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II.

Alles war vergessen. Der Schnee hatte es zugedeckt. Mit einem Schlag war der zurückgedrängte Winter wieder hervorgebrochen, mit einem Schneegewitter war er über die Kuppronwand, hinter der er sich verborgen gehalten hatte, wieder ins Tal herübergesprungen, zwei Tage und zwei Nächte fielen die Flocken, und als der Wind dann wechselte und von Norden blies, da strahlte die Sonne über einer Landschaft, in der auf silberweiß polierten Straßen die Schlitten Weihnachten zurückklingelten.

Aber wenn auch der Schnee zu Wällen aufgeschichtet den Fahrdamm säumte und kalt der weiße Glitzerstaub über die Hänge und Felder dahingeweht wurde, es war, so weihnachtlich es war, nicht weihnachtlich, denn der Märzwind ist kein Dezemberwind, die Märzensonne keine Dezembersonne, der Märzmensch kein Dezembermensch. Alles war schärfer und war zugleich weicher als es im Dezember gewesen war, Schärfe und Weichheit waren anders verteilt, es war die Kälte gewissermaßen in ihre Bestandteile zerlegt, stechend fuhr sie durch meinen dicken Pelz, aber über dem hartgefrorenen Schnee der Wege lag trotzdem eine Tauschichte, ätzend und klebrig, so daß schwere schwarze Schneeklumpen an den Schuhsohlen hafteten, sich am Absatz verkeilten, aber sich auch in Trapps Pfoten verklemmten und er, manchmal winselnd aufseufzend, zu hinken begann. Das hinderte freilich nicht, daß er dann wieder losschoß, besonders wenn er Pulverschnee fand, froh der aufwirbelnden Kühle und sich in ihr wälzend. Für einen ausgewachsenen Wolfshund benahm er sich etwas zu jugendlich, aber er hat kein Gefühl für Würde.

»Komm«, sagte ich, »komm, Trapp, wir müssen ins Unterdorf, man hat nach mir telephoniert. Die Lenard kriegt ihr Kind.«

Dann packte ich meine Instrumente in die Tasche, bedeutete der Karoline, daß wir zum Abendbrot zurück sein würden, und wir traten in den hellen Nachmittag hinaus.

Der Nordwind pfiff noch immer, freilich nicht mehr so scharf wie in den letzten Tagen, er war gewissermaßen einstimmig geworden, seine Ober- und Unterwinde waren verstummt, er war jetzt ein einsamer Spaziergänger, der über die Baumwipfel dahinwandert und dabei leise vor sich hinpfeift. Sonst war es ganz still im Walde; manchmal fiel von irgend einem Ast ein Brocken Schnee, knisterte rieselnd und platschte weich auf. Aus dem Hause Wetchys drüben, das gleich dem meinen im Fichtenwald eingebettet liegt, – unmittelbar im Walde, denn die Gärten und Zäune sind vom Schnee überdeckt – steigt eine dünne Rauchfahne in die Klarheit, in diese Silberbläue, die aus der Unendlichkeit kommt, die Stämme einhüllt und fast bis zum Boden reicht, dünner, ein wenig harter Geruch des Rauches, der Humanität, des Wohnens in der geruchlosen Frische.

Auch aus meinem Haus steigt der Rauch. Es ist mein Haus, und seit über zehn Jahren wohne ich bereits darin. Damals war ich von einer Gebirgstour kommend hierher geraten und war geblieben, habe in einem plötzlichen Entschluß die gerade ausgeschriebene Stelle eines Gemeindearztes und die Wohnung angenommen, eigentlich bloß des Hauses auf dieser Waldhöhe willen. Dabei ist es ein Schwindelhaus, ein richtiges Inflationshaus, Kind eines Börsenmanövers und sogar eine etwas unfertige und gebrechliche Frühgeburt. Denn zu jener Inflationszeit gaben einige Schwindler vor, den Bergbau im Kuppron wieder beleben zu wollen, und weil sie nicht bloß Aktien ausgeben konnten, bauten sie hier die beiden Villen und ein Stück der Seilbahn, die nach Plombent hinunterführen sollte. Aber weiter ist die Sache natürlich nicht gediehen, die Stollen wurden nicht erschlossen, das Hüttenwerk in Plombent nicht errichtet, sinnlos spannt sich eine Strecke Seilbahn mit einem einsam baumelnden Förderkorb über dem Fichtenwald beim Kalten Stein, unfertig blieben die beiden Häuser und wurden von der Gemeinde für Steuerschulden übernommen, und sozusagen unfertig auch blieb der einstige Verwalter Wetchy, der in dem einen Haus wohnt und jetzt als Agent landwirtschaftlicher Maschinen ein dürftiges Dasein fristet. Und weil die Gemeinde für das andere Haus keine andere Verwendung fand, so wurde es, gut genug für den Arzt, der dem Bauern ohnehin ein überflüssiges Möbel ist, zur Doctorwohnung bestimmt.

