schimpfte auf die Mannsleute, die ihr mit Nagelschuhen und triefenden Kleidern den weißgescheuerten Boden beschmutzten. Eine helle Behaglichkeit herrscht in diesem Raum; es ist, als ob die Sonne, die nun schon seit Jahrhunderten allmorgendlich hier hereindringt, um einen ganzen Vormittag zu verweilen, einen Helligkeitsvorrat aufgespeichert hätte, von dem an so trüben Tagen, wie der heutige es ist, gezehrt werden kann. In der einen Ecke hinten steht der Herd, auf dem schon die Mittagssuppe kocht, zwei Glasspinde, Bauernarbeit aus dem 18. Jahrhundert, sind vorhanden und sind mit geblümtem Geschirr vollgeräumt, vorn bei dem einen Fenster steht der große Tisch innerhalb der Eckbank, und dort sitzt Mutter Gisson und schimpft.
»Anstatt zu schimpfen könnt Ihr mir wirklich lieber einen Schnaps geben, Mutter, bei dem Sauwetter.«
»Das möchte Ihnen passen, Herr Doctor.«
Und sie steht auf, um aus der Speisekammer die Flasche zu holen. Mit dem Schnaps aber hat es seine eigene Bewandtnis; es ist ein höllisch scharfes Getränk, ein geheimnisvolles Kräutergetränk. Im August zur Sternschnuppenzeit kann man Mutter Gisson vor ihrer Türe sehen, wie sie aufmerksam den Himmel mustert; ich wußte lange nicht, was dies zu bedeuten hatte, doch seitdem [ich] in ihrem Vertrauen war, ließ sie manchesmal einiges davon verlauten. »In acht Tagen gehe ich«, sagt sie dann, oder »Morgen gehe ich«, und wenn es dann so weit ist, steigt sie in frühester Dämmerung in die Berge hinein, klettert in den Wänden herum wie eine Junge und kommt mit einem sorgsam verhüllten Kräuterbündel zurück. Von dem Inhalt gibt sie allerdings nichts preis, und auch die Fundstellen hält sie strenge geheim. »Wer wird denn all das Wissen erben, Mutter Gisson?« – »Die Irmgard, aber so weit sind wir noch nicht.«
Nun, da sie mit der Flasche zurückkam, bringt sie auch einen Laib Brotes mit.
»Schnaps allein taugt nichts«, sagte sie.
Meine Freundschaft mit Mutter Gisson ist nun schon von langer Dauer und wird mit jedem Jahr fester. Bald nachdem ich meine Stelle hier angetreten hatte, hatte sie mich rufen lassen, der Mathias, der damals um die dreißig gewesen war, war plötzlich zusammengebrochen, und ich konstatierte eine mehr als operationsreife Appendicitis. Aber trotz meines dringenden Appells schickte sie ihn nicht ins Spital. Sie hatte dem Sohn lange in die Augen geschaut, und dann sagte sie mir: »Nein, da käme er nimmer als Lebendiger hin, wir müssen's hier schaffen.« So hat sie die Behandlung selber in die Hand genommen: im Stall zwischen den beiden Kühen ließ sie das Bett des Patienten aufschlagen – später sah ich, daß zu ihren Therapien immer wieder die Tiere gehörten –, und dort in dem Brodem der Tiere und in ihrer unmittelbaren Ausstrahlung mußte er acht Tage lang fasten. Ob sie ihm auch warmen Kuhfladen auf den kranken Bauch gestrichen hat, konnte ich nicht ermitteln, denn sie erlaubte nicht, daß ich den Kranken, dem die Bauchfellentzündung sozusagen auf der Stirn geschrieben stand, überhaupt noch anrührte. Als ich sie später danach fragte, lächelte sie bloß und sagte »Vielleicht.« Aber sie hat den Sohn durchgebracht, und im Laufe der Zeit habe ich noch manche ähnliche Fälle mit ihr erlebt. Nicht etwa, daß sie die ärztliche Wissenschaft verachtet, sie tut es nicht mehr als ich, untrüglich indes weiß sie deren Grenzen, und daß ich dies anerkannte, hat mir nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch wertvolle Hilfe eingetragen. Und beinahe erscheint es natürlich, wenn sie, die mit ihren siebzig höchstens fünfzehn Jahre älter als ich ist, mich als einen jugendlichen Draufgänger behandelt, dem man, mag er sich auch schon bewährt haben, Zügeln anlegen muß.
