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Drittes Kapitel.

Eine Geistergeschichte.

 

Annie Franks war ganz so, wie Isola sie beschrieben hatte, ein nettes Mädchen. Gutherzig wie ihr Vater, wahrheitsliebend, wohlerzogen und empfindsam, dabei zurückhaltend und bescheiden, besaß sie im tiefsten Grunde ihres Herzens einen Born stummer Romantik, von der sie aber um Alles in der Welt nicht das Geringste offenbart hätte. Die einzige Freiheit, welche sie diesem dehnbaren Element gestattete, bestand im Romanlesen und einer kleinen gemäßigten Schwärmerei. Ihre größte Glückseligkeit bestand darin, auf einer einsamen Anhöhe sitzend eine von gezückten Schwertern blitzende Ritterromanze zu lesen, in der viele hochedle Damen und sehr viele überschwängliche Liebesgeschichten vorkamen. Erlitt die Weltgeschichte auch manchen Stoß darin, und mochte die Zeitrechnung wie eine nicht aufgezogene Uhr auch nur zwei Mal in 24 Stunden richtig sein, so trübte das Annie's Lächeln nicht, vorausgesetzt, daß die sommerlichen Sonnenstrahlen nur, wie es sich gehörte, auf Schildern, Rüstungen, Helmschmuck und Fahnen glänzten, und sie bunte Cavalkaden durch schattige Waldpfade dahinziehen sah. An dem sozialen Roman unseres Zeitalters fand ihre Seele keine Freude. Auch nicht einen Schilling erpreßte sie ihrer kleinen perlverzierten Börse für Dickens Quecksilber und das getriebene Gold Im englischen Original findet sich hierzu die mit »C. V. 1864« gezeichnete Fußnote:
»Von eiskaltem Stahl« hatte ich geschrieben. Aber ach! der große Schriftsteller ist seither von uns gegangen, und man sagt, dass dieses freundliche Herz sich über nichts so sehr gegrämt hat wie über den Vorwurf des Zynismus. Wenn er ein Zyniker wäre, würden wir alle Hunde werden!
– »Κυνὸς ὄμματ’ ἔχων, κραδίην δ’ ἐλάψοιο.«
[Homer, Ilias, Buch I, Vers 255: »… mit dem hündischen Blick, und dem Mute des Hirsches«, – Anspielung auf die Herkunft des Begriffs Zyniker von ›kynos‹, Hund.
Thackerays. Dennoch war sie keineswegs, was emancipirte junge Damen »schmachtend« nennen. Sie besaß einen gesunden, auf das praktische tägliche Leben gerichteten Sinn, viel allgemeine Bildung, und es fehlte ihr durchaus nicht an weiblichem Selbstgefühl.

Jetzt führte der Weg durch eine Berglandschaft, wo sie Tag für Tag ihren dämmerhaften Träumereien nachhängen konnte, von Niemand gestört als den unschuldigen Rehen. Als wir in der Dämmerung des Maiabends durch die lauschigen Alleen und gebüschreichen Thäler fuhren, in denen Fliederwedel gleich Ritterhelmbüschen nickten und der Hagedorn schleppenden Gewändern glich, da hörten die sanften grauen Augen Annie's auf, mich zu beobachten, und ihre Gedanken waren bei Chevy-Chase » The Ballad of Chevy Chase«, englische Ballade, deren Ursprünge bis ins 15. Jh. zurückreichen, behandelt eine verhängnisvolle Jagd in den Cheviot Hills in Northumberland. und Crecy Die Schlacht bei Crécy am 26. August 1346 stellt den Beginn des Hundertjährigen Krieges auf dem europäischen Festland dar..