Der Schatten der Tag- und Nachtgleiche, vom Kuppron herabfließend, ist im Walde schon spürbar, obwohl er ihn noch nicht erreicht hat, aber wenn man den zum Dorf hinführenden gelbausgetretenen Pfad nimmt, auf dem ich die Spuren meiner Nagelschuhe vom Vormittag wiedererkannte, und ins Freie tritt, da steht zur Rechten des Schreitenden die beschattete, schattenwerfende mächtige Wand, den Wald um ihre Lenden geschwungen wie ein Tuch, und der oberste Rand der Felder, aus deren Weiß die schneebedeckten dunklen Haselnußstauden tauchen, ist von dem gleitenden Kuß der Dunkelheit bereits erreicht. Vor mir, ein paar Steinwürfe entfernt, liegt das Dorf, auch dieses noch besonnt, und hinter ihm im großen Bogen, beginnend neben der Lücke des Kuppronpasses mit der Ventalp und dem Rauhen Venten schwang sich die golden hohe Kette der Gipfel, deren Vorberge in unabsehbaren Stufen nach Osten und Norden auslaufen, hier aber, zur Linken, ihre erste Einsenkung haben, die runde Schale des Kupprontales, das man freilich von hier aus nicht zur Gänze übersieht: der Talausgang im Norden, zu dem es, die Straße nach Plombent hinausschickend, leicht abfällt, ist vom Abhang gedeckt, ebenso der in der Mitte des Kessels liegende Ort Unter-Kuppron, man sieht bloß die südlich ansteigende Hälfte des Tales und die Einzelgehöfte, die drüben auf den Hängen verstreut sind, aber durch die winterlich sonnige Stille dringt der Schlag der Turmuhr herauf, und eingebettet das Tal, eingebettet die Wohnstätten in die durchsichtig hellblaue Kälte, ruht und schwebt sie bis zum Himmel, reicht hinan bis in die jenseitigen Himmel, der kalte Atem der Sonne.

Man muß nicht ins Dorf hineingehen, um zur Straße zu gelangen, man biegt links ab – auch diesen Pfad habe ich selber ausgetreten, denn Wetchy und Karoline zählen nicht –, und ist stolz, solcherart zehn Minuten Wegs erspart zu haben. Die Sonne im Rücken, den leichten Nordwind im Gesicht, den glücklichen Hund vor meinen Augen, schreite ich tüchtig aus, sogar ein wenig besorgt, denn die Lenard hat zwar schon zwei Geburten hinter sich, aber beide sind nicht leicht gewesen. Ich hätte doch die Skier nehmen sollen.

Immerhin, nach einer Viertelstunde kam der Kirchturm mit seinem einfachen Satteldach in Sicht, gleich darauf auch die Schneedächer des Dorfes, und nach einer weitern Viertelstunde war ich unten und bei Lenard, wo die Sache bereits in vollem Gange war. Aber es ging alles am Schnürchen, die Hulles Marie, die als Hebamme fungiert, hätte es auch allein schaffen können, genau um sechs Uhr im letzten Strahl des Sonnenlichtes holten wir den neuen Menschen zur Welt, war dieses Alltagswunder vollbracht, und wieder einmal staunte ich, ich der alte Geburtshelfer, der jahrelang in der Frauenklinik gearbeitet hatte, wieder staunte ich, daß das Geschöpf, das wir einem Menschenleib entnommen hatten, nun selber ein solcher geworden war, ausgestattet mit allem, was zum Bewältigen und Erleiden der Welt nötig ist. Es war ein Bub, den ich da abnabelte, der zweite Lenardbub, nachdem das letzte ein Mädel gewesen war, rot wie ein Krebs, Flaum auf dem Kopf, mit süßen kleinen Fingern und Halbmondnägeln, und wütend, ob der ihm angetanen Schmach. Und über dem ganzen Haus war ein Lächeln.

