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Fünfzehntes Kapitel.

Fortsetzung der Geschichte Edgar Vaughan's. Im englischen Original lautet der Untertitel: » Edgar Vaughan's story concluded.«

 

Man wies mir dieselbe Hängematte an, in der der Mörder meines ganzen Glückes geschlafen hatte, und es war wohl natürlich, daß ich keine Ruhe darin finden konnte. Sobald ich den Grund wußte, bat ich um eine andere Schlafstelle, und ich kroch in dasselbe Bettchen, worin meine unschuldigen Lieblinge gelegen hatten. Hier schlief ich besser, als ein König, denn war's mir doch, als athmete ich den Duft, der Lily umschwebte. Wenn die kleine Lily (so soll sie genannt werden, wie die Spitzbuben sie immer getauft haben mögen), wenn meine kleine Schönheit, denn das muß sie sicherlich sein, jemals zum Vorschein kommt, und ich im Grabe ruhe, liebe Clara, so wirst Du den balsamischen Athem ihrer Mutter an ihr bemerken. Solche Eigenthümlichkeiten sind erblich, besonders bei Frauen.

Nach einer langen und stürmischen Fahrt und vierzehntägigem Aufenthalt in Bordeaux zwecks einer Reparatur passirten wir das wohlbekannte Marschland von Essex und erreichten das Zollamt spät am Abend des letzten Tages im Jahr. Als das mühsame Geschäft dort beendet war, fühlte ich mich ganz aus meinem gewohnten Geleise geworfen. Ich begab mich nach einem Gasthof in der Nähe von London Bridge. Alles erschien mir neu und ich bog fortwährend in falsche Straßen ein. Aber einer alten Londoner Gewohnheit gegenüber war die Zeit machtlos geblieben. Zeitungen, die eine Woche oder vierzehn Tage alt waren, trieben sich noch in dem Gastzimmer umher. Als man mir gesagt, daß die neuesten Journale »gelesen wurden«, was stets der Fall ist, griff ich nach einem vor etwa zehn Tagen ausgegebenen Wochenblatt, um bis zum Abendessen darüber zu gähnen. Peter Green durch meine Ankunft zu stören war es mir zu spät, und ich bestellte deßhalb ein Bett in diesem Hotel.

Die Redaktion der Zeitschrift in meiner Hand war eine von denen, welche die Scheere mit Fleiß und Methode zu benutzen wissen. Unter den »Provinziellen Nachrichten« fand ich den folgenden Artikel:

» Zeitgemäße und edle Handlungsweise. – Wie wir hören, hat ein echter englischer Edelmann von altem Schrot und Korn, das Haupt einer der ältesten und geachtetsten Familien unserer Grafschaft, in dieser Zeit der schweren und unverdienten Bedrängniß für den Ackerbautreibenden, die Absicht kundgegeben, seinen sämmtlichen Pächtern nicht weniger denn zwanzig Prozent von ihrem Pacht zu erlassen. Auch zu einem verschwenderischen, ja fürstlichen Mahl am Vorabend des heiligen Weihnachtsfestes, das er für Jeden, Mann, Weib oder Kind aus seiner großen Domäne herzurichten gedenkt, sind schon Vorbereitungen getroffen. Wenn wir mittheilen, daß der Herr Wirth vom Elephanten den Majordomus machen wird, und unser geachteter Mitbürger George Jenkins, der, wie unsere Leser noch in der Erinnerung haben werden, den in Smithfield mit der goldenen Medaille prämiirten Ochsen kaufte, die Braten zu besorgen hat, brauchen wir dann noch mehr zu sagen? Auf die Gefahr hin, eines ungerechtfertigten Zweifels an der Intelligenz unserer Grafschaft geziehen zu werden, fügen wir noch hinzu, daß der geehrte Gentleman, auf den wir anspielen, Henry Valentine Vaughan, Esquire von Vaughan Park ist. Und solch ein Mann, der Repräsentant einer von Alters her durch ehrenhafte Gesinnung ausgezeichneten Familie, ein Mann, der einen distinguirten akademischen Grad erlangt und durch seine Reisen auf dem Continent bedeutende Erfahrungen gesammelt hat, ist solcher Mann, so fragen wir, nicht tausendmal besser geeignet, den Meinungen und Wünschen dieser großen Grafschaft im Senate Ausdruck zu geben, als der Sproß (fast hätten wir gesagt die Brut) der Emporkömmlinge von Manchester, den eine Herrschaft, deren Namen wir nicht nennen wollen, der Grafschaft unterzuschieben versucht? Wir warten auf Antwort.« – ( Gloucester Argus.)