In Folge der am vorhergehenden Tage gesandten Depesche wurde ich von Niemand im Hause erwartet. Wir schlichen uns leise hinein, damit mein Onkel nicht beunruhigt werde, und ich gab Gregory, dem Nachfolger des Trunkenboldes Bob, den Auftrag, die Wärterin Jane in mein eigenes kleines Zimmer zu senden. Als ich es Annie dort behaglich gemacht und ihr zu ihrem Entzücken erlaubt hatte, sich nach Herzenslust an » Marry, Sir knight« und » Now, by my halidame« zu ergötzen, ging ich zu meinem armen, lieben Onkel, der um diese Zeit schon auf meinen Besuch vorbereitet war. Er erschien mir sehr schwach und nervös, aber erfreuter über meine Rückkehr, als ich erwartet hatte. Mir war es in dem bitteren Gefühl gekränkten Stolzes ein herzerwärmender Trost, mit Jemand von meiner eigenen Verwandtschaft zusammen zu sein, den Niemand herabwürdigen konnte. Die hohe Abstammung sprach sich in seinem Wesen aus, und er besaß eine vornehme Würde, die mein theurer, lieber Vater in seiner natürlichen Liebenswürdigkeit nie zur Schau getragen hatte. Bald merkte ich meinem Onkel an, daß während meiner Abwesenheit Etwas geschehen war, das sein Unbehagen gesteigert hatte. Er sprach sich aber nicht darüber aus, und ich mochte ihn nicht befragen. Dahingegen bemerkte er die finstere Muthlosigkeit, welche ich trotz meiner Bemühungen nicht fortwährend verhehlen konnte. Wenn ich zum Nachdenken kam, so unterstützten Stolz und Entrüstung meine Kraft, immer konnte ich indessen nicht nachdenken, wohl aber immer fühlen. Ueberdies sind Stolz und Entrüstung fast in allen Fällen Stützen, die mit Widerhaken versehen sind. In einem Wort, wenn ich es auch verschmähte, die Rolle eines liebekranken Mädchens zu spielen, so hatte ich doch das traurige Gefühl, nie wieder lieben zu können.

Mit der Zärtlichkeit eines Vaters zog mein Onkel mich schwach an seine zitternde Brust, und thränenden Auges fragte er mich flüsternd, was mir zugestoßen sei. Ich aber war zu stolz, es ihm zu sagen. Oh, wäre ich es doch nicht gewesen! Welches Elend wäre Manchem erspart geblieben! Aber während der ganzen Zeit, daß mein Kopf an seiner Brust ruhte, war ich von brennender Scham gefoltert, weil ich daran dachte, auf wessen Brust meine Locken zuletzt gelegen.

»Nun, meine getreue Wärterin,« sagte er endlich mit einem schwachen Versuch zu scherzen, »ich werde gar kein Vertrauen mehr zu Deiner Tüchtigkeit haben, wenn Du mich morgen nicht mit einem vergnügten Gesicht hinausfährst. Du bist heute Abend ermüdet, und auch ich würde es sein, wenn Du nicht nach Hause gekommen wärst. Morgen sollst Du mir erzählen, warum Du so plötzlich zurückgekehrt bist und mir einen Tag der Sehnsucht erspart hast, und ich will Dir dann eine kleine Geschichte erzählen, welche wie so manche große verloren gehen möchte, wenn sie nicht schnell erzählt wird. Halt – nimm noch eine Tasse Thee, Liebste; wie stolz bin ich, sie für Dich einschenken zu können – und dann will ich Dich nicht länger von Deiner fröhlicheren Gesellschaft zurückhalten. Morgen mußt Du mich vorstellen. Ich habe junge Mädchen noch immer gern, und Du hättest auch jene liebliche Isola mitbringen sollen. Ich begreife nicht, warum Du es nicht gethan hast. Ich hätte sie herzlich willkommen geheißen.«

»Nun, Onkel, werde ich aber eifersüchtig. Die junge Dame, welche ich mitgebracht habe, ist vollkommen hübsch genug für Dich.«

Er seufzte, als käme ihm eine trübe Erinnerung, dann ging er plötzlich zu der Frage über:

»Beabsichtigst Du, diese Nacht in der kleinen Stube zu schlafen, mein Herz?«

Seine Stimme zitterte so bei dieser Frage, daß ich sah, es müsse ihn Etwas beunruhigen. Das kleine Zimmer, welches ich inne gehabt, lag zwischen seiner jetzigen Schlafstube und dem Hauptkorridor. Es sollte ursprünglich als Vorzimmer und nicht zum Schlafen dienen. Ich hatte aber meine kleine eiserne Bettstelle dort aufgestellt.

»Gewiß will ich das, Onkel; glaubst Du, daß ich, weil ich Urlaub genommen, den Dienst quittiren will? Nur Eines möchte ich Dich fragen; ich habe einen meiner besten Freunde mitgebracht. Du hast mich schon von Guidice sprechen hören. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihn für die Nacht im Stalle unterzubringen. Er würde zu jämmerlich heulen. In London hat er stets auf einer Matte vor meiner Thür geschlafen. Darf ich ihn in den Corridor bringen, Onkel? Du wirst keine Bewegung von ihm hören, und er schnarcht nur ein wenig nach dem Mittagessen.«

»Jawohl, mein Herz; ich möchte Dich um Alles nicht von Deinem Freunde trennen. Gott segne Dich, mein liebes Kind, und erleichtere Dir Dein treues Herz.«

Wenn ich in Wahrheit sein Kind gewesen wäre, so hätte er nicht liebevoller gegen mich sein können, als er es jetzt war.