Indes, so sehr ich mich auch meiner Leistung freute, es hätte wenig Sinn gehabt, mich in dem Haus dieses Erfolgs [halber] noch weiter aufzuhalten, ich wusch mich also nochmals, packte den weißen Kittel und die Instrumente in die Tasche, und nachdem dies geschehen war, eröffnete ich Trapp, der während der Prozedur zusammengerollt in der Küche geschlafen hatte, daß wir uns auf den Weg machen könnten. Er hieß es gut, und wir traten auf die Gasse hinaus, in die die Dämmerung herabgestiegen war.

Da ich nun schon einmal da war, ging ich ins Wirtshaus, um zu erfahren, ob es dort irgendwelche ärztliche Neuigkeiten für mich gäbe. Es lag nichts vor. In der Toreinfahrt traf ich auf Peter, der eben das Haus verlassen wollte.

Wir sprachen erst eine Zeitlang miteinander über allerlei, über seine Abneigung gegen das Metzgergewerbe, das er nicht erlernen wollte, von seiner Vorliebe für den weniger blutrünstigen Kaufmannsstand, und dann machten wir uns auf den Weg. An der Ecke der Kirchengasse wurde er unruhig, und ich war indiskret genug, ihm zu sagen, daß ich ohnehin wisse, wohin er wollte, und daß ich ihn sogar begleiten werde.

Er errötete und wir bogen ein, denn wenn man die Absicht hat, den Häusler Strüm, oder richtiger, seine sechzehnjährige Tochter Agathe Strüm zu besuchen, so muß man hier einbiegen. Aber wir waren nur wenige Schritte in der Kirchengasse gegangen, als ich sagte:

»Da ist er.«

Eigentlich hatte ich es gesagt, bevor ich ihn noch recht erblickt, geschweige in der beginnenden Dunkelheit ihn erkannt hatte, so selbstverständlich war es, daß die Gestalt, die dort vor dem Haus des Lorenz Miland lehnte, die des Gesuchten sein müsse. Des Gesuchten? Ja, des Gesuchten. Denn ich hatte ihn zwar vergessen, so sehr vergessen, daß ich keinerlei Veranlassung hatte, zu fragen, ob er im Dorf noch gesehen worden wäre, und hatte doch gewußt, daß er sich hier noch aufhielt. Solche Dinge kommen vor.

Und so war es auch nur richtig, daß ich, da wir auf ihn zuschritten, »Guten Abend« sagte.

»Guten Abend«, sagte auch er. Er stand im Lichtschein des Fensters, barhaupt – kein Bauer tritt ohne Hut vor die Türe – und ohne Überrock oder Wams stand er da in der Kälte und hackte jetzt mit dem Absatz ein wenig an dem unebenen Eisstreifen herum, der die Hausmauer entlang lief. Das alles erschien wenig zweckvoll. Wartete er auf jemanden? ich schaute ihn ein wenig verwundert an.

»Guten Abend, Peter«, sagte er schließlich, »du kannst wohl nicht grüßen.«

Was hatte es Peter zu verschweigen, daß er den Mann kannte?

Peter sagte betreten: »Guten Abend, Herr Ratti.«

Ratti, das klang italienisch; dazu paßte es, daß der Mann einen Lockenkopf hatte, was in dieser Gegend recht selten ist.

Er schaute recht freundlich drein: »Schöner Abend«, sagte er ermunternd.

»Na ja, ein wenig frisch.« Und um etwas Konkreteres zu sagen, stellte ich fest: »Sie wohnen beim Miland.«

»Ja, er hat mich aufgenommen.«

Aufgenommen? als Gast? als Wanderer, der für ein paar Nächte bleibt? als Knecht? Wenn es als Knecht sein sollte, so wunderte es mich, daß der Mann noch immer da war, denn der Miland verlangt harte Arbeit, muß bei den achtzig Joch, die [er] zu bewirtschaften hat und die, wie hier üblich, in der ganzen Gemarkung verstreut sind, harte Arbeit verlangen, und dazu schien mir dieser Mensch durchaus ungeeignet. Im übrigen war es verwunderlich, daß Miland jetzt, schon zum Frühjahrsanbau, einen Knecht einstellen sollte. Nun, das wird sich ja alles noch weisen, und ich sagte daher bloß:

»Wir haben uns ja schon gesehen. Sie sind mit dem Zementauto gekommen.«

»Das haben Sie nicht gesehen«, stellte er richtig, »da war ich schon abgestiegen.«

Bei aller Freundlichkeit, mit der dies gesagt war, war es eine kleinliche Rechthaberei, aber es war mehr, es war wie eine Aufforderung zum Haß, in seinem freundlichen Ton, in seiner gleißnerischen Gebärde lag etwas, das hieß: Hasse mich, hasse mich, damit du mich liebst.