»So, Herr Doctor«, sagt sie, »da hast du deinen Schnaps, und das Brot ist ganz frisch.«
Wenn wir zwei Worte gewechselt haben, duzt sie mich; hier im Oberdorf ist man überhaupt leicht auf Du, zumindest unter Gleichaltrigen.
Ich frage nach der Irmgard.
Mutter Gisson lacht leise. Sie hat starke gelbe Zähne. Als ihr einmal einer weh tat, hat sie ihn selber ausgerissen. Wie sie das zustandebrachte, ist mir immer noch ein Rätsel.
»Hast den Marius schon gesehen?«
»Teufel, der ist noch immer beim Miland?«
»Den hat mir die Irmgard heute heraufgeschickt.«
»Will sie den etwa heiraten?«
Jetzt lacht sie nicht mehr, sondern sagt bloß kurz ein »Nein«, das wie ein an die Enkelin gerichtetes Verbot klingt.
Sie sann eine Weile nach, und es war, soweit man dies aus ihrem Blick schließen konnte, als beschäftigte sie sich mit etwas sehr Fernem. Und beinahe klang es wie eine Drohung, da sie sagte: »Vielleicht ist es jetzt an der Zeit.«
»Was ist an der Zeit, Mutter Gisson?«
»Daß es anders wird.« Und dann fügte sie hinzu: »Der Marius ist gelehrig.«
Gelehrig bedeutete in ihrer Sprache so viel wie wißbegierig. Ich nickte.
»Er ist zum Bergwerk«, und sie deutete mit dem Daumen zur Hinterwand des Zimmers, denn in dieser Richtung liegt der Kuppron.
Mutter Gisson ist eine der wenigen, die über die alten Stollen genau Bescheid geben können. Nach und nach hat sie mir eine ganze Reihe der alten Gänge genannt und auch gezeigt, den »Reichen« und den »Armen«, den »Gang vom toten Heiden«, die »Zwergengrube«, den »Silbernen«, den »Plombon«. Ja, ich habe sie im Verdacht, daß sie über die Ergiebigkeit dieser alten Arbeitsstätten alles mögliche auszusagen hätte, mehr sogar als der Sohn, der Bergmathias. Einmal zeigte mir dieser ein faustgroßes Stück Granit, in dem gefährlich und sonderbar glänzend eine Goldader eingesprengt war. »Gefunden?« fragte ich. »Ja«, entgegnete er, »vom Urgroßvater oder noch früher.« Und er verschloß das Stück. Über seinem Bett hängt übrigens eine alte Bergmannshaue.
»Was will der Marius beim Bergwerk? und bei dem Wetter?«
»Wahrscheinlich Gold suchen«, Mutter Gisson lacht von neuem und etwas verschmitzt Hinterhältiges klingt darin mit, »das haben schon viele gewollt.«
Warum beunruhigt auch mich der Berg? warum schaudert es mich immer ein wenig, wenn ich über die uralten Bergpfade gehe, die manchmal noch Spuren einstiger Untermauerung aufweisen? wenn ich im Gebüsch die vermauerten und verschütteten Stollen finde? dies alles könnte mir doch schon längst vertraut sein, ist mir doch schon längst vertraut.
Ich sage: »Der Berg gibt ja nichts mehr her.«
»Er muß ausruhen«, stellt Mutter Gisson richtig.