Als ich Annie ihren Thee eingeschenkt hatte, den sie indessen nicht trank, weil sie viel zu sehr in ihr Tournier vertieft war, stattete ich Mrs. Fletcher einen Besuch auf ihrem Zimmer ab. Von ihr erfuhr ich jedoch Nichts, was meinen Onkel beunruhigt haben konnte. Mrs. Daldy war nicht in die Nähe des Hauses gekommen, und es war ein Gerücht im Umlauf, daß sie einen Ruf zu einer bei Swansea stattfindenden religiösen Versammlung erhalten habe. So kehrte ich denn, nachdem ich Guidice vorgestellt, der ein leidenschaftlicher Verehrer von eingezuckerten Früchten war, und er fast so sehr bewundert worden, wie er es verdiente, zu Annie zurück, und ich fand sie entzückt von Allem und Jedem, besonders aber von ihrem Romanzendichter.

Als ich mich später, nachdem ich sie in Tilly's Obhut gelassen hatte, mit Guidice nach meinem Nachtquartier begab, folgte mir die saumselige Matilda eiligst den Gang hinab.

»Oh, Miß, mit Verlaub, Miß, ich muß Ihnen Etwas erzählen, aber ich mochte es nicht vor der netten jungen Dame erwähnen, weil ich sie für ein bischen furchtsam halte.«

Matilda sah nicht furchtsam, sondern geradezu entsetzt aus, wie sie sich scheu nach allen Seiten umblickte, und ihre Hand zitterte so, daß das Licht tropfte.

»Halte Dein Licht gerade, Matilda, und sage mir, was es ist.«

Um diese Zeit befanden wir uns in dem Hauptgange oder Korridor, wie er genannt wurde, und wir konnten ihn beim trüben Licht einiger Oellampen ganz übersehen bis zu dem Erkerfenster am äußersten Ende, durch das der helle Vollmond hereinschien.

»Nun, Miß, der Geist ist in der letzten und in der vorletzten Nacht umgegangen.«

»Unsinn, Matilda, sei nicht albern.«

»Es ist wahr, Miß, so wahr Sie da vor mir stehen. Das Gespenst ist diesmal ganz hellgrau und so groß, und das Gesicht ist so weiß wie Kalk.« Hier schauerte Tilly bei ihrer eigenen Schilderung zusammen. »Sie wissen, Miß, es ist gerade jetzt die Zeit, wo sie umgeht, und sie wandert immer drei Nächte hinter einander von dem großen östlichen Fenster bis hierher und wieder zurück. Also, bitte, verschließen Sie die Thür, Miß, und verriegeln Sie sie von innen.«

»Schön, Tilly! Beabsichtigt Jemand den Geist zu erwarten? Um welche Zeit erscheint er?«

»Um Ein Uhr, mit dem Glockenschlage, Miß. Aber können Sie wirklich glauben, daß irgend Jemand wagen würde, aufzubleiben und sie anzusehen?«

»Wie aber, im Namen aller Dummheit, wollt Ihr sie denn gesehen haben?«

»Ja, Miß, das will ich Ihnen erzählen. Eins von den Kutschpferden bekam eine Augenentzündung, und da hat der Thierarzt verordnet, daß das Auge alle Stunden gewaschen werden soll. Nun hat William Edwards, der erste Stallknecht, Miß,« (hier machte Tilly einen Knix, weil derselbe ihr erklärter Liebhaber war) »den Befehl erhalten, bis Ein Uhr danach zu sehen, und dann löst Job Leyson ihn ab. So kam William also in der Nacht vom Montag herein, um zu Bett zu gehen, und, Nichts für ungut, Miß, er schlug den kürzeren Weg ein, der ihm eigentlich nicht erlaubt ist. Er denkt sonst nie daran, sich solche Freiheiten zu nehmen, aber er war so schläfrig, daß er den Weg nicht fand und den Richtweg von der Küchengallerie nach den Domestikenstuben über den Korridor nahm. Da sah er – er hatte kein Licht, Miß, und die Lampen waren schon ausgelöscht – gütiger Himmel, was war das? Haben Sie es nicht gehört, Miß?«

»Ja, und sehen kannst Du es auch; eine Mücke ist in Dein Licht geflogen. Willst Du aber nicht fortfahren, Tilly? Oder soll ich hier die ganze Nacht bleiben und von Deiner Thorheit angesteckt werden?«

»Da sah William Edwards, ein Mann, der nie flucht oder trinkt, wie Etwas langsam und feierlich den dunkeln Korridor heruntergeschritten kam, und es war ein blasser, grausiger Geist, der einen Arm wie drohend in die Höhe streckte. Da wußte er, Miß, daß es die Dame war, welche vor zweihundert Jahren zur Zeit des großen Krieges gemordet wurde.«

