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VII.

Es hatte einige Tage geregnet, immer langsamer und langsamer, und eines Nachts war der Regen weggeblasen. Zeitig schon wurde ich vom Geruch des Sommers geweckt, der stoßweise mit dem Südwind durch das weitgeöffnete Fenster hereingetragen wurde. Ich stand auf und beugte mich hinaus. Feucht noch war der kleine Garten und beschattet von dem Fichtenwald, der ihn umgibt. Auf dem Kies macht sich eine Amsel zu schaffen. Doch nun fliegt sie davon, denn Trapp, dessen schwarze Nasenspitze über den gekreuzten Pfoten eben noch aus der Hundehütte herausgeschaut hatte, hat mich bemerkt, kam eilends herausgekrochen, dehnte sich zweimal mit offenem Maul und durchgebogenem Kreuz und begann jetzt bellend und schweifschlagend vor dem Fenster zu tanzen.

Sind es diese Morgen, diese Sommermorgen und diese Wintermorgen, die mich alternden Mann nun schon seit so vielen Jahren in diesem Bergdorf zurückgehalten haben? sind sie es, die mich nicht mehr loslassen werden?

Auch die Karoline ist wach geworden. Ich höre sie in der Küche hantieren und den Kaffee für uns beide vorbereiten. Ich gehe ins Badezimmer, das gleich so vielem in diesem Haus ein Inflationsschwindel ist: die vernickelten Hähne sind trocken, denn die Quelle, aus der die Leitungen der beiden Villen gespeist werden sollten, wurde niemals gefaßt, und ich muß mich in dem schön gekachelten Badezimmer mit ein paar Wasserkübeln behelfen. Sonderbarerweise ist es mir in irgend einem Winkel meiner Seele recht – obwohl ich, würde die Gemeinde meinem Drängen folgen und die Wasserleitung legen, hier ganz gut zwei oder drei Krankenzimmer einrichten könnte, und dies eine Wohltat für den abgeschiedenen Ort wäre –, sonderbarerweise ist mir diese aufgezwungene Primitivität recht, wie alles, was mich von der Stadt und den städtischen Ordnungen, denen ich entflohen bin, entfernt. Natürlich ist dies an sich sinnlos, aber der Mensch braucht manchmal äußere Meilensteine, wenn er sich auf einem innern Marsch befindet. Und seitdem ich mich von der Stadt auch im Äußern losgesagt habe, marschiere ich, glaube ich zu marschieren.

Nachher sitze ich mit der Karoline in der Küche beim Frühstück. Das Fenster stand offen, der Schatten des Gartens sandte seinen kühlen Atem in die Küche und nahm den Geruch des gemahlenen Kaffees in sich auf. Aber man spürte auch, daß draußen die Tannenwipfel schon von den flachen Sonnenstrahlen vergoldet wurden, denn schwankend vom südlichen Wind, der ihr Holz zu einem knarrend seufzenden Lächeln bringt, säen sie die Funken des Lichts, die sich in ihnen verfangen haben, Lichtsamen, der herabsinkt in den Schatten und seinen Atem schwängert. Und in das lächelnde Seufzen der Stämme und Äste mischte sich der Gesang aller Vögel.

Aber der Mensch ist nicht nur dazu da, um die Schönheit der Welt zu genießen, und insbesondere die Karolin ist dieser Ansicht, und so erzählte sie wieder einmal, daß sie kein so einsames Alter hätte, wenn der Kerl, von dem sie das Kind gehabt hatte, nicht nach Amerika ausgewandert wäre. Seit einiger Zeit denke ich daran, daß jener Bursch in Amerika auf den Namen Arlett gehört haben mochte. Das Kind aber war in der Stadt in Dienst. »Dienstbotenkind wird wieder Dienstbot«, schloß sie wie immer die Erzählung ab.

Ich hatte im Unterdorf zu tun, aber – da es ein Mittwoch war – keine Ordination, und beschloß daher, sofort hinunter zu wandern, vielleicht auch, weil der Morgen mich auf den Waldweg lockte. Und als Trapp seine Milch fertig geleckt hatte, nahm ich Stock und Tasche, und wir zogen los, zuerst bei Wetchys Haus vorbei, dann zu der Lichtung hinüber, auf der die unausgebaute Seilbahn ihren Ausgang nimmt, um mit nördlicher gerichteter Trasse auf das Plomboner Tal hinzuzielen, freilich ohne je es zu erreichen.

Auf der Lichtung machten wir einen Augenblick halt. Die Wände des Kupprons sind von hier aus in ihrer ganzen Ausdehnung zu überblicken, bis dort hinüber, wo sie sich zum Kupproner Sattel absenken. Klar ragten sie gegen den azurblauen Himmel, ebenso drüben der Rauhe Venten, der auf seinen Höhen noch immer Schnee trug. Von den langen schwarzen Baumschatten umsäumt lagen grün die Almwiesen oben im morgendlichen Sonnengold, doch die kühle Frische dieses Lichts hatte nun auch schon zur Gänze die Täler erfüllt, das Kupproner und Plomboner, deren Zusammenstoß von hier aus zusehen ist. Drüben auf den niedrigeren Höhen der Nord- und Ostseite war jegliches Gehöft mit seinen Baumgruppen und Wiesen deutlich zu unterscheiden, ihr heimliches Leben zwischen Haus und Stall lag ganz offen da, die große Menschlichkeit des Hausens und Schaffens, die Brunnen und Brunnentröge, manchmal krähte ein Hahn, manchmal tönte sogar ein Ruf herüber. Das alles sah und hörte ich, so zur Klarheit hatte der Regen die Luft gewaschen. Der Morgenwind war verstummt.