Das habe ich schon oft von ihr gehört, trotzdem frage ich wieder einmal: »Wie lange noch, Mutter?«
»Das werde ich nicht erleben, das wirst du nicht erleben, der Berg hat weite Zeiten.«
Und da sage ich, als ob es dazugehörte, und weiß plötzlich, warum ich hereingekommen bin: »Mit dem Kind vom Suck wird's nicht gehen.«
»So?« sagt sie, »das Kind auch.«
»Warum auch?«
Sie sagt: »Weil die Mutter nimmer lang leben wird.«
»Hm«, mache ich ungläubig, denn an einer Furunkulose braucht man nicht zu sterben.
Im Herd knackte das Holz, draußen klatschte der Regen gleichmäßig herunter, und von der Dachtraufe rieselte es. Mutter Gisson ging zum Herd, öffnete die Feuerung und schob einen Scheit nach. Und unter diesen gleichgültigen Verrichtungen sagte sie: »Es ist so, ich kenne sie doch, die Suck.«
Solches mit solcher Sicherheit und Unerbittlichkeit auszusprechen, ist vielleicht kein Mann fähig, nicht einmal ein Arzt; am liebsten hätte ich es nicht gehört, und wenn es mir auch unmöglich war zu zweifeln, ich wollte es mildern: »Na, Mutter Gisson, Ihr könnt auch einmal und ausnahmsweise irren.«
Sie hatte den Kochtopf geöffnet, rührte mit dem Holzlöffel drin herum, kostete und sagte: »Sterben ist eine Gnade … aber das verstehst du nicht, dazu bist du zu jung und außerdem ein Doctor.«
Ich dachte an Suck und antworte nicht.
»Ihr Leute aus der Stadt werdet überhaupt nicht älter, ihr kommt alt zur Welt und so bleibt ihr bis es aus ist …« Sie nickte mir vom Herd aus zu.
Wer schon an so vielen Sterbebetten wie ich gesessen ist, der ahnt, daß es ein verschiedenes Sterben gibt, daß es in dieser großen Einsamkeit, in der so vieles gleich wird, doch auch eine Bevorzugung gibt, den wirklichen Tod, der so übergroß und schön ist, ein Aus-Sein und dennoch nicht Zu-Ende-Sein, daß selbst der Arzt, der Feind des Todes, sich willig ihm beugt und er einen Kampf aufgibt, der nicht dem Tode, sondern [dem] Aus-Sein gilt.
Mutter Gisson nahm nun die Teller heraus: »Und weil ihr meint, daß es bloß aus sein kann, deswegen könnt ihr und wollt ihr nicht sehen, wenn es für einen Zeit wird … bei dir ist es ja schon besser geworden, vielleicht wirst du selber einmal wirklich sterben dürfen … aber wenn du es sehen sollst, dann wehrst du dich …«
»Mutter Gisson, dazu bin ich da.«
»Das meinst du, weil du dumm und jung bist.« Sie schob die Teller auf dem Tisch zurecht, verschränkte die Arme unter der Brust und stellte sich unmittelbar vor mir auf: »Das eine sag' ich dir … wenn's jetzt bei mir so weit ist, wirst du an mir nicht viel herumdoctoren, sondern läßt es gehen, wie's eben geht, auch wenn ich dir dann nicht mehr das Handwerk werde legen können.«
»Zum Kuckuck, Mutter Gisson, wovon redet Ihr.«
»Von dem, was kommen wird und was du nicht sehen willst.«
Das war lächerlich. Da stand sie, ein Bild der Robustheit und Gesundheit trotz ihrer siebzig.
»Jetzt sehe ich wirklich bloß, daß Ihr in Eurem Kurpfuscherehrgeiz mir nicht einmal gönnen wollt, Euch zurechtzuflicken … aber darüber reden wir noch, glücklicherweise haben wir noch lange Zeit dahin …«
»Wart's ab«, lachte sie, und es klang hintergründiger, als ich mir zugeben wollte.