Es ist möglich, daß ich mich irre. Aber Trapp, der an dem Fremden herumgeschnuppert hatte und sich niemals irrt, stellte das perpetuum mobile seines Freundschaftswedelns ein und hielt den Schweif bös und kerzengerade.

Ich hatte keine Lust, Herrn Ratti zu hassen, aber weil ich nun schon einmal vor seinem Hause stand, wollte ich meinen Freund Miland besuchen. Ich nickte also dem Ratti bloß zu und trat ein.

Im Stallgebäude brannte Licht; Miland war also offenbar dort noch beschäftigt und ich steuerte auf den Stall zu. Neun Stück Vieh standen da, die meisten mit dem dunkelbraunen glänzenden Fell des kurzhörnigen Schlages, wie er hier gezüchtet wird, außerdem ein Paar schwerer Pferde; in einem größern Abteil am Ende des Stalls aber befand sich der Stier, der Gemeindestier, der von Miland gehalten wurde, und rasselte an seinen beiden Ketten. Das Ganze sah proper und gepflegt aus, sauberer Betonfußboden und eine Wasserleitung im Stall. Freilich mußte man das Wasser ins Reservoir vom Brunnen herüber pumpen, aber das war immerhin noch praktischer als das Schleppen der Eimer. Und außerdem will man auch was fürs Auge haben.

»Hallo, der Herr Doctor«, sagte Miland, der mich eintreten gehört und aus einem der Stände aufgetaucht war, »das ist ein seltener Besuch.« Und weil ein Bauer immer praktisch denkt und nur sichtbare Ursachen der Geschehnisse gelten läßt, setzte er fort: »Brauchen Sie was von uns, Herr Doctor? hat die Karoline keine Eier mehr?«

Nein, die Karoline hatte mich nicht geschickt. Ich sei bloß so da.

Er hatte sich die Hände bei der Wasserleitung abgespült und streckte sie mir jetzt entgegen: »Das ist mal schön von Ihnen.«

Mir fiel plötzlich eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen dem Miland und seinem neuen Hausgenossen auf. Die Bauern hier haben manchmal etwas Südliches an sich, dunkelhaarig, sehnig und mit scharfen Adlerprofilen, Jägertypen. Auch ihm hing der dunkle Schnurrbart über die Mundwinkel. »Fertig mit der Arbeit?« fragte ich.

»Ja, aber noch kein Abendbrot gehabt … Sie kommen doch mit hinüber …« Und er dreht den Schalter der beiden Deckenlampen ab. Die Tiere atmeten im Dunkel.

Das Haus liegt im rechten Winkel zum Stallgebäude. Wir gingen über den Hof. Nun war der Himmel schon voll der Märzsterne. Die Luft war milder als am Nachmittag. Der Schlaf der Geschöpfe wärmt immer den Himmel ein wenig an.

Die Bäuerin, die Milandin geheißen, ist ein starkknochiger harter Mensch, beinahe ebenso groß wie Miland, von einer stets zunehmenden Männlichkeit, obwohl sie noch keine vierzig alt ist. Sie stammt aus dem Oberdorf, ist eine geborene Gisson, und es soll Kämpfe gekostet haben, bis der Miland sie gekriegt hat. Aber das Eheleben der beiden ist undurchsichtig, trotz der vielen Kinder, die sie miteinander gehabt haben. Manche der Kinder sind gestorben, und es mag sein, daß es dies war, was sie so hart gemacht hat. Keines Menschen Tod geht spurlos an uns vorbei, wer ihm nahegestanden hat, erbt ein Stück der freigewordenen Seele und wird in seiner eigenen Humanität reicher. Doch eine Mutter kann ihr Kind nicht beerben, und ihr Antlitz trägt die harten Züge der Menschen, die in der Hölle der Enterbten wohnen.