Warten auf das Wissen.

Wir gingen den schmalen Holzschlag hinab, der für die Seilbahn angelegt worden war, und mit jedem Jahr an Sträuchern und fettem Gras, das hier an der feuchten schattigen Bergseite gedeiht, reicher wurde und enger zusammenwuchs, wir passierten die grauen Betonsockel der Ständer, riesige Würfel, deren grobkörnige Seitenflächen, von jeder Pflanze verabscheut, von jedem Halm gemieden, nichts zeigen, außer den waagrechten Spuren der einstigen Stampflagen, und wir gelangten schließlich zu dem Bach, der links vom Kalten Stein herabkommt und die Seilbahngasse in tiefer Rinne quert. Mit ihm bogen auch wir rechts in den Wald ein.

Unzählige solcher kleiner Rinnsale kommen jetzt nach dem tagelangen Regen von der Kuppronwand herunter, trüb vor mitgebrachtem Sand stürzt es durch das sonst beinahe ausgetrocknete Bett und über die bemoosten Steine, während an seinem Rand die Farne und Gräser in seinen Fluten schleifen: manchmal reißt sich das eine oder das andere mitsamt seinem Klümpchen Wurzelerdreich los, dreht sich ein paarmal um sich selbst und stürzt dann verschwindend mit. Der Weg führt über glatten feuchten Nadelboden, ich muß den Stock fest in den Boden stoßen, um nicht auszugleiten, und wenn es zu arg wird, mache ich kleine Umwege, um auf Moos oder Fallholz zu treten. Der blaue Himmel schaut durch die schwärzlichen Zweige herein, die ganze Vielstämmigkeit des Waldes, des nächtlichen Regens noch voll, beginnt mit der Sonne zu spielen, ein Sonnenfleckenspiel, ein Knisterspiel, die Stämme lachten ihre Harztropfen, und die Glitzerperlen lagen auf den Zyklamenblättern, die allenthalben und besonders um die Stämme herum ihr gesprenkelt dunkles Reptilienleder der Sonne zukehrten. Auch ich hatte mein Gesicht der Sonne zugekehrt, ich ging ihr gerade entgegen und vielleicht lachte ich gleichfalls. Aber dann wechselt der Baumbestand und beinahe plötzlich ist man im goldgrünen Licht des Buchenwaldes, noch ein paar Schritte und du trittst auf den weichraschelnden Rasen des scharfkantigen Waldgrases, Unterholz mit zarten lichtgrünen Blättern drängt sich von allen Seiten dir entgegen, du mußt bereits Zweige wegbiegen, um ungehindert durchschreiten zu können, sie spritzen ihren Tau dir ins Gesicht, spielerisch letzte Nachzügler des Regens, kühler wird es, und gemächlicher fließt der Bach. Da bringe ich die Pfeife wieder in Brand, sie steckt fest und angenehm zwischen den Zähnen, mein Mund füllt sich mit warmsüßem Rauch, ich höre den Kuckuck und die Meise, all die Töne, weitergegeben von Kehle zu Kehle so weit der Wald reicht, fern und ferner bis ins Unhörbare und wieder zurückkehrend, und aus der Unhörbarkeit meiner Seinsgrenze steigt wieder Verwunderung auf, verwundert, daß ich ein Mensch bin, ein Mensch im Walde, Mensch, der durch den Tau schreitet und durch den Tag, Mensch, der den Regen von gestern vergißt und die Sonne von heute, selber ein Tautropfen, der verdunstet, selber ein Kuckucksruf, ein Amselschlag, weitergegeben von Ferne zu Ferne und nur im Unhörbaren zurückkehrend. Dunkler wird es nun, höher die Stämme, ihr Gezweige wird dichter, rissiger und knotiger ihre Rinde. Der Bach aber schneidet nun tiefer in den weicheren Boden ein, so tief, daß er bald eine kleine Schlucht bildet, an deren finstern Abhängen Gebüsch und Farnkraut und die gewaltigen Blätter des Huflattichs wachsen und vielerlei Geröll abgelagert wird.

Trapp wird auf einmal steifbeinig und langsam, er spitzt die Ohren, streckt die Rute aufmerksam in die Waagrechte und bleibt stehen. In seiner Kehle ist ein kaum vernehmliches Grollen. Ohne seine Erlaubnis befindet sich noch ein Mensch im Walde.

Der Mensch wird sichtbar und ist von großer Schäbigkeit. In der einen Hand trägt er ein verknotetes rotes Tuch, in der anderen ein paar schöne Pilze. Mager, grauhaarig, von unbestimmbarem Bartwuchs und unbestimmbarem Alter, ist es der Waldemar-Schuster, der sich sein Wissen um die Pilze, die nach dem Regen wachsen, zunutze gemacht hat.

Wir begrüßen uns, und ich bewundere seine Pilze, denn er ist ein einfältiger Mensch.

»Den da kriegt der Marius«, sagt er und steckt mir den großen Herrenpilz, den er separat in der Hand hält, unter die Nase. Der Pilz riecht kühl und erdig, man möchte beinahe sagen, elastisch.

»So, den kriegt der Marius. Wofür denn?«

Der Waldemar-Schuster ist freigiebig. Er brauchte nicht so arm zu sein, wie er ist, aber er ist wehrlos, und den Leuten macht es einen Höllenspaß, ihn auszunützen. Lax hat ihm noch nie einen Groschen gezahlt.

»Er wird uns erlösen«, sagt er.

Daß etwas Ähnliches kommen würde, hatte ich eigentlich schon längst erwartet; trotzdem war ich überrascht.

»Hat er seine Schuhe bei dir flicken lassen?«

»Ja, er und der andere.«

Der andere? ja, das war der Wenzel.