»Nun, Tilly, redete er sie an?«

»Ihm graute so fürchterlich, Miß, daß er weder sprechen, noch von der Stelle gehen konnte. Er fiel gegen die Wand in den Seitengang hinein, und die Augen sind ihm fast aus dem Kopfe herausgetreten, und sein Haar sträubte sich wie mein Besen. Darauf verschwand sie, und er ging zu Bette, aber er hat so geschwitzt, daß seine Decke zum Ausringen war.«

»Famos, Tilly! Und wer sah sie in der nächsten Nacht?«

»Nun, der Einfaltspinsel Job Leyson, Miß. Unser William war viel zu gescheidt, um wieder denselben Weg zu gehen, aber er erzählte es Job Leyson, und der, ein alberner, dummer Mensch, wie Sie vielleicht wissen, Miß, sagte: ›Ho, ho, ich habe schon so oft von ihr gehört, heute Nacht will ich sie mir doch 'mal ansehen.‹ Als William also durch den Domestikeneingang zu Bette ging, kam Job herunter und benutzte den Weg an der Frontseite, was ich als eine große Unverschämtheit ansehe. Aber, Miß, was er gesehen hat, das weiß ich nicht, denn er hat nicht viel zu William darüber gesagt. Sie haben ihn in der Sattelkammer um fünf Uhr Morgens gefunden, wie er mit den Füßen auf einem Reck und mit dem Kopf im Eimer lag, aber kein Schwamm ist der armen Mähre an das Auge gekommen.«

»Jetzt ist es genug, Tilly. Willst Du nicht Dein Licht lieber putzen. Wo mein Guidice ist, da kann kein Geist Etwas ausrichten.«

Hiermit ging ich, ermüdet von dem unsinnigen Geschwätz, zur Ruhe.

Nach einer Stunde tiefen Schlafes, in den ich vor völliger Erschöpfung des Körpers und des Geistes gesunken war, erwachte ich mit erhöhter Lebendigkeit in jedem Nerv. Der Mond stand hoch im Südost, und drei schmale, in Rauten getheilte Lichtstreifen fielen auf den eichenen Fußboden. Obgleich mein Onkel den Giebel verlassen hatte, dessen Fenster der untergehenden Sonne gegenüber lagen, war er doch im westlichen Flügel geblieben. Das Haus, welches in der Zeit Heinrich des Achten erbaut war, stand auf dem Platze, wo sich früher ein viel älterer Bau befunden, von dem das jetzige Gebäude noch einzelne Ueberreste barg. Der Bauplan war sehr einfach, wenigstens was die oberen Räume betraf. Von Osten nach Westen lief ein langer Korridor, den in der Mitte und nicht weit von beiden Enden Quergänge durchschnitten. Trotz der zahlreichen Dienerschaft war nur die Hälfte der Zimmer bewohnt. Die Gastzimmer standen schon jahrelang leer. Keine Festlichkeit hatte seit meines Vaters Tod das Haus belebt. Düstere und schreckliche Vorstellungen umschwebten noch den östlichen Theil, wo er so feige ermordet worden. An der Front im unteren Stock waren die alten, von schadhafter Bleifassung umrahmten kleinen Fensterscheiben durch klares Spiegelglas ersetzt worden, aber die alte Halle, der Korridor und auch auf einigen Stellen die Giebel, besaßen noch Fenster mit strahlenden Farben und heraldischen Emblemen.

Als die Fensterkreuze ihre Schatten auf meine Bettdecke warfen, begann der Geist ganz leise in meinem Gehirn zu spuken. Einen weniger phantastischen Mann als William Edwards, der mir als mein Begleiter auf Spazierritten sehr gut bekannt war, konnte es nicht leicht geben. Welchen Grad von Einbildungskraft Job Leyson besaß, wußte ich freilich nicht, aber vom physiognomischen Standpunkte geurtheilt, schien mir nur ein ganz leichter Zaum nöthig zu sein, um sie in den Schranken zu halten.