Da sehe ich durchs Fenster, wie der Marius daher kommt, einen Lodenkragen um die Schultern, er kommt beschwingt und leicht latschend die Straße von links herauf, die Hosen kleben ihm vor Nässe an den Beinen, und er macht keine gute Figur.
Ich deutete hinaus: »Viel Gold scheint er nicht mitzubringen.«
Sie schaute hinaus: »Gold nicht, aber er hat etwas gefunden.«
Ich wunderte mich über nichts mehr; es wird sich ja zeigen, ob er etwas gefunden hat.
Dann klirrte die Glastüre und Marius trat herein. Jetzt erst sah man den Zustand, in dem er sich befand, voller Erde die triefenden Stiefel, verschmutzt die Hose bis zu den Knien, kein Wunder freilich, wenn man bei solchem Wetter auf die Goldsuche geht.
»Zieht Eure Schuhe und Socken aus und hängt sie zum Herd«, kommandierte Mutter Gisson.
Jung wie ich war, tat es mir wohl, daß Mutter Gisson den Landstreicher nicht duzte.
Marius tat wie ihm geheißen. An der Wand neben dem Herd ist eine Doppelstange zum Trocknen der Stiefel eigens angebracht, und er hing seine Sachen dort ein. Dann kam er bloßfüßig zum Tisch. Er hatte wohlgeformt[e] und eigentlich recht saubere Füße.
»So, und jetzt zeigt, was Ihr gefunden habt.«
Aus der Tasche seiner nassen Hose zog er einen länglichen grünen Splitter hervor. Es war ein schmales dolchartiges Feuersteinmesser.
Mutter Gisson nahm das Messer in ihre starke gelbliche Greisenhand. »Ihr habt einen guten Blick«, lobte sie.
Ich sagte: »Das hat seine fünftausend Jahre auf sich.«
»Habt Ihr das beim Kalten Stein gefunden?« fragte Mutter Gisson.
Dies war ausnahmsweise keine erstaunliche, sondern eine ziemlich naheliegende Vermutung. Denn die Steinplatte, die dem Hügel dort ihren Namen gegeben hatte und die zweifelsohne ursprünglich Kelten-Stein geheißen hatte, ist unverkennbar ein keltischer Druidenopfertisch, und da er wohl an Stelle eines noch altern Heiligtums errichtet worden war, ist es nur selbstverständlich, daß sich dort manchmal derlei Gegenstände fanden. Erstaunlicher war es, daß der Marius gerade dort gewesen war und trotz Schnee und Morast solch sicheren Griff hatte.
»Ja«, sagte er, »bei uns findet man auch dergleichen.«
»Wo?« fragte ich.
Marius gab bereitwillig Auskunft: »In den Dolomiten, dort ist der Großvater noch ansässig.«
»Wollt Ihr etwas essen?« Mutter Gisson deutete auf den Brotlaib.
»Schönen Dank«, sagte Marius und griff nach dem Laib, und weil er das Feuersteinmesser in der Hand hatte, versuchte er die schartige Schneide anzusetzen.
Beinahe zornig nahm ihm Mutter Gisson das Brot aus der Hand, kehrte es um und wies auf die drei Kreuze: »Das ist heilig«, sagte sie, »und das Messer ist auch heilig, aber das eine gehört nicht zum andern.« Und sie schnitt einen Ranken mit dem gewöhnlichen Messer ab.
Was wußte sie von der Heiligkeit eines steinzeitlichen Opfermessers? gab es für sie keine Zeit? wie weit reichte ihre Erinnerung?
Marius nahm sein Messer, und als wollte er zeigen, daß er Mutter Gisson verstanden hatte, und doch eher automatisch, legte er es an seine Kehle. Dann lächelte er, steckte es ein und biß in sein Brot.