Der Pfad, auf dem wir jetzt miteinander hinabschritten, lief manchmal am Rande des Bachabgrundes, manchmal weiter von ihm entfernt, näherte sich ihm wieder, und mündete schließlich in den Fahrweg, der von links über die starke Knüppelbrücke kommend, nach rechts zum Waldausgang und zum Dorfe führte.

Ich blieb stehen.

»Haben sie dir die Schuhe bezahlt?«

»Ja«, sagte er mit einem seligen Lächeln.

»Aha, deshalb wird er uns erlösen.«

»Wenn du lachst, geh ich in den Wald zurück«, drohte er und schickte sich an, es zu tun.

»Komm«, sagte ich.

Die Radspuren unter unseren Füßen sind scharf eingegraben, ihre noch regenweichen Ränder brechen ein, und auf ihrem Grund liegt plattgefahrener Schotter. Streckenweise müssen wir hintereinander gehen, denn da wird es zu einem richtigen Hohlweg mit sandig-lehmigen Wänden, über die es immerfort ein wenig rieselt. Doch je näher man zum Waldausgang kommt, desto ebener wird die Straße, und schließlich zieht sie sich ganz sachte am Waldrand hin, bloß durch einige Bäume und einiges Gestrüpp von den Wiesenhängen getrennt, auf denen schon das gemähte Gras in langen Streifenwellen liegt und zu Heu verblaßt. Jetzt gehen wir wieder nebeneinander.

»Arm ist er, und den Armen wird er geben«, sagt der Waldemar-Schuster.

»Und den Reichen nehmen«, sage ich, »damit sie dir endlich deine Schuhe auch bezahlen.«

»Nein«, sagt er, »das wird er nicht tun; er nimmt niemandem etwas.«

»Ich werde ihm noch einen schenken«, sagte er schließlich und will sein Tuch aufknoten, um noch einen Pilz herauszusuchen.

»Ja«, sage ich.

Hinter der nächsten Abhangsfalte zeigt sich das Dorf, da gebe ich dem Waldemar-Schuster die Hand und durchbreche das Randgestrüpp, um einfach über den gemähten Wiesenhang hinunter zu kommen. Trapp, der offenen Fläche froh, eilt voraus.

Unten liegt nun das Dorf vor mir im dunklen Brunnen seines Gartengrüns. Leicht geht es sich über die Wiese, allerorts ist sie hiermit Moos durchsetzt, einem feuchten langblättrigen Moos, in das der Stock wie in ein großes elastisches Kissen tief einsticht. Überall stehen die Stengel der längst verschwundenen Narzissen, giftig-fahle, geknickte und bösartige Stengelleichen. Ich klettere über die einfachen Zäune, die des Viehs halber die Wiesen durchziehen, und einen Augenblick lang bleibe ich auf einem sitzen, die Hände um das graue längsrissige Holz geklammert, mit dem einen Bein baumelnd, das andere an die mittlere Stange gestemmt, und umschaue die morgendliche Runde. Oben am Waldrand steht der Waldemar-Schuster, der – wohl um zu sehen, was ich treiben werde – gleichfalls auf die Wiese hinausgetreten ist, und da er bemerkt, daß ich zu ihm hinaufblicke, macht er seine tiefen Bücklinge, um derentwillen ihn die Leute verspotten, und grüßend hebt er die Hand mit dem Pilzbinkel; ringsherum aber sind die Berge, der Wald, der in der Ferne zu einem großen flachen Polster wird, sind die gemähten Wiesen, die hellgrünen Kornflächen, der beinahe schwärzliche Klee und, steifer in seiner Farbe, der Hafer, während vor mir das Dorf liegt, gerade vor mir die Kirche mit dem Totenacker und, beinahe schon in die Felder hineingebaut, die Schule. Es ist das Dorf, das den Marius beherbergt. Da lasse ich mich von meiner Stange gleiten und gehe hinunter.

Ich lande beiläufig hinter Strüms Anwesen. Die Gärten, denen die süße Trauer ihres weißen und rosa Frühlings bereits weggeblüht und abgestreift ist, sind erwachsen geworden, satt hängt ihnen das Laub um Schultern und Arme, das Gras sprießt ihnen zu Füßen, und ihr Haupt ist vielgestaltiger Vogelruf. Aus den geöffneten Fenstern der Schule drüben dringt der Sprechchor eines Gedichtes.

Natürlich erinnere ich mich Agathens und ihrer Näherei im Garten. Aber sie sitzt nicht dort. Hingegen sehe ich den Vater Strüm, der mit einem Schubkarren Erde zu den Gemüsebeeten am Hofrand hinführt. Ich rufe ihn an und er kommt herbei.

»Alles wohlauf, Strüm?«

»Ja«, sagt er und steckt seine blaue Schürze über dem Bäuchlein auf, um sich vornehmer zu machen, »ja, uns geht es gut, der Agathe und mir.«

»Natürlich, dem Strüm geht es immer gut.«

Er lachte: »Besonders, wenn er Großvater wird.«

Das war etwas Neues: »So eine Überraschung, Strüm, … und das erfahre ich erst jetzt …«

Er strahlte: »Hoffentlich wird's ein Bub.«

»Na, da muß ich doch zu Ihnen hinüber und Ihnen die Hand schütteln …«

Dann schüttelten wir uns die Hände.