Der distinguirte Grad meines Bruders war der eines Baccalaureus artium, der ihm ertheilt worden, nachdem er nur mit genauer Noth durch's Examen gekommen war. Sieh nicht so beleidigt aus, Clara. Dein Vater hatte sehr gute Fähigkeiten, aber er verwendete den größten Theil seiner Zeit in Oxford auf »Taubenschießen« an der Weirs und Ausflügen nach dem Bagley-Gehölz, welche er in späteren Jahren als strafbar betrachtet haben würde.

Diese plumpe Lobhudelei wäre nie in einer bedeutenden und einflußreichen Londoner Zeitung abgedruckt worden, hätte sie nicht mit jenem Hinweis geschlossen, der genau den Gefühlen der höherstehenden Redaktion entsprach. Nun war mit Bestimmtheit vorauszusetzen, daß diese Zeitschrift gerade unter den Flüchtlingen vom Continent circulirte, und zwar wegen ihrer wohlbekannten Antipathie gegen dieselben. Zufällig enthielt diese mir zu Gesicht gekommene Nummer sogar eine heftige Tirade gegen unsere Regierung, wegen des mächtigen politischen Schutzes, den England gewährt. Ich sah die Gefahr sofort, und mir wurde weh um das Herz; mein heiterer und schuldloser Bruder inmitten seiner Weihnachtsfreude – und zur selben Zeit schlich sich vielleicht ein heimtückischer Mörder in seine Nähe.

Aber selbst, wenn dem so war, würde Lepardo nicht vielleicht in der Gegend, wo die Vaughan's so gut bekannt waren, seinen Irrthum entdecken? Diese Hoffnung war jedoch nur eine schwache. Mit einem solchen Vorhaben im Sinne würde er weder wagen, sich zu zeigen, noch Erkundigungen einzuziehen, selbst wenn dieselben nothwendig erschienen. Dazu kam, daß jener verdammte Zeitungsklatsch die Reisen auf dem Continent (nämlich Deines Vaters Hochzeitsreise), erwähnt hatte, wodurch jeder möglicherweise gehegte Zweifel an seiner Identität vernichtet sein würde. Es war auch nicht einmal anzunehmen, daß der kaltblütige, teuflische Feind seinen Irrthum erkennen würde, wenn er meinem armen Bruder bei hellem Tage offen gegenüberstände. Lepardo und ich waren einander nur einmal und in hitzigem Kampfe begegnet. Mein Bruder glich mir an Gestalt, Gesicht und Stimme. Obgleich ich etwas größer und von viel dunklerer Gesichtsfarbe war, so würde der erstere Unterschied nur Aufmerksamkeit erregen, wenn wir neben einander standen, und der letztere dem Einfluß des Klimas zugeschrieben werden. Aus der Zeugenaussage des Waldhüters schloß ich, daß Lepardo, während er im Unterholz verborgen war, seinen bösen Blick auf Deinen armen Vater geworfen und geglaubt hatte, seinen Feind zu sehen.

Voller Angst und Unruhe sah ich nach dem Datum der Zeitung – sie war zwölf Tage alt. Es war dennoch möglich, daß ich noch zu rechter Zeit einschreiten konnte, denn wahrscheinlich hatte der Mörder, dem korsischen Gebrauch gemäß, zu Fuß und einen Stein aufs Knie gebunden die Reise angetreten. Selbst wenn er auf moderne Art gereist war, so würde er, vermuthlich in der Nähe des Hauses auf der Lauer liegend, Hunger, Kälte und alle möglichen Entbehrungen ertragen, bis der Moment da war. Konnte ich noch in derselben Nacht nach Gloucester reisen? Nein, der letzte Zug ging ab, ehe ich die Station Paddington zu erreichen vermochte.

So entschloß ich mich, am Morgen den Schnellzug zu benutzen, mit dem ich gegen Mittag in Gloucester anlangen würde.