Als ich so mit allmählich schwindender Ruhe an diese Geistergeschichte und die blutige Sage dachte, welche ihr zu Grunde lag (die gespenstische Dame sollte eine gewisse Beatrixe Vaughan, die Tochter des Kavaliers, welcher die leuchtende Flechte bemerkt hatte, und die Erbin des Hauses vor zweihundert Jahren gewesen sein), da setzte ich mich im Bette auf und lauschte. Die schweren, unregelmäßigen Athemzüge meines Onkels, das Spiel eines Epheublattes, das leise gegen das Fenster schlug, der Ton der Thurmuhr, welche jede halbe Stunde verkündete, dies waren die einzigen Geräusche, die ich vernahm, außer dem Pochen, mit dem mein gleichgültiges verzagtes Herz sein Recht wieder geltend machte, für seine eigene Sicherheit zu klopfen. Die Hand auf dasselbe gepreßt, horchte ich noch eine Minute lang und beschloß, wenn ich dann Nichts hörte, meinen Kopf tief in die Kissen zu vergraben und beide Ohren gegen das Verhängniß zu schließen. Ehe die Minute indessen verstrichen war, hörte ich einen langgezogenen, hohlklingenden Laut wie eine Antwort auf meine zitternde Erwartung. Im Augenblick sprang ich aus dem Bette; obgleich ich den Ton noch nie gehört, wußte ich, daß es nur des Bluthundes vorsichtige Warnung sein konnte.

Ich hüllte mich in einen Mantel, faßte mein Haar zusammen, fuhr eilig in meine Sammetpantoffeln, verschloß des Onkels Zimmer und öffnete leise die äußere Thür. Da stand Guidice im Mondlicht, den Kopf gegen das entfernte östliche Fenster gerichtet, die Ohren zurückgelegt, in kampfbereiter Stellung. Ein gurgelnder Ton, wie ein von Staunen unterdrücktes Knurren, kam aus der Tiefe seiner Brust. Er wendete sich weder nach mir um, noch wedelte er mit dem Schweife, er wartete nur mit grimmiger Aufmerksamkeit. Ich legte ihm die Hand auf den Rücken und glitt dann, die vom Monde beleuchteten Stellen vermeidend, den Korridor entlang. Guidice folgte mir wie mein Schatten, keinen Fußbreit zurückbleibend und so leise wie eine Katze. Ehe ich das Erkerfenster erreicht hatte, warnte mich eine innere Stimme, weiterzugehen. Ich zog mich mit Guidice in den dunklen Eingang zu meines Vaters Zimmer zurück, um das Weitere zu erwarten. Kaum hatte ich hier zehn Schläge meines Herzens gezählt, als zwischen mir und dem hellen, schräg durch die Mittelscheibe fallenden Mondlicht eine große, graue Gestalt auftauchte. Ich bin für ein Weib durchaus nicht feige zu nennen, aber dennoch stockte mir bei diesem Anblick jeder Blutstropfen in den Adern. Selbst Guidice zitterte, sein Knurren erstarb, und sein Haar sträubte sich, während er in die Falten meines Mantels kroch. Langsam hob sich die Gestalt, als würde sie an den Zipfeln des Leichentuches aus einem Sarge emporgezogen. Ich konnte weder sprechen, noch mich bewegen und noch viel weniger denken. Langsam und feierlichen Schrittes kam die Gestalt auf die Nische, die uns barg, zugeschritten oder vielmehr geschwebt, denn ich konnte keine Füße sehen. Ihr Antlitz war kreideweiß, die Augen waren groß und hohl, das Haar floß über ihre Schultern herab, ihre Haltung war stattlich; einen Arm, von dem das Leichentuch zurückfiel, hatte sie wie flehend zum Himmel erhoben, der andere lag über der Brust. Die Farbe des Leichentuches war aschgrau, gespenstisch grau. Als die Erscheinung an mir vorüberglitt, konnte ich kaum das Klappern meiner Zähne für einen Augenblick unterdrücken. Guidice kroch einen Schritt hinter mir hervor und schien auf den Tod gefaßt. Mir schoß das Blut zum Herzen zurück, als die Erscheinung langsam und lautlos den Korridor entlang glitt.

Was sollte ich jetzt thun, wo meine Füße nicht mehr am Boden wurzelten? Sollte ich in das Sterbezimmer meines Vaters flüchten? Nein, dazu fürchtete ich mich zu sehr. Zu bleiben, wo ich war, schien mir das Beste, aber mußte ich die Gestalt dann nicht zurückkommen sehen? Noch eine solche Spannung meiner Lebensgeister, und ich fürchtete, daß Alles vorbei sein würde.