»Nehmt Euch in acht«, sagte Mutter Gisson, »zwar wißt Ihr noch manches, doch Ihr wißt auch schon zu wenig. Das ist eine schlechte Mischung.«
»Ich weiß mehr als die anderen«, entgegnete Marius mit einiger Selbstgefälligkeit. Es mag sein, daß dies auch auf mich gemünzt war. Denn ich hatte von allem Anfang an den Eindruck, daß es ihm nicht recht war, mich getroffen zu haben.
»Eben deshalb sollt Ihr Euch in acht nehmen, denn wenn Ihr Gold suchen wollt, so seid Ihr den anderen gleich, ja, noch ärger als sie, denn Ihr besitzet, ich sagte es, noch Wissen.«
»Doch wenn ich das Gold mit der Rute finde?« trumpfte der Marius auf.
»Auch dann«, sagte Mutter Gisson, »es gibt Possen und Spiele, die wie heiliger Ernst ausschauen und doch bleiben was sie sind, nämlich plötzlich in Schwang gewordene Nachahmung.« Ihre Stimme war unwillig geworden. »Eßt lieber und bescheidet Euch.« Und ungeachtet ihres Unwillens schnitt sie für ihn noch ein Brot ab wie für ein ungezogenes Kind, das man trotz allem betreut.
Ich aber gedachte der Sage, mit der sich die Leute dieser Gegend erzählen, daß bloß der Stollen, welcher die »Zwergengrube« heißt und dessen Eingang droben bei der Bergkapelle liegt, wirklich bis zu den Tiefen des Goldes gelangt sei, ein Stollen, der zwar mit einer mächtigen Halle beginne, sich aber von dort aus in einem Netz winziger Gänge verzweige, und daß es keinem der Großgewachsenen, die jene pygmäenhaften Erbauer vertrieben und vernichtet hatten, daß es keinem der Großgewachsenen, zu denen auch wir noch gehören, es je gelingen werde, möge er es auch auf allen Vieren oder auf dem Bauche wie eine Schlange kriechend, in diese unendlich und aberunendlich verzweigten und verkreuzten Spielzeuggänge einzufahren oder gar sie zu erhöhen oder zu erweitern, ohne im stürzenden Berg und umzüngelt vom Getier der Unterwelt eingeschlossen und erdrückt zu werden. An diesen Fluch des sterbenden Zwergkönigs mußte ich denken, und ich schauderte ob des großen Abgrundes der Zeit, in dem all die Völker, welche hier am Berge gewerkt hatten, versunken sind, ich schauderte ob des Abgrundes der Zeit, in dem das Menschenleben schwebt.
In diesem Augenblick trat Mathias durch die rückwärtige, bergseitige Tür der Küche ein. Er war offenbar über den Hof in das Haus gelangt, war bereits gesäubert, und groß, breitschultrig und hemdärmlig stand er da gleich einem Erzengel mit seinem roten Bart, ein Wächter vor der Türe, die er ausfüllte und verdeckte, musterte er den Ankömmling, denn er dachte gründlich und langsam, und Ungewohntes legt er sich mit Muße zurecht.
»Ja«, sagte seine Mutter, »das ist der Marius Ratti, und er kommt vom Miland.«
Da setzte sich der Bergmathias, der die Schwester und ihre Familie liebt, aber auch Zuneigung zu seinem Schwager hat, zu uns an den Tisch, schüttelt uns die Hände, und dem Zeremoniell der hiesigen Bauern folgend, das komplizierter, starrer und doch feinfühliger als jedes städtische ist, fragt er, wovon wir gesprochen hätten, damit unser Einvernehmen nicht seinethalben gestört werde.