»Wann soll's denn werden?«

»Sie ist im dritten Monat.«

»Vom Peter?«

»Natürlich.«

»Zum Heiraten sind aber [die] beiden noch zu jung.«

»Die Agathe mag ihn auch gar nicht mehr.«

»Tatsächlich? … vielleicht später doch … denken Sie nur, das Mädel wäre versorgt, und zur Wirtin würde sie schon taugen …«

»Die wollen keine Häuslertochter, die wollen höher hinaus.«

»Das mag sich ändern.«

»Nein«, sagte Strüm und steckte die Hände frauenhaft unter seine Schürze, »jetzt sind wir es, die nicht wollen.«

Der Garten ist nicht mehr so hell wie damals vor sechs Wochen; dicht ist die Decke des Gelaubes, dicht die Decke des Grases, und dazwischen ist die Kühle des Sommers eingefangen.

»Außerdem«, meint er, »ist der Peter verrückt geworden.«

»Lassen Sie's gut sein, Strüm … die Geschichte mit dem Marius wird auch vorbei gehen, und dann wird der Peter wieder gut und vernünftig werden.«

»Wir brauchen keinen Peter.«

»Lächerlich, jedes Mädel braucht einen Mann … und dann ist es schon besser, wenn es der Kindsvater ist.«

Strüm überlegte, und ich schaute aufs Feld hinaus. Die Ähren, die am Morgen noch regenschwer gewesen waren, hatten sich aufgerichtet und bebten in leichten heißen Schauern.

Dann sagte er: »Nein, wir brauchen keinen Mann.«

»Du nicht, Strüm … das glaub' ich dir schon.«

Und damit gingen wir zum Haus hinüber.

Wir trafen Agathe beim Herd.

»Das sind mir Neuigkeiten, Agathe … viel früher hättest du wohl nicht anfangen können.«

Sie verstand wohl nicht, was ich meinte. Sie lächelte bloß und sagte: »Ja.«

Aber Strüm freute sich: »Ja, sie war fix.«

Es ist sonderbar; er brauchte, er wollte keinen Mann für das Mädel. Aber was vorhergegangen war, das bejahte er, das war ihm recht. Daß dieser rundliche Kinderschoß, von süßem Zwang übermannt, den Peter in sich aufgenommen hatte, daß ein großer und trauriger und sanfter Zwang darüber gewaltet hatte, niedergeworfen sie beide von einer Hand, die ihnen die Augen schloß und sie über den Rand ihrer selbst hinausgehoben hatte, das nahm der Strüm hin wie eine Frau, die nur an das künftige Kind denkt. Und nun sollte sich in diesem Kinde da vor uns ein neues Kind bilden, in diesem Leib ein neuer Leib, in dem knöchernen Becken ein neues Gerippe, und es ist die Freude des Seins.

»Was wirst du denn mit so einem kleinen Geschöpf anfangen, Agathe, wenn es einmal da sein wird …?«

Agathens rundes Kindergesicht, das gleichsam noch mit einer dicken und beinahe unbeweglichen Schicht Jugend überdeckt war und von dem man nicht wußte, ob es später von den unzähligen Schichten der Menschlichkeit noch eine oder die andere würde zeigen können – gar wenige Gesichter gelangen dazu, und das ihres Vaters, dem sie ähnlich sah, hatte gewissermaßen auch nur eine einzige Schichte –, ihr Gesicht wurde leicht von innen beleuchtet und bewegt, und sie sagte:

»Ich werde im Garten unter den Bäumen mit ihm sitzen.«

»Ja«, sagte ich, »das wirst du tun, sicherlich wirst du das tun, das tust du ja jetzt auch schon.«

Und ich mußte daran denken, daß das Ungeborene vielleicht jetzt schon das Rauschen der Bäume und das Weben des Sommerwindes vernehme und daß es sein ganzes einstiges Leben dieses Vor-Lauschen als ewiges Heimweh mit sich tragen [werde].

»Aber es wird November sein, wenn ich ins Bett komme.«

»Richtig«, sagte ich, »das ist richtig, da werden die Bäume kahl sein, da wirst du das Kleine wohl in der Stube trocken legen müssen.«

Strüm, fröhlich, mischte sich ein: »Das wird ein Spaß werden.«

Das Mädchen jedoch, in dessen Schoß der Menschensame keimte, es sagte:

»Wir werden eine warme Stube haben, und ich will das Licht lange in der Nacht brennen lassen. Da soll im Schatten neben meinem Bett die Wiege stehen …« Und sie fügte hinzu: »Vielleicht werde ich auch manchmal weinen.«

»Eine Wiege aus Mandelholz«, meine ich. Weiß der Teufel, warum ich gerade auf Mandelholz verfiel.

»Wir haben eine Wiege«, sagte Strüm, »die, in der auch die Agathe gelegen hatte.«

Plötzlich empfand ich es schmerzlich, selber kein Kind zu haben, empfand mein Alter. Und so fragte ich bloß:

»Was kochst du denn heute, Agathe?«

»Nudeln«, sagte Strüm und leckte sich die Lippen.

Indes die Schwangere ließ nicht ab von der Wiege: »Wenn ich mich darüber beuge, wird es nach meiner Brust greifen, und ich werde mein Hemd öffnen … und wenn es getrunken haben wird, dann wird es Fäustchen machen und wieder einschlafen.« Und während sie so sprach, war ihr ganzer Körper ein leises Schaukeln.

Strüm hörte entzückt zu. Durch die geöffnete Küchentüre kamen die Geräusche des Sommers, kam Stallgeruch, und irgendwo spielte einer auf der Mundharmonika, als ob es Sonntag wäre.