Nach einer schlaflosen Nacht war ich früh am Morgen aufgestanden und setzte mich mechanisch an den Frühstückstisch, während nach der Droschke geschickt wurde. Da trat ein Kellner mit den Morgenzeitungen ein, den Zeitungen vom Neujahrstage 1843. Was ich darin sah, und was ich fühlte, kannst Du, mein armes Kind, Dir nur zu gut vorstellen. An jenem Tage konnte ich nicht mehr reisen. Es war vielleicht feige, unmännlich von mir; aber ich konnte den Anblick des Grames Deiner Mutter und des trostlosen Hausstandes nicht ertragen. Deßhalb suchte ich mich zu überreden, daß ich meiner Pflicht genüge, indem ich alle Polizeistationen von London aufsuchte und Lepardo so gut beschrieb, wie es mir möglich war. Am folgenden Tage verließ ich London und traf hier, wie Du Dich wohl noch erinnerst, lange nach eingetretener Dunkelheit und während eines starken Schneefalls ein. Auf der Schwelle des Hauses kam ich bei Dir schon übel an, denn ich beleidigte Deinen kindlichen Stolz dadurch, daß ich Dich für die Tochter der Haushälterin hielt. Mit dem hohen Selbstgefühl eines aristokratischen Kindes, und ohne das trübe Licht in Anschlag zu bringen, hieltest Du es für einen Vorwand, unter dem ich Dich zu kränken beabsichtigte, und dieser Gedanke vergiftete Dein Herz gegen mich. Du warst jedoch völlig im Irrthum. Mein Gemüth war ganz erfüllt von dem schrecklichen Schlage, der Deine Mutter betroffen, und Dir, die ich nie gesehen und von der ich kaum jemals gehört, hatte ich keinen Gedanken gewidmet, außer vielleicht den irrigen, daß Du noch zu jung seiest, um Deinen Verlust zu empfinden. Wie wenig ahnte ich, welche Tiefe des Gefühls, welch entschlossener Wille sich in den Stößen und dem Geschrei des kleinen Mädchens äußerten, das sich nicht fortschicken lassen wollte.

Du bist berechtigt, Clara, Alles zu wissen, was ich zur Entdeckung des Mörders Deines Vaters gethan habe, und was ich Dir mittheilen kann, um Deine eigene Nachforschung zu unterstützen. Die in Deiner Mutter Hand gefundenen Haare waren unzweifelhaft von Lepardo's Haupt. Die auf Deines Vaters Brust gelegte Locke gehörte natürlich meiner Lily. Sie sollte das Zeichen bilden, daß ihre vermeintliche Verführung gesühnt sei. Eines nur überraschte mich. Der Mörder hat keine Spur, keinen Beweis seiner Identität zurückgelassen. Bei einem Vendetta-Mord hätte dies nicht unterbleiben dürfen, denn es soll zugleich als Zeichen des Triumphes und als eine Herausforderung gegenüber der Familie des Opfers dienen. Deßhalb glaubte ich, daß Signor Dezio von seinem Neffen nicht um der Vendetta, sondern um des Gewinnes willen getödtet worden. Wie Lepardo in das Haus gelangt, war mir unerklärlich bis jetzt, wo Du mir von dem geheimen Eingang erzähltest, den Mrs. Daldy benutzt hat. So lange glaubte ich, er sei, wie am Veduta-Thurm hinaufgeklettert. Wenn aber kein Verräther unter dem Hauspersonal war, so muß er öfter als einmal im Hause gewesen sein; sonst hätte er Deines Vaters Schlafzimmer nicht so gut finden können.

Mich an die Grafschafts-Polizei zu wenden wäre Zeitverlust gewesen. Jenes Corps von ehemaligen Straßenarbeitern würde Lepardo schon überlistet haben, als er fünf Jahre zählte. Ebensowenig bekümmerte ich mich um den Leichenbeschauer und seine Geschworenen, sondern überließ sie ihrer angeborenen Schlauheit. Diese äußerte sich in vielen konfusen Kreuzfragen, weisen Blicken, Kopfnicken und Winken strengster Zurückhaltung. Auch hier, wie es oft geschieht, jagte ein Bullenbeißer einen Hasen. Lepardo hätte sicher mitten unter sie treten, um einen Stuhl bitten und ihnen seine Hülfe als » Amicus curiae« antragen können.

Mit der Londoner Polizei war es etwas anders. Sie zeigten ein wenig Schlauheit, aber ihr Grundfehler ist der: sie rühmen sich ihrer Klugheit. Kein Mensch von wirklichem Scharfsinn thut dies. Er weiß, was er auch immer sein mag, daß eine halbe Million Menschen außer ihm dasselbe sind.