»Guten Abend allseits«, sagte ich eintretend, »hier ist ja noch Vollbetrieb.«

Mit Ausnahme des zwölfjährigen Karls, der schon zu Bett gegangen sein mochte oder sich sonstwo herumtrieb, war die ganze Familie versammelt. Die Bäuerin mit dem kleinen Buben im Arm, die zehnjährige Zäzilie, die beim Tisch döste, der Knecht Andreas mitsamt seiner Pfeife auf der Bank sitzend, ebenso die Magd Hermine, die sich freilich schon räkelte und daran war, in ihre Holzpantoffeln zu fahren und davonzuschlurfen. Irmgard aber, die älteste Tochter, stand am Herd und kochte Tee; viele Bauern hier trinken Tee.

Wir setzten uns an den Tisch, der von dem Essen der anderen noch fettig war, und der Bauer begann allsogleich, den blonden Kopf der schläfrigen Zäzilie zu streicheln. Das Brot und ein starker Riemen hellbraunen Specks lagen in der Mitte des Tisches, auch die Schüssel mit den Klößen, die man für den Bauern übrig gelassen hatte, doch vorher bekam er noch seine Milchsuppe, die er löffelte, ohne die Linke vom Haupt seines Kindes wegzunehmen. Dann kamen die Klöße und der Speck an die Reihe, und auch ich schnitt mir manchmal ein Stück davon ab und aß es mit Brot. Während des Essens schwiegen wir, und Trapp sah uns zu, hin- und herüberlegend, ob die für uns ungenießbaren Speckschwarten für uns oder den Hofhund draußen bestimmt sein würden.

Als wir so weit fertig waren, fragte der Bauer, ob der Marius schon sein Essen gekriegt hätte.

»Nein«, meinte die Frau, die eben hinausging, den Kleinen ins Bett zu bringen, »nein, er ißt nur einmal am Tag, sagt er. So hat er's ja auch bisher gehalten.«

»Aber den Tee trinkt er«, ließ sich Irmgard vom Herd her vernehmen.

»Also Marius heißt er«, sagte ich.

»Ja, Marius Ratti … Sie kennen ihn also schon, Herr Doctor.«

»Er steht ja mit dem Peter draußen vor dem Haus.«

»Das tut er gerne«, sagte der Knecht Andreas und kicherte.

»Na, vielleicht ist der Peter doch lieber zur Agathe gegangen … mir wäre es auch lieber.«

»Nein«, beharrte Andreas, »sie stehen draußen.«

War der Peter etwa deshalb betreten gewesen, weil ich ihn bei seiner Zusammenkunft mit einem dahergelaufenen Menschen ertappt hatte? Ich fragte: »Wie ist denn der Mensch gerade zu Euch geraten?«

Offensichtlicherweise war dieser Marius Ratti ein häufiges Gesprächsthema, denn die Milandin, die eben wieder zur Tür hereinkam, wußte schon, um was es sich drehte, und antwortete: »Die Irmgard hat ihn aufgelesen.«

Irmgard stellte jedem ein großes Gefäß, Schale konnte man dies nicht nennen, mit Tee hin: »Nein, der Karl hat ihn hereingeführt … er hat die Kinder auf der Gasse gefragt, ob bei der Kirche nicht noch ein Gasthaus sei.«

»Warum ist er nicht gleich beim Sabest geblieben?«

»Dort ist es ihm zu nobel, hat er gemeint … viel Geld hat er ja nicht. Und da habe ich ihn eben gefragt, ob er nichts essen wolle … das muß man doch tun … oder ist er etwa nicht ein Wanderer?«

»Ja«, entgegnete ich, »ein Wanderer ist er wohl.«

»Mag er es sein«, sagte die Bäuerin, »und wenn er Hunger hatte, so ist es mir recht, daß man ihm das Essen gab, doch ich mag solche Leute nicht im Haus; vielleicht gar sind die Gendarmen hinter ihm her.«

»Dann wärst ihn gleich los, Bäuerin«, kicherte der Knecht Andreas.

Der Bauer sagte: »Ich hab' noch keinen fortgejagt, und es hat mir nicht geschadet bisher.«

Nun kamen sie alle auf ihren lautlosen dicken grauen Socken zum Tisch heran, und wir rührten alle in dem braunroten Wasser, das von ferneher nach Tee schmeckte, und unsere Gedanken waren bei dem Wanderer. Denn auch der Seßhafte wandert, er will es bloß nicht wissen, und wenn er den Fahrenden bei sich zurückhält, so geschieht es wohl, weil er an sein eigenes Fortmüssen nicht erinnert sein will.