Ich antwortete: »Ich meine, es liegt das Gold so tief im Berg, daß es mit der Rute nicht mehr findbar ist.«
In seiner langsamen Bergmannssprache erwiderte der Mathias: »Die Wünschelrute ist nur ein Teil des Menschen, der sie hält. Und es gibt Zeiten, in denen der Mensch das Gold fühlt, und solche, in denen er dem Kupfer nachgehen kann oder dem dumpfen Blei, und wieder solche, in denen ihm die Rute bloß das Wasser anzuzeigen vermag. Denn er findet nur, was er wirklich braucht, und wenn er sich dennoch zu anderem zwingen will, dann gibt ihm die Rute schlechten Ausschlag, und alles gerät ihm zum Unheil. Deshalb wurden einstens die Zwergenstollen verlassen, und später auch das Kupfer. Alles hat seine Zeit, und der Mensch hat sich dem zu fügen, denn es ist die Zeit des Menschen.«
Vielleicht war er damit noch nicht zu Ende und wollte bloß in seiner bedächtigen Art eine Pause machen, ehe er die logischen Lücken ausfüllte, die man, wenn man scharf achthatte, merken mußte. Aber Marius in seinem geschwinden Geist hatte sich ihrer schon bemächtigt, und er fiel rasch ein:
»Ja, das mag stimmen, wenn Ihr dem Berg mit Bohrmaschinen an den Leib rückt, wenn Ihr ihm das Innerste zu oberst kehrt, um ihn seiner Schätze zu entleeren. Wenn ich aber die Rute in der Hand halte, und sie zuckt, daß ich mit jeder Faser meines Körpers das Gold spüre, so heißt dies nur, daß die Zeit des Goldes wieder angebrochen ist.«
Mathias Gisson hatte das Kinn in die Hände gestützt, so daß der Bart zwischen seinen Fingern hervorquoll, und da er, wie so viele starke Leute, gerne lachte, schien ihm der Eifer des Marius komisch. Nicht etwa, daß er ihn spöttisch zurecht gewiesen hätte, aber er löste die eine Hand vom Kinn und schlug damit dem Marius lachend aufs Knie: »Gründe und Gegengründe gibt es viele.«
Mutter Gisson aber, den Topf vom Feuerloch wegrückend und einen andern an seine Stelle setzend, sagte: »Man kann die Rute ebenso mißbrauchen, wie man die Maschinen mißbrauchen kann, und man kann von ihr ebenso mißbraucht werden … ich kann Euch nur warnen, ob Ihr es glaubt oder nicht, liegt an Euch.«
»Nein«, rief Marius mit all der gewinnenden Höflichkeit, die ihm zu eigen war, »speist mich nicht so ab … laßt mich Euch zeigen, was ich kann, und lacht nicht über mich, Bergmathias, ehe ich Euch nicht überzeugt habe.«
Da stand Mathias auf, um gleich wieder mit einer kupfernen Drahtschlinge zurückzukommen, die er stumm dem Marius reichte. Auch ich erkannte das Instrument: bei der Erzsuche bevorzugen manche Rutengänger diese Metallschlingen.
Marius ließ sich nicht so leicht schlagen. Er war wie einer, der viel zu verteidigen hatte, wie einer, der ein Anliegen hat, größer wohl, als ich erraten konnte, und er sagte: »Dann kann es mich nicht wundern, daß Ihr nichts gefunden habt, das ist ja kaum eine Rute mehr, fast eine Maschine … Ihr müßt es mit der lebendigen Weidenrute versuchen, in der alle Zartheit des Lebens fließt, … habt Ihr das je schon versucht?«
»Ich habe es überhaupt nicht versucht … wir wissen auch ohne Rute, was der Berg will.« Und Mathias hielt die flache Hand in Kniehöhe über den Fußboden, als könnte er damit in die Erde hinunterhorchen.