Plötzlich bemerkte ich, während die Gestalt langsam immer weiter fortglitt, eine große Veränderung in dem Bluthund. Er schritt in den Korridor hinein und begann ihr zu folgen. Zugleich war das tiefe Grollen wieder in seiner Kehle hörbar. In demselben Augenblick durchblitzte mich der Gedanke, daß sein Spürsinn in dem Gespenst ein Wesen von Fleisch und Blut entdeckt haben müsse. Es konnte der Mörder meines Vaters sein; jedenfalls war er auf dieselbe Art eingedrungen. Dicht hinter dem Hunde folgte ich der gespenstischen Gestalt. Das Grauen vor dem Ueberirdischen entschwand, das volle Leben pulsirte wieder in meinen Adern. Was aus mir würde, galt mir gleich, so unglücklich, wie ich war. Fast bis an das Ende des Ganges glitt die Gestalt vor uns her, dann wendete sie sich seitwärts und stieg eine Treppe hinab, die in das Erdgeschoß führte. Dreifache Entschlossenheit ergriff mich, denn dies war die Stelle, wo der Geist umzukehren und wieder über den Korridor zurückzugehen pflegte. Als die Gestalt die halbe Treppe hinunter und bis an die Windung gelangt war, wo die Stufen schmaler wurden, hörte ich oben ganz deutlich einen schwachen Schall, als wenn Jemand einen Pantoffel verloren und wieder aufgefangen hatte. Brauchte ein Geist wohl Pantoffeln zu tragen? Welches sterbliche Wesen hatte ich aber zu fürchten, wenn Guidice mir zur Seite stand? Ich bedeutete ihm durch eine leise Bewegung, hinter mir zu bleiben und eilte die Stufen hinab. Glücklicherweise blieb ich unten einen Moment stehen, denn ein Lichtschein erhellte den Gang. Der Geist hatte ein Streichholz angezündet.

Es war ein dunkler schmaler Gang, in den kein Mondlicht dringen konnte. Das Gespenst beeilte sich, eine kleine Lampe anzuzünden, um mit Hülfe derselben die Thür zum Arbeitszimmer meines Onkels zu finden; es war das Privatzimmer, in dem er seine Papiere aufbewahrte. Die äußerst kleine Lampe war von eigenthümlicher Form und hatte drei Reverberen, deren Strahlen auf einen Punkt zusammenfielen. Ich hielt mich noch in tiefem Schatten und beobachtete, wie die Person (für einen Geist hielt ich sie nicht länger) einen Schlüssel hervorzog, die Thür öffnete und das Zimmer betrat. Darauf erfolgte ein Versuch, die Thür von innen zu verschließen; aber ich hörte an dem Ton, daß der falsche Schlüssel von dieser Seite den Dienst versagte und so blieb die Thür nur eingeklinkt. Nachdem ich Guidice, dessen ehrliche Entrüstung über dieses einbrecherische Treiben kaum noch zu beherrschen war, zugeflüstert, daß er sich nicht von der Stelle rühren solle, verließ ich ihn und ging dem Eindringling leise nach. Erst sah ich durch das Schlüsselloch. Das Zimmer war sehr dunkel und mit vielen schweren Möbeln angefüllt. Ich konnte Nichts sehen, mußte also auf das Gerathewohl hineingehen. So ging ich denn leise hinein und zog die Thür hinter mir in's Schloß. Eifrig an dem großen Bureau beschäftigt, das ich einst so gern durchsucht hätte, stand meine Erzfeindin – Mrs. Daldy. Die Geisterhülle hatte sie zur Seite geworfen und ihre Larve auf ein Ebenholzpult gelegt. Ich war nicht im Geringsten überrascht, denn es war mir längst klar geworden, daß es Niemand anders sein konnte. Ich saß auf einem hochlehnigen Sammetsessel im Schatten eines eichenen Bücherschrankes, denn verkriechen wollte ich mich nicht vor ihr, und harrte dessen, was sie beginnen würde. Schon waren die beiden Bureauthüren geöffnet. Das Krachen der schweren Flügel hatte meinen Eintritt übertönt. Den zahlreichen sichtbaren Schubfächern schenkte Mrs. Daldy wenig Aufmerksamkeit, da sie dieselben nebst allen übrigen in dem Zimmer vorhandenen Behältnissen wahrscheinlich schon während der vorhergehenden Nächte durchforscht hatte. Ihr Suchen beschränkte sich auf einen bestimmten Theil des Bureaus.

Die großen Thüren waren reich mit Arabesken und Schnörkeln von Atlas- und Ebenholz eingelegt und das ganze Innere war durch Elfenbeinsäulen abgetheilt, zwischen denen sich kleine mit Puppenspiegeln geschmückte Alkoven, Treppen mit karrirten, eingelegten Stufen und andere sonderbare Einrichtungen neben den geschäftsmäßigeren und nützlicheren Auszügen befanden. Wie das Licht der Lampe darauf fiel, glich es einem Puppenpalast, einem für ceremonielle Marionettenfeste eingerichteten Prachtbau. Jeder Auszug hatte eine eingelegte Front, jedes Thürchen hatte Felder von Chagrin. Kurz, das ganze Möbel würde der Stolz eines jeden Ladens in der Wardour-Straße Die Wardour Street war seinerzeit bekannt für (manchmal etwas schäbige) Möbelgeschäfte, Antiquitätenläden und Händler für Künstlerbedarf. gewesen sein. Ich war ganz überrascht, denn ich hatte dieses Möbel früher nie geöffnet gesehen, obgleich mein Vater mir, ich weiß nicht wie oft, versprochen hatte, es mir an meinem nächsten Geburtstag zu zeigen, wenn ich artig wäre; aber wahrscheinlich war ich nie artig genug gewesen.