»Ja«, sagte sie, »so wird es sein.«

»Freilich«, bestätigte ich, »so wird es schon sein … essen und schlafen, so halten es alle Kinder … schön wäre es, wenn unsereiner das auch noch tun könnte … was, Strüm?«

Agathens helle Augen sahen an mir vorbei, vielleicht zum Garten und zu den Bäumen, unter denen der Korb des Kindes im nächsten Jahr stehen und zu denen es, schläft es nicht, hinaufschauen sollte, vielleicht aber sah sie auch noch weiter hinaus bis zu den Enkeln und Enkelsenkeln, die den aus der Unendlichkeit kommenden, aus der Unendlichkeit empfangenen Lebensstrom weiter tragen werden, immer wieder zwischen den Bäumen und den Feldern, bis in alle künftige Ewigkeit: denn das Auge vermag das Gleichnis oberer und unterer Wirklichkeit eher zu erfassen als der Verstand des Menschen und immerzu sucht es das Gleichnis, denn es dürstet nach Sicherheit im leeren Raum –, und auch in den Bäumen eines Bauerngartens wohnt das Gleichnis.

Und dies bestätigte sich, da Agathe die Hände zur Schale formte, als wollte sie die noch nicht vorhandene Milch ihrer Brüste auffangen oder als hätte sie sonst etwas Wichtiges und Bedeutsames vor sich herzutragen, und da sagte sie:

»Wie ich klein war, habe ich noch die Urgroßmutter gekannt, und jetzt werde ich einmal meine Urenkel noch kennen.«

Sieben Generationen. Allerhand. Das kann geschehen, wenn man mit sechzehn Mutter wird.

Die sonntäglich anmutende Mundharmonika spielte noch immer; ich erinnerte mich, daß ich früher den Peter oftmals während der Ordination wegen dieser blechern dünnen Musik verflucht hatte. Aber in Agathe schienen die Töne keine Erinnerung wachzurufen.

Ich hob ihr Kinn: »Wir werden's schon machen, Agathe.«

Als ich mit Strüm wieder auf den Hof hinaustrat, war die Morgendlichkeit aus der Luft verschwunden. Mit der steigenden Sonne war der Himmel weißer und dicker geworden, die Himmelstriften waren wie eine Haube aus Milch, die man über den dunklen Weidegrund des diesseitigen Lebens gestülpt hatte.

»Eigentlich müßten Sie die Sabests von dem Ereignis in Kenntnis setzen«, sagte ich, »auch wenn nicht geheiratet wird, so soll doch das Kind wissen, von wem es stammt, und die Welt soll es auch wissen …«

Er kratzte seinen Rundschädel: »Ja, das müßte man wohl …«

»Und schließlich, so dick haben Sie es nicht … wahrscheinlich werden Ihnen die Alimente sehr gut tun … schon Agathens und des Kindes wegen werden Sie sie verlangen müssen …«

»Herr Doctor, das möchte ich nicht …«

»Warum denn nicht?«

Strüm zögerte ein wenig: »Der Peter weiß ohnehin davon.«

»Nun, und?«

»Ja, und neulich habe ich den Wenzel getroffen …«

»Was hat der damit zu schaffen?«

»Mag sein, daß es wieder einer von seinen Späßen war, er hat gesagt, von nun an werden den Mädeln, die Alimente verlangen, die Fenster eingedroschen …«

»Das werden Sie doch [nicht] ernst nehmen … den Herrn Wenzel würde ich mir da kräftigst ausborgen!«

»Wir haben ja noch Zeit«, lachte er, »sechs Monate …«

»Mir gefallen die Späße des Wenzels ganz und gar nicht«, sagte ich zum Abschied.

Ich hatte Briefe in der Tasche und ging zuerst einmal zur Post, die gleich beim Ausgang der Kirchengasse untergebracht ist.

In dem kleinen stubenförmigen einfenstrigen Raum, dessen Wände mit amtlichen Ankündigungen bezettelt sind, so daß man neben dem selten ausgewechselten Wetterbericht auch die Eröffnung der Telephonverbindung mit Pernambuco lesen kann, langweilte sich Fräulein Baidan wie gewöhnlich und war über die unerwartete Kundschaft erfreut.

»Stille Zeiten, Fräulein Baidan …«

Sie lächelte mit ihren langen unregelmäßigen Zähnen, die ich aus der Ordination gut kenne: »Jetzt wird es bald noch mehr zu tun geben … vielleicht werde ich sogar eine Hilfe brauchen …«

»Nein, wirklich …«

»Ja, der Herr Lax meint, daß wenn sie jetzt Gold finden werden, da wird es einen ungeheueren Verkehr geben und viele Fremde …« Sie sagte es mit Stolz, und ich konnte [nicht] entscheiden, ob der Stolz dem vielbeschäftigten Amt galt oder ihren Beziehungen zum Lax, von denen man behauptete, daß sie zarteren Charakters wären, und die sie gerne zur Schau trägt. Sie ist über meine Briefe gebeugt, der kleine schwarze Haarschopf ist mit Drahtnadeln festgehalten und der magere Nacken gelblich.

Wie ich hinaustrete, sehe ich drüben unter dem Vordach der Schmiede den Johanni mit einem Roß stehen, und weil ich ohnehin wieder einmal zum Schmied wollte, überquerte ich die weiße staubige Straße, zwänge mich zwischen den Bauernwagen durch, die vor der Schmiede auf neue Reifen oder Achszapfen warten, und begrüße die beiden.

Der Schmied fuhr eben prüfend über den Hals des Tieres und ließ die beiden weichen Sehnenstränge durch die Hand gleiten. Johanni daneben macht ein besorgtes Gesicht.

»Es ist nichts«, sagte der Schmied.