Die auf ihre Klugheit stolzen Londoner Polizisten erklärten, daß sie den Verbrecher unzweifelhaft fangen würden. Sie lachten über meinen Glauben, daß er mitten unter ihnen gehen könne, während sie an den Hut greifend ihn bitten würden, nach seinem Taschentuch zu sehen. Einmal waren sie ihm, wie ich glaube, wirklich auf der Spur, und ich ging nach London, wo ich eine Zeit lang blieb und mein Möglichstes that, um ihnen behülflich zu sein. Sie waren aber zu spät gekommen. Lepardo, wenn er es wirklich war, hatte sich in der Woche vorher nach Paris begeben. Ich folgte ihm nach Paris, fand aber dort keine Spur von ihm. Darauf reiste ich nach Corsika, weil ich es für wahrscheinlich hielt, daß er zu seinem alten Seeräuberleben zurückgekehrt sei. Außerdem wünschte ich, mich nach dem Besitzthum meiner Kinder umzusehen und St. Katharine zu besuchen.

Dort war Alles still und friedlich. Lily's Grab bildete mit dem ihres Vaters eine reiche Blätterdecke. Dort lag die Blume meines Lebens und mir erging es wie der gelben Bergrose, deren sämmtliche Blüthen fallen, wenn eine einzige abgepflückt wird.

Der Graf Gaffori empfing mich sehr freundlich. Seine Tochter war verheirathet und ihre beiden Kinder spielten da, wo von Rechtswegen Lily's Knabe und Mädchen hätten spielen sollen. Ich konnte es nicht ertragen und reiste wieder fort, da ich dort Nichts mehr besaß, was mir von Werth war. Wohin ich immer ging, mir erschien die Welt überall gleich; und zu meinen übrigen Schicksalen war noch der blutige Tod meines Bruders gekommen. Die »Lilie« fand ich unter der Leitung des würdigen Petro in gutem Stande; ich kehrte auf dem Schiff nach England zurück. Es ist noch jetzt in meinem Besitz. Petro wollte nicht mitkommen; er war ein zu guter Corse, um seine geliebte Insel noch mit ergrautem Haupte zu verlassen. Er blieb in Calvi, wo ich ihm ein eigenes Fahrzeug kaufte. Hin und wieder bekomme ich einen Brief von der guten Marcantonia. Beide haben mir versprochen, ein wachsames Auge auf das Wiedererscheinen meines furchtbaren Feindes zu haben, und Petro hat geschworen, ihn zu erschießen, wenn ihm jemals Gelegenheit dazu wird.

Als ich nach England zurückkehrte, ging ich mit aller Energie ans Werk, um dieses Besitzthum zu verbessern. Hierin, wenn auch in nichts Anderem, habe ich Erfolg gehabt. Ich bin auf viel Widerstand gestoßen, denn die Pächter betrachteten mich als einen Eindringling und ihre Herzen waren Dir und Deiner Mutter zugewendet. Wenn ich sie morgen, wie ich beabsichtige, zusammenberufe, auf alle meine Rechte und Besitztitel verzichte und Dich zu ihrer Signora ernenne, so glaube ich bestimmt, daß sie es kaum der Mühe werth halten werden, mich zu verfluchen, ehe sie Dir huldigen. Konnte ich doch in der Zeit, als Du nach Devonshire gegangen warst (wie Du weißt, ganz gegen meinen Willen), nicht ausreiten, ohne insultirt zu werden, und selbst die Knaben nannten mich »Jonathan Wild. Jonathan Wild (1683-1725) gilt als einer der berüchtigtsten Kriminellen Englands. Seine Taten wurden durch Romane, Dramen und politische Satiren in ganz Großbritannien bekannt. Der Charakter des Peachum in John Gays › The Beggar's Opera‹ und später in Bertolt Brechts ›Dreigroschenoper‹ ist nach ihm geformt. Sowohl Daniel Defoe als auch Henry Fielding schrieben Biografien über sein Leben.« Hieran war der Abstand zwischen Deines Vaters natürlichem Frohsinn und seiner Herzlichkeit gegen alle Leute und meiner mürrischen, satirischen Zurückhaltung wohl größtentheils schuld. Auch verfehlten weder Deine Jugend und Dein Geschlecht, noch Deine Hülflosigkeit ihren Eindruck auf jenes ritterliche Geschöpf (wenn es sich nur seiner Ritterlichkeit bewußt wäre), den derben englischen Landmann.