»Ich will ihn hereinholen«, sagte Irmgard und ging zur Türe.

Miland faßte Zäzilie an den festgeflochtenen Zopf: »Und dir, gefällt er dir, der Marius?«

Das Kind nickte bloß als Antwort in den Teetopf hinein und lächelte ein wenig blöde. Dann aber, einer jähen Eingebung folgend, glitt sie von ihrem Stuhl, huschte zur Bank hinüber, kletterte hinauf, und in dem trüben Licht der Zimmerecke – hing doch die elektrische Birne unter dem Blechschirm tief über dem Tisch – tastete sie nach dem Schalter des Radioapparates, der dort städtisch-braunlackiert inmitten des spärlichen Hausrates auf dem Bord stand. Und so vollzog sich der Eintritt des Marius unter den Klängen eines Jazzs, dessen müder Rhythmus aus dem Kasten kroch und auf der dunkelverräucherten Stubendecke herumhüpfte.

Auf dem Fußboden dagegen hüpfte Zäzilie. Sie sprang von einem Bein auf das andere, stieß einmal das eine, einmal das andere Ärmchen in die Luft, in ihrem Gesicht lag ein heiliges und ernstes Erwachen, lautlos war ihr Tanz, ein Huschen auf grauen dickgestrickten Strümpfen, und auch als der Jazz in einen Tango umschlug, ließ sie nicht ab von ihrem Engelstanz.

Marius hatte sich an den Türpfosten gelehnt, und mit der freundlichen Neigung des Kopfes, die ihm zu eigen war, betrachtete er das liebliche Bild, hatte nicht acht auf Irmgard, die ohne den Blick von ihm zu wenden, das Teegefäß für ihn auf den Tisch stellte, ja, beinahe geflissentlich übersah er die Gebärde, mit der sie ihn zum Tische lud. Doch plötzlich, schon meinte ich, er wolle am Tanze teilnehmen, war er mit ein paar großen beschwingten Schritten in der Ecke und stellte [den] Apparat ab.

Mitten in der Bewegung erstarrte Zäzilie. Sie war so verblüfft, daß ihr Entzücken gleichsam des Entsetzens nicht gewahr wurde, das sich doch schon eingestellt hatte: leicht in die Beuge gezogen war der eine Fuß, fast stand sie auf einem Bein, der Arm mit emporgedrehter Handfläche deutete noch nach aufwärts, als wollte er nach den entschwundenen Klängen da oben noch haschen, und ihr Gesicht, des Erwachens noch nicht müde, des Erwachens nimmer müde, es vermochte nicht zurückzugehen in die Verschlossenheit des Fleisches, sondern wie zu ewigem Erwachen gefroren war es und trug doch schon auch wieder das Mal trauernden Schlafes.

Doch schließlich löste es sich, ihrem zum Weinen gekrümmten Mund entrang sich ein »Böh«, und sie flüchtete zurück in [die] Arme des Vaters.

Siehe, auch wir waren erstarrt, obwohl wir doch ganz einfach bei unserem Tee saßen, um eine nüchterne Glühbirne herum, in dieser warmen und doch nüchternen Küchendunkelheit, in der weiß die Teller am Bord glänzten, in dieser Wärme, in der sich der standhafte Brodem verbrutzelten Fetts mit dem Dunst menschlicher Körper mengte, siehe, auch wir waren erstarrt, sowohl Irmgard, deren Hand immer noch den Marius zum Tische lud, wie ihr Vater, der Zäzilie an sich preßte, ja selbst der Knecht Andreas war es, denn er rieb das Streichholz, das er schon gezückt hatte, nicht an seinem Hinterschenkel, sondern hielt es still in der Luft. Und es war die Bäuerin die erste, die wieder zur Sprache fand, und sie sagte: »Gebt die Musik wieder her.«

»Bäuerin«, sagte er höflich, »gebt den Kasten wieder zurück.«

»Possen und nochmals Possen«, ereiferte sich die Frau, »seid Ihr bei Trost! und all das schöne Geld, das er gekostet … sofort gebt die Musik wieder her.«

»Wenn's die Bäuerin befiehlt, so habe ich zu gehorchen«, fügte er sich mit schauspielerischer Willfährigkeit, »doch Eltern sind schwach, sie tun vieles den Kindern zuliebe, sie geben nach, ohne Rücksicht darauf, daß es dem Kinde schaden könne …« und nach einer kleinen Kunstpause, setzte er mit gewinnendem Lächeln hinzu: »… ich meine halt, daß es für Kinder jetzt Schlafenszeit wäre.«

Zäzilie, die es eigentlich anging, horchte nicht hin. Sie saß jetzt ruhig neben ihrem Vater und ließ sich streicheln.