»Doch«, sagte Johanni, »das Roß hat die Kehlen, gib ihm ein Pulver.«

Der Schmied schüttelte den Kopf: »Dem Pferd fehlt nichts … aber wenn du durchaus willst …«

Ich bin mit Pferden nicht unvertraut; nichts war an dem Tier zu finden. Doch Johanni, der sich den Schweiß von der Stirne wischte, schien zu seiner ochsenhaften Störrigkeit nun auch noch eine störrische Angst erworben zu haben; weder das gute Licht des Mittags, noch unser Zuspruch, weder das Feuer, das im Dunkel der Schmiede flackerte, noch das lustige Hämmern, mit dem der Geselle Ludwig eine Sensenschneide auf dem Amboß bearbeitet, vermochte die Angst, die in ihm steckte, zu vertreiben, und er wiederholte: »Gib ihm das Pulver.«

»Schön …«, sagte der Schmied und holte das Pulver. Ich war ihm behilflich, als er das Pferd bei den Nüstern packte, um ihm das Pulver in das schmerzlich lachende Maul zu blasen.

Als Johanni mit seinem Roß davon war, setzte ich mich mit dem Schmied auf einen der Bauernwagen. Wir zündeten beide unsere Pfeifen an.

»Na, Schmied«, meinte ich, »was sagst du dazu?«

Wir blickten dem Johanni nach, der mit schwerfälligem Ochsenschritt neben dem Pferd dahinging; das Pferd schlug mit dem Schweif die Fliegen vom Schenkel.

Der Schmied machte ein ernstes Gesicht: »Wenn es noch ein paar packt, dann gibt's ein Unglück; dann wird uns das Vieh wirklich krank.«

»Der Marius«, sagte ich.

»Ich bin nur der Schmied«, sagte er, »ich kenn' nur das Vieh, du bist der Doctor, die Leute mußt du gesund machen.«

Unter dem Vordach lagen die Pflüge und blinkten, manche noch bläulich, an der Wand standen die Sensen gereiht, und ich sah dem Schmied in die Augen. Er hatte braune Augen, goldglänzend wie poliertes Holz.

Ich sagte: »Wenn einer kommt, der die Welt erlösen will, da kann der Doctor nichts mehr machen.«

»Ja«, sagte er, »aber die, die wie der Johanni sind, glauben nicht daran, daß die Welt erlöst wird, sondern daß er hexen kann.«

»Du siehst ja, daß er's tut, er behext die Leute.«

Der Schmiedegeselle Ludwig war zu uns getreten, die fertige Sensenschneide in der Hand, und rief lachend: »Niemanden behext er … sie haben bloß Angst vor dem Gold, das wir herunterholen werden.«

»Du, schweige«, verwies ihn der Meister, »und tue deine Arbeit.«

Der Schmiedegeselle Ludwig lachte weiter. Er war ein großer Bursch, statt eines Hemdes trug er ein tief ausgeschnittenes Leibchen, das seine starken Schultern freiließ; auf der Brust wuchs ihm dunkelblondes Haar.

Ich sagte: »Der Marius wird das Gold nicht holen, zumindest nicht so lange er beim Miland arbeitet.«

»Aber der Wenzel arbeitet beim Krimuß«, antwortete er fröhlich, »und das ist was anderes.«

Der Schmied sagte: »Der Wenzel ist ein bloßer Spaßmacher.«

»Vielleicht auch der Marius«, sagte ich.

»Nein«, sagte der Schmied, »der ist ernst.«

»Und der Wenzel wird Ernst machen«, strahlte der Geselle.

Da lachte auch der Schmied auf, es war ein hartes und doch gutes, ein diesseitiges Lachen wie warmes Holz: »Mit Spaßen hat noch keiner Ernst gemacht, ernst ist das Eisen.«

»Der Marius ist kein Eisen«, sagte ich.

»Wir haben das Eisen«, sagte der Geselle.

Unter dem Vordach hing eine gewaltige Waage an starker Kette; an je drei dünneren Ketten hingen die großen Eisenschalen, auf denen ein ganzer Kornsack Platz hatte. Hier wiegen die Bauern ihr Getreide.

»Was willst du?« fragte ich den Schmied, »Und was willst du?« fragte ich den Gesellen.

»Auch das Gold lacht«, erwiderte zuerst der Geselle, »hier werden wir es wiegen.«

»Auch der Tod lacht«, erwiderte der Meister, »er lacht wie ein Pferd. Aber er kann auch ernst und gut sein.«

Wessen waren sie überdrüssig? Sie hatten den Amboß und Blasbalg, der die Luft in Feuer verwandelt. Sie hatten ihr Wissen. Wollten sie noch ein Wissen? sie hatten ihre Ordnung. Wollten sie noch eine Ordnung? »Ihr wollt das gleiche«, sagte ich und ging zu meiner eigenen Arbeit.

Der Kastanienbaum im Hofe des Wirtshauses war von der Pracht seines verspäteten Frühlings umhüllt. Er blüht hier später als alle anderen Bäume der Gegend, die rosa Kerzen umstanden dicht seinen großen und weichen Leib. Sein Frühling ist der Frühling der Stadt, der ich überdrüssig geworden war, der ich überdrüssig noch immer bin, obwohl ich sie schon längst geflohen und vergessen habe.

 

Am Abend, gegen sechs, kam der Wetchy zu mir herübergelaufen.

»Der Maxi fiebert.«

»Kinder fiebern leicht, Herr Wetchy … zeigt sich sonst was? roter Hals? Verdauung?«

Er konnte keine Auskunft geben; er war zu verstört, und während wir das kurze Stück zu seinem Haus hinübergingen, schwätzte er kreuz und quer durcheinander. Überall gäbe es bloß Unglück und Unannehmlichkeiten. Man täte sich ohnehin schwer genug, das bißchen Leben zu fristen. Kein Geschäft. Kaum ein nennenswertes Geschäft. Wovon soll man denn seine Kinder ernähren? Jetzt sei ein Narr im Dorf, der hetze gegen das Radio. Dabei sind es doch erstklassige Apparate.