Warum hatte ich Dich fortgelassen? Es mag wohl einer der vielen Irrthümer meines Lebens gewesen sein. Ich hatte jedoch mehrere Gründe, obwohl persönliche Abneigung gegen Dich nicht wie Du glaubtest, darunter war. Nein, mein Kind, ich haßte Dich nie, selbst nicht in jener Nacht, als Du, mit dem Dolch in der Hand, anklagend vor mir erschienst. Ich hätte in der That schlimmer sein müssen, als ich es bin, um böswillige Gefühle gegen ein Kind zu hegen, das ich zur Waise gemacht. In meinem Innern fühlte ich mich sofort der That schuldig, obgleich ich nicht der Thäter war. Ich würde Dich geliebt haben, wenn Du es mir gestattet hättest; mein Herz sehnte sich so nach Kindern. Abgesehen von Deinem festen Entschuß hatte ich hauptsächlich den folgenden Grund, Dich nicht zurück zu halten: Seit Jahren hegte ich in meinem innersten Herzen den sehnsüchtigen Wunsch, Deiner Mutter Alles zu erzählen und ihre gütige Verzeihung zu gewinnen. Aber jede Anspielung auf ihren Verlust, war dieselbe noch so sehr verschleiert und maskirt, rief, wie Du weißt, einen eigenthümlichen Zustand bei ihr hervor, der alle ihre Geistes- und Körperkräfte vollständig zu lähmen schien. Die gewöhnliche Rauhheit, mit der Männer das zarte Geschlecht zu beurtheilen pflegen, verleitete mich zu dem festen Glauben, daß totale Veränderung der Lebensweise, Luft und Umgebung jenen seltsamen Bann lösen, mir ihre Verzeihung sichern und ihre Gesundheit wieder herstellen würde. Der Schreck, den mir ihr Tod verursachte, war fast so furchtbar, als der über den Tod meines Bruders. Als ich neben Dir an ihrem Grabe stand, hatte ich die feste Absicht, Dir meine ganze Geschichte zu erzählen und Dich zu bitten, mit mir unter Deines Vaters Dach zurückzukehren. Dein Benehmen gegen mich war aber so kalt und verächtlich, daß ich meine zermalmende Schuld gegen Dich vergaß, und mir die Demüthigung in dem Augenblick unmöglich wurde. Dennoch beabsichtigte ich noch am Abend, ehe Du das Dorf verlassen haben würdest, an Dich zu schreiben; aber, wie Du jetzt weißt, wurde ich noch an demselben Abend hülflos darniedergestreckt. Nachdem ich nach monatelanger Krankheit wieder einigermaßen hergestellt war, erfuhr ich zu meinem tiefen Kummer, daß Du Deine braven Freunde in Devonshire verlassen habest, ohne daß meine Kundschafter mir Deinen Aufenthalt nennen konnten. So blieb ich denn über denselben im Dunkeln bis zur Zeit meiner letzten Krankheit, als ich Erkundigungen einzog, welche Deine Feindin ausbeutete. Im Uebrigen weißt Du, daß ich Dir Deine Erbschaft niemals rauben wollte, obgleich alberne Formeln mir die Macht dazu gegeben. Morgen, will's Gott, werde ich mir diese Macht selber entziehen. Die Motive der Mrs. Daldy hast Du schon lange durchschaut. In Ermangelung meiner Kinder, die verloren sind, und des als Verbrecher von der Erbschaft ausgeschlossenen Lepardo, ist ihr Sohn der Erbe aller Güter der Familie Della Croce. Sie übte durch ihre Kenntniß eines Theils meiner Geschichte große Gewalt über mich aus. Henry's Taufzeugniß und das meiner Trauung befanden sich in dem von ihr gestohlenen Packet.

Noch ein Wort, mein Herz – und von einem alten Manne, der viel erlebt und gelitten hat, wirst Du es nicht für eine Zudringlichkeit halten. Ueberlasse Gott Deine Rache. Durch Seine Wege, die wir wunderbar nennen, weil wir Seine Schritte nicht sehen, wird Er die Rache nach Seiner Gerechtigkeit üben. Jede Einmischung von uns ist eine hohle Larve im Sande unter Seinem Fuß. Obgleich ich gelähmt und meinem Ende nahe bin, wird Er mir, wenn es Ihm gefällt, meine Kinder noch zuführen, ehe ich sterbe, auf daß ich Ihn preisen und meiner Lily die Kunde bringen kann.«

 

Ich fiel dem alten Manne um den Hals denn alt war er, wenn auch nicht an Jahren – und weinend küßte ich ihn. Wie hatte ich ihm nur so Unrecht thun können, und konnte ich anders, als ihn lieben, der so lange unglücklich gewesen? Wenn Kummer die Sünde tilgen kann, so war sein Fehler gesühnt.



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