Ohne irgendwie zu zögern, drückte Mrs. Daldy an eine Wandung in der rechten Ecke des Cabinets. Dieselbe sank in eine darunter befindliche Vertiefung hinab, und es zeigten sich zwei schmale Schubfächer. Diese zog sie aus dem Kasten heraus und stellte sie bei Seite. Sie waren mit Papieren angefüllt, die sie ohne Zweifel schon untersucht hatte. Dann stellte sie die winzige Lampe auf eine der Puppentreppen und holte drei oder vier kleine Instrumente aus der Tasche. Ehe sie diese benutzte, rüttelte und drückte sie an der Wand zwischen den beiden Schubfächern und versuchte auf jede mögliche Art, den verborgenen Mechanismus irgend eines geheimen Faches zu finden, der wohl schon in der vorhergehenden Nacht ihren Bemühungen widerstanden hatte.

Endlich ergriff sie mit einem leisen, ungeduldigen Schrei ein kleines, dünnes Stemmeisen und ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit; mit letzterer erweichte sie die verzierte Fournirung, welche die Front der Zwischenwand bedeckte und nahm dieselbe mit dem Stemmeisen ab. Dann löste sie die Schrauben der darunter befindlichen Cedernholzfüllung und hob auch diese sorgfältig heraus, während ich die Geschicklichkeit, mit der sie ihr Handwerk ausübte, und die anmuthige Bewegung der schönen Arme, auf die sie so stolz war, bewunderte. Ihre Schulter nahm mir zwar theilweise die Aussicht, aber ich konnte dennoch die schmale, senkrechte Oeffnung erblicken, wo sie die Holzfüllung entfernt hatte. Sie athmete freudig und stolz auf und zog dann aus dieser Oeffnung zwei dünne, festzusammengelegte Packete heraus, die sie mit gierigen Blicken betrachtete. Ohne Zweifel wußte sie, was sie enthielten, und sie bezweckte, sich in Besitz derselben zu setzen. Nachdem sie die Päckchen sorgsam auf ihrer Brust verborgen hatte, begann sie ihre Tischlerarbeit von Neuem, um den angerichteten Schaden wieder auszubessern. Ihre Gewandtheit gewährte einen so hübschen Anblick, daß ich sie noch ein Weilchen ungestört ließ. Bald hatte sie die Cedernholzfüllung wieder befestigt, indem sie dieselbe zuerst ganz kunstgerecht mit dem Schraubenzieher hineinklopfte und dann die Schrauben anzog. Darauf bestrich sie das Holz mit einem flüssigen Leim, um die Fournirung wieder festzukleben. Sie hatte den schmalen, bronceverzierten Schildpattstreifen verlegt und suchte auf den Treppchen danach – da rief ich ihr zu:

»Soll ich Ihnen sagen, Mrs. Daldy, wohin Sie es gelegt haben? Aber wo in aller Welt haben Sie Ihr Handwerk gelernt?«

Auf keinem menschlichen Antlitz hat sich wohl jemals die Bestürzung so stark ausgeprägt, wie jetzt auf dem ihren. Hatte der Geist mich erschreckt, so war ich jetzt vollkommen gerächt. Das Fläschchen entglitt ihrer Hand und fiel auf die zierlichen Stufen. Sie wendete sich um, und ihr Antlitz war so bleich wie die Maske, während ihre stieren Blicke im Zimmer herum irrten, denn ich war noch in meinem Schlupfwinkel verborgen. Ich glaubte, sie würde die Lampe auslöschen, aber sie hatte nicht Geistesgegenwart genug dazu. Dann würde es mir nicht leicht geworden sein, sie zwischen den vielen Möbeln zu ergreifen, und von meiner Schildwache vor der Thür wußte sie Nichts.

Nachdem ich mich mit Muße ein wenig an ihrem Schrecken geweidet hatte, trat ich vor und stellte mich ihr ehrlich gegenüber.