»Hm.«

Ein Kerl, Wenzel heißen sie ihn. Der sei ihm neulich auf der Straße nachgelaufen und habe fortwährend »Drahtloser« geschrieen. Und die Burschen und Jungen seien dagestanden und hätten sich auf die Schenkel geklatscht.

Und mit großer Empörung schloß er: »Dabei ist der Mensch sogar kleiner als ich.«

Ja, das war der Wenzel. Und schon bei Wetchy war weder in der Länge, noch in der Breite viel vorhanden. Ich mußte lachen: »So, der Hanswurst mag Ihre Brüllkästen auch nicht leiden …«

Er war beleidigt: »Solch ein Geschäft ist mühselig aufgebaut, Herr Doctor, und leicht zugrunde gerichtet … ach ja.«

Inzwischen waren wir bei ihm angelangt. Sein Haus ist dem meinen ganz analog gebaut, doch fehlt hier neben dem Wasser auch sonst noch allerlei Zubehör, das ich bei mir selber eingerichtet habe.

Das Krankenzimmer war verdunkelt. Die kleine Frau Wetchy, die an dem Bett gesessen hatte, erhob sich, und ich sah zuerst bloß eine rührende kleine Gebärde der aufgehobenen Arme. Manchmal sah ich ähnliches bei knieenden Frauen in dunklen Kirchen.

»Guten Abend, Frau Wetchy … wie wäre es, wenn wir ein wenig Licht hereinließen …?«

»Ja?« klang es zögernd und ängstlich.

In Ermangelung von Jalousien hatte sie vors Fenster eine große Decke gehängt, die ich nun einfach herunter nahm.

»Es tun ihm aber die Augen weh.«

Der Kleine sah mißtrauisch und ängstlich zu mir herauf.

Alles in dieser Familie hatte einen Unterton von Angst, die Liebe, mit der sie zu einer dünnen und nicht sehr haltbaren Wärme zusammenrückten, nicht minder als der patriarchalische Beschützerton, mit dem der kleine Vater Wetchy die Seinen kommandierte.

Er tanzte um mich herum und verstellte mir den Weg: »Ist es etwas Ernstes, Herr Doctor?«

»Wie wär's, Wetchy, wenn Sie mich erst den Buben sehen ließen … bringen Sie mir mal einen Löffel.«

»Einen Löffel«, kommandierte er der Frau.

Der Bub, der sich geduldig den kalten Löffel auf die Zunge legen ließ, war fieberheiß. Masern? Weit und breit kein Masernfall. Aber Angst lockt eben die Krankheiten an, selbst aus dieser reinen Luft hier oben zieht sie die Bazillen an sich.

»Ist's was Ernstes, Herr Doctor?«

»Na, vielleicht Masern.«

»Ma … grundgütiger Himmel!«

»Aber kleine Frau, wer von uns hat nicht schon seine Masern hinter sich … je früher, desto besser.«

Sie schaute mich fragend an, traute sich jedoch nicht, zu widersprechen, ja, sie lächelte sogar ein wenig, als sie in ihre Hand die des Kindes nahm, das wie ein kleiner alter Mann in die Kissen zurückgesunken war.

Nachher wusch ich mir die Hände in der Küche. Das hätte ich natürlich auch zu Hause besorgen können, aber aus erzieherischen Gründen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, dies bei jedem Patienten zu tun. Wetchy, ein frisches Handtuch über den Arm gelegt, sah mir andächtig zu, als hänge von meinem Waschen die Gesundheit und das Leben seines Kindes ab.

Beim Küchenfenster saß das ältere der beiden Wetchykinder, das fünfjährige Mädel in einem Kinderpult und schnitt still Buntpapiere zu Streifen.

»Wissen Sie, Herr Wetchy, Sie könnten für die Krankheitsdauer eigentlich das Mädi zu Verwandten schicken … wegen der Ansteckung.«

Er sah mich fassungslos an; dem war er nicht gewachsen.

Doch ich hatte es mir inzwischen auch schon überlegt; möglicherweise steckte in dem Mädel auch schon die Ansteckung, und da gab es nur noch weitere Komplikationen. Deshalb bot ich ihm an: »Oder noch besser, geben Sie sie zu mir hinüber in Quarantäne … meine alte Karoline hat ohnehin nichts zu tun … und wenn sich bei dem Mädel doch was zeigen sollte, so stelle ich es Ihnen zurück.«

Wetchy machte eine Bewegung, als wollte er zu seiner Frau hineinlaufen. Aber dann besann er sich, oder die Beine versagten ihm den Dienst. Er trocknete seine Oberlippe, auf der ein kleiner rötlicher Agentenschnurrbart sitzt, dann wischte er sich die mit schüttern rötlichen Haaren bestandene Glatze; der Schweißausbruch machte ihn schwach und stumm.

Ich betrachtete diesen stillen Dulder, diesen hierher verschlagenen Städter. Es mag sein, daß in der Ängstlichkeit, mit der so einer seinen kleinen Lebenssinn hütet und ihn nicht hergeben will, mehr Einsicht in die Dinge dieses Lebens enthalten ist, als in dem Verhalten der Burschen und Bauern, die für ein solches Geschöpf bloß ein verächtliches Achselzucken und Hohn haben. Trotzdem ärgerte ich mich über sein kümmerliches Gehaben, und ich wandte mich an die kleine Rosa: »Nun, Mädi, möchtest du bei mir wohnen? beim Trapp?«

Das Kind schüttelte ernsthaft den Kopf und schnitt weiter an seinen Buntstreifen.

Wetchy machte eine Geste, als ob damit nun die Entscheidung gefallen sei.