Es war noch etwas heller in der freundlichen Küche geworden, denn mählich schien der Regen draußen nachzulassen. Marius schwieg, und auch wir anderen taten es. Schließlich sagte er beinahe bittend: »Ihr wißt, was der Berg will, und Ihr seid so selbstsicher und selbstgerecht, daß Ihr des Wissens eines andern nicht achtet, geschweige denn, daß Ihr es anerkennen wollt … prüft mich, nehmt mich auf bei Euch, laßt mich Euch dienen und zweifelt nicht von vornherein, ehe Ihr mich geprüft habt.«
Er hatte sich erhoben, und wie er so dastand, bloßfüßig und leicht geneigten Hauptes, glich er einem wartenden Büßer.
Mutter Gisson sah ihn voll an, und dann sagte sie ruhig und duzte ihn: »Du kannst nicht dienen, auch wenn du es wolltest … und an deinem Wissen zweifle ich nicht, es bringt uns nur keinen Nutzen.«
»Also weist Ihr mich ab«, sagte er.
»Nicht in Bösheit, aber in Sorge«, antwortete sie.
»Ja«, sagte er nur und ging zum Herde, seine Socken und Stiefel zu nehmen.
»Mathias wird dir trockene Socken geben«, sagte sie mit einem Blick auf die vor Nässe schwarzverschrumpften Stücke, »du kannst sie ja immer zurückbringen, wenn du magst.« Und sie nahm auch seinen Lodenkragen, der an dem Haken neben der Türe hing und unter dem sich eine kleine Lache gebildet hatte, streifte die daran noch haftenden Tropfen ab und meinte mütterlich: »Das hättest du auch selber besorgen können.« Mathias dagegen brachte die Socken, die von dem Marius mit höflichem Dank angenommen wurden, und es war, als würde ein verlorener Sohn, der halb noch zum Hause gehörte und doch ihm schon ferne war, wieder in die Fremde entlassen werden–, ja es tat ihnen sicherlich leid, daß sie ihn zum Essen, das nun fertig am Herde stand, nicht behalten durften, aber das konnte nach dem Geschehenen und Gesprochenen wohl nicht anders sein.
»Der Regen hat nachgelassen«, sagte ich, »es wird auch Zeit für mich … es gibt ja doch noch Patienten.«
Es war auch richtiger, Mutter und Sohn jetzt allein zu lassen.
Und so verabschiedeten wir uns beide, der Marius und ich, und traten durch die Glastüre auf die schneefleckige, schlammige Straße hinaus, die zwischen den weißlichen Mauern und den dunklen Fensterscheiben lag, grau, weißlich und schwarz unter einem undeutlich weißbezogenen Mittagshimmel wie eine Photographie. Feucht und lappig schlug uns die graue Luft entgegen, und wir gingen schweigend die Straße hinunter.
Am Dorfausgang sagte ich: »Grüß Gott, Herr Ratti.«
»Ah, Sie gehen nicht mit hinunter?«
»Nein, ich gehe heim«, und ich wies auf mein Haus, dessen rotes Ziegeldach drüben oberhalb des Kalten Steins aus dem Fichtenwald ragte.
»Dort sind zwei Häuser«, meinte er, »wohnt dort noch jemand?«
»Natürlich.«
»Wer?«
»Ach, von den Bauarbeiten her ist eine Art Verwalter übrig geblieben … er bringt sich so mit technischen Arbeiten durch, mit Motoren und ähnlichem …«
»Aha, der Radiohändler.«
»Ja, das ist er auch.«
Er zeigte sich orientiert: »Wetchy heißt er.« Sein Gesicht wurde verächtlich; die Nachbarschaft gefiel ihm nicht.
»Na, also«, sagte ich abschließend, um weiteren Fragen auszuweichen, »ich gehe jetzt links.«
»Auf Wiedersehen, Herr Doctor«, sagte er kurz und entfernte sich.
Daß ich Zeuge seiner Niederlage gewesen war, wird er mir nachtragen, dachte ich. Aber was verschlägt's. Als ich zum Waldrand kam, sah ich die erste Krokusblüte.