»Wie, Clara Vaughan! Ist es möglich? Ich glaubte Dich in London.«

»Ist es möglich, daß ich eine so eifrig um ihr Seelenheil besorgte, eine so tief über die Gottlosigkeit der Menschen seufzende Christin im Dunkel der Nacht bei einer räuberischen That ertappe? Nennen Sie dies rechtschaffen gegen die Sünde ankämpfen?«

Ein kleinlicher Triumph meinerseits, ich muß es zugeben. Aber das edelste Blut im Lande hätte sich dessen nicht enthalten können, und wie gründlich verabscheute ich diese Heuchlerin!

Eine Zeit lang wußte sie nicht, was sie beginnen oder sagen sollte, sie starrte mich nur mit nichts weniger als christlichen Gefühlen an. Dann versuchte sie, mir durch großartige Erhabenheit zu imponiren. Sie richtete sich würdevoll auf und nahm eine Miene an, als halte sie es nicht der Mühe werth, mir Rede zu stehen.

»Du bist noch viel zu jung, mein Kind, um aus dem Schein, der allerdings etwas –«

»Ich danke Ihnen. Sie brauchen sich nicht um das zu bekümmern, was in meinen Gedanken vorgeht. Seien Sie nur so gütig, die Packete zurückzugeben, die Sie gestohlen haben.«

»Wirklich? Ich bin erstaunt über Deine Kühnheit. Was ich genommen habe, ist mein rechtmäßiges Eigenthum, und es wäre eine stärkere Hand als die Deinige erforderlich, um es mir zu rauben.«

Sie ergriff ihr Stemmeisen und stellte sich mir drohend gegenüber. Ich antwortete sehr ruhig und ohne mich ihr zu nähern:

»Wenn ich den Wunsch hätte, Sie in Stücke gerissen zu sehen, so brauchte ich nur zu winken. Guidice!« Ich pfiff auf eine eigenthümliche, meinem Hunde bekannte Art und sofort sprang er gegen die Thür, drückte sich selber die altersschwache Klinge auf und stellte sich mit blitzenden Augen, die Zähne zeigend, neben mich. Mrs. Daldy sprang hinter den Tisch und ergriff einen schweren Stuhl.

»Mein liebes Kind, mein gutes, liebes Mädchen, ich glaube schließlich, daß Du Recht hast. Es ist so schwer, das Richtige zu treffen – um Gotteswillen, halte ihn zurück – so schwer, wo es sich um die eigenen Rechte handelt. Die alten sündlichen Regungen –«

»Werden Sie morgen in das Gefängniß von Gloucester bringen. Noch einmal die Papiere, oder –« und ich blickte auf Guidice und erhob die Hand. Er blickte fest auf diese Hand und stand eines Winkes gewärtig zum Sprunge bereit. In ihrer furchtbaren Angst öffnete sie ihr Kleid und warf mir die Packete über den Tisch zu. Ich untersuchte dieselben und befestigte sie an des Hundes Halsband. Dann schritten wir Beide auf sie zu und scheuchten sie bis in eine Ecke zurück. Es war köstlich, sie einmal in ihrer angeborenen Gemeinheit und aller salbungsvollen Phrasen und Formeln entkleidet zu sehen.

Sie sank auf die Kniee und beschwor mich, diesmal in wirklich klaren, einfachen Worten, sie frei zu geben. Sie rief mein eigenes Interesse an und erbot sich, mich an ihren Plänen theilnehmen zu lassen, wodurch ich allein mein Erbrecht wiedererlangen könne, um das ich so schmählich betrogen sei. Ich fragte sie nur, ob sie mir den geheimnißvollen Tod meines Vaters aufklären könne. Sie konnte mir Nichts hierüber mittheilen, sonst würde sie diese Aussicht auf Rettung mit Freuden ergriffen haben. Endlich versprach ich, sie frei ausgehen zu lassen, wenn sie mir den geheimen Eingang unter dem Erkerfenster zeigen wolle. Nicht ihretwegen ließ ich sie frei, sondern um den Skandal und die peinliche Aufregung zu vermeiden, welche ihr Verhör hervorgerufen haben würde. Als sie in sehr niedergeschlagener Stimmung fortging, folgte ich ihr durch den geheimen Gang. Guidice, den ich aus Furcht vor Verrath die ganze Zeit hindurch nicht von meiner Seite gelassen, zeigte seine großen Zähne im Mondschein und machte mir fast das Recht streitig, sie frei zu geben. Nachdem ich ihm die Päckchen abgenommen hatte, legte ich ihm eine Felldecke unter das Fenster und ließ ihn dort als Wache zurück, obgleich kaum ein zweiter Versuch zu befürchten stand, während sich die Papiere in meinen Händen befanden. Die Larve und das gespenstische Gewand blieben in meinem Besitz, als Trophäen meines Geister-Abenteuers.



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