Na, meinetwegen nicht.

Ich näherte mich Rosa, um mir ihre Arbeit anzuschauen. Als ich auf die Brettertafel trat, die Wetchy unter das Pult gelegt hatte – auch vor dem Herd lag eine solche – und die Frau und Kind vor der vom steinernen Küchenboden aufsteigenden Erkältungsgefahr zu schützen hatte, wippten die Bretter unter meinem schweren Gewicht hoch.

»Noch einmal«, rief das Kind mit überraschender Lebendigkeit.

Auch Wetchy lachte einfältig. »Tun Sie's noch einmal«, rief er gleichfalls. Er schien die Masern und meinen Vorschlag vergessen zu haben.

Schön, ich wiederholte das, was da plötzlich zu einem guten Scherz geworden war, und trat mit aller Macht, daß [es] dröhnte, nochmals auf die Bretter. Wieder mit dem gleichen Erfolg bei Vater und Tochter.

Doch da ich das idiotische Spiel nicht ewig fortsetzen wollte, wie es den beiden wohl behagt hätte, sagte ich: »Herr Wetchy, jetzt gehen Sie aber, und beraten Sie sich mit Ihrer Frau.«

Wetchy, der sich eben noch die Hände vor Vergnügen gerieben hatte, machte ein enttäuschtes Gesicht und ging, nicht ohne bei der Türe sich nochmals bedauernd umgeblickt zu haben, weil ich gerade wieder unter dem Aufjauchzen Rosas, die dabei die Ärmchen jubelnd emporwarf, auf das Brett gestampft hatte.

Als er draußen war, sagte auf einmal das Kind: »Wirst du das mit mir spielen, wenn ich zu dir komme?«

»Ja«, sagte ich unvorsichtigerweise, nicht dran denkend, daß ich mir jetzt auch so ein Brett anschaffen müßte. Und als wollte mich das Geschick doch noch warnen und abschrecken, schrie sie gleich darauf wieder ihr »Mach's noch einmal.« Aber da traten schon Wetchy und seine Frau ein; er war gefaßt, schwitzte nicht mehr und hielt seine Hände ruhig.

»Nun, wozu haben Sie sich entschlossen?« Ich glaube, daß ich es nicht sehr ermunternd gesagt hatte.

Angesichts des Kindes wurden sie wieder wankelmütig und Frau Wetchy verbarg es unter Wohlerzogenheit: sie dürften mir doch keine Ungelegenheiten bereiten, und wenn das Unglück sie schon betroffen hätte, so wüßten sie wohl, daß man es allein tragen müsse und daß es nicht erlaubt sei, oh, noch lange nicht, unbescheiden zu werden.

Aus Ungeduld über das Gerede fuhr ich sie an: »Also ist es Ihnen recht, wenn die Rosa die Masern kriegt.«

Sie bekam Tränen in die Augen. »Nein … nein.« Sie hob abwehrend und beschwörend ihre Hände.

»Na, kleine Frau, es war nicht böse gemeint … aber wenn's sein soll, dann los … und lachen Sie lieber, das steht Ihnen viel besser.«

Sie machte sofort den folgsamen Versuch, zu lächeln: »Ja … aber in diesem Kleidchen …« und sie wollte auf das Kind zugehen, offenbar um es für den Besuch bei mir zu schmücken.

»Nichts da«, befahl ich, »wer aus dem Krankenzimmer kommt, hat das Kind nicht mehr anzurühren … was wir brauchen werden, das kann die Karoline schon jeweils herüberholen …«

»Geh' ihr aus der Nähe«, sekundierte mir Wetchy und sah die Frau streng an. Doch dann bat er: »Aber ich darf sie begleiten? ich wasche mir die Hände.«

So gingen wir denn. Wetchy hatte in seine Aktentasche ein paar Habseligkeiten und Wäsche für das Kind verstaut, Rosa trug ihre Puppe und in einer Pappschachtel ihre Ausschneidearbeit, und ich war neugierig, was Karoline zu alldem sagen würde. Die Sonne war eben hinter dem Kuppron verschwunden, der von den Felsen herabstreichende Abendwind frischte auf, und Wetchy, um sich nicht zu erkälten, hielt die Aktentasche an die Brust gepreßt. Ich wandte mich um. Da stand Frau Wetchy vor dem Hauseingang und winkte. Unter der verwaschenen lichtblauen Schürze wölbte sich ihr der Bauch; im September sollte sie ja wieder ins Bett kommen. Und es wird neuerdings einen kleinen rötlichen Wetchy mit rachitischer Anlage geben.

Durch die Stämme hindurch, zu unserer Rechten, leuchteten grau, still und starr die abendlichen Felsen, ließen den Wind an sich herunter gleiten, und mit abendlichem Seufzen empfing ihn der Wald. Und da war es mir, als würde ich die Kleine, die da auf Krankheitsdauer zu mir kam, für immer und ewig an Kindesstatt annehmen, und obwohl ich genau wußte, daß dies ein sinnloser Gedanke war, wahrscheinlich bloß durch das dumme Abschiedswinken verursacht, war er mir merkwürdigerweise nicht unangenehm. Ein richtiges Bauern- oder Holzfällerkind wäre mir freilich lieber gewesen, und auch eines, das nicht auf einen so dummen Namen wie Rosa hörte, und als wollte ich die Möglichkeit eines Rückweges erkunden, schaute ich noch einmal zurück. Frau Wetchy stand noch immer winkend dort; ich winkte gleichfalls und versuchte, auch das Kind dazu zu veranlassen. Aber das Kind hatte kein Interesse daran; es hatte die Puppe fest im Arm, sprach mit ihr und drehte sich nicht um.


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