Marius hatte die Hand am Apparat und wartete.

Da sagte Miland: »Das ist eine städtische Musik.«

Damit hatte er wohl recht, aber es war auch ein städtischer Apparat, und selbst wenn ländliche Weisen aus ihm herausgedrungen wären, so wäre es nicht anders gewesen.

»Städtisch oder nicht städtisch«, antwortete Marius, »es ist eine kostspielige Musik, und die Bäuerin will sie haben.« Aber dabei sah er Irmgard an, als sollte die Entscheidung von ihr erfließen.

»Trinkt Euren Tee und gebt Ruh«, befahl die Bäuerin mit einem kurzen harten Lachen.

Irmgard aber stand unter dem Blick des Marius. Auch ich sah sie an. Sie hatte die Arme unter dem Busen gekreuzt, genau so wie es ihre Mutter und ihre Großmutter zu tun pflegen, sie war in allem eine echte Gisson, großflächig das Gesicht unter den rötlichen Haaren, warm durchblutet und mit hellrosa Lippen. War es das Gesicht, das ihre Mutter trug, als sie zur Hochzeit ins Unterdorf geholt wurde? wird auch in dieses Gesicht noch die Härte einziehen? Wo, ach wo, ist das Menschliche und Bleibende, da das Alter Schleier über unser Gesicht zieht und doch es entschleiert?

Keiner von uns weiß, was in dem andern vorgeht; und der Knecht Andreas seufzte »Ach ja«, während er sein Zündholz nach einigen Bemühungen nun doch in Brand gesetzt hatte und unter vorgehaltener Hand der Pfeife näherte.

Da sagte Irmgard, die ihr Auge von dem des Marius abließ: »Wirklich, es ist Schlafenszeit«, und sie führte die kleine Schwester an der Hand hinaus, ohne Marius dabei weiter anzusehen. Marius aber setzte sich zu uns an den Tisch, rührte langsam in seinem Topf und begann schluckweise zu trinken, wie einer, der seine Arbeit getan und dem eine Labe gebührt. Und wir sprachen von gleichgültigen Dingen. Nach einiger Zeit erhob sich der Bauer, schaltete ein, und wir konnten die politischen Nachrichten hören.

Dann ging ich heim, Trapp hinter mir her, denn er war müde geworden und wollte nicht mehr laufen. Der Schnee knirschte jetzt unter den Füßen, er ist voller Unebenheiten und voller kleiner schwarzer Schatten, denn der Mond steht hinter mir. Kalt und milde ist es zugleich. Ich gehe leicht; so hätte ich auch als Kind gehen können, ich atme, wie ich als Kind geatmet habe, und wenn mein Gesicht auch noch so entschleiert sein mag, von innen gesehen, ist es mir nur noch rätselhafter geworden. Nichts ist noch beantwortet; – wie kann es da schon Zeit zum Abschiednehmen werden? So wanderte ich. Da und dort waren die Häuser beleuchtet, in manchen sah man die Leute sitzen, nicht anders [als] wir in Milands Küche beisammen gesessen hatten, und als ich aus dem Dorf heraustrat, stand mächtig und weiß im Mondlicht die Kuppronwand vor mir, zarter und silberner die ferneren Gipfel, gelockert, gelöscht von Nebeln des Nachthorizontes. Und als ich weiter aufwärts wanderte, meinem Schatten nach, der zweibeinig vor mir herwanderte und mir den leichten Weg wies, da wurde es immer heller, es wurde so milde und strahlend, daß man vor lauter Licht kaum mehr die beleuchteten Fenster der Häuser von Ober-Kuppron droben sah, ich wanderte immer weiter aufwärts zur kühlen Sanftheit des Firmaments, in dem die Gestirne schwammen, als wären auch sie von all der Milde erwärmt und leicht geworden.


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