Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Der Schlüssel zu der ganzen Verwickelung.

 

Als ich meinem Onkel am folgendem Tage die beiden geretteten Päckchen zeigte und ihm Alles erzählte, was sich ereignet hatte, war er zuerst von Schreck und Staunen überwältigt. Seine Krankheit schien seinen ganzen satirischen Humor sowohl wie die verachtungsvolle Apathie gebannt zu haben, welche die negative Form der Philosophie ist. Er griff mit zitternden Händen nach den Packeten und begann die Siegel zu untersuchen.

»Alles noch unversehrt,« sagte er endlich, »Alles noch unversehrt, und das überrascht mich. Mein theures Kind, ich danke Dir dieses Mal mehr als mein Leben. Du hast meine schlimmste Feindin besiegt. Nur Deiner Obhut will ich diese Papiere anvertrauen, von denen eines, wie ich hoffe, bald von geringem Werthe sein wird. Es ist mein Testament, und durch dasselbe werden Dir Deines Vaters Güter zurückgegeben, während die Gelder, welche ich durch meine Sorgsamkeit und Mäßigkeit erspart habe, in zwei Theile fallen, von denen einer Dir, der andere jener unwürdigen Mrs. Daldy für den Fall gewisser Ereignisse bestimmt war. Dies muß sofort geändert werden. Sobald Du meine Lebensgeschichte gehört hast, kannst Du das Testament lesen, wenn Du magst. Ich wünsche es, weil Du daraus ersehen wirst, daß ich trotz unserer Entfremdung schon längst die Absicht gehegt, gerecht gegen Dich zu handeln. Damit Du aber Alles verstehst, will ich Dir meine seltsame Geschichte erzählen. Eines mußt Du mir indessen versprechen, ehe ich beginne.«

»Was ist es, lieber Onkel?«

»Daß Du mir einen großen Fehltritt vergiebst, obgleich er die Veranlassung zu dem Tode Deines theuren Vaters gewesen ist.«

Es währte eine Minute, ehe ich antworten konnte. Darauf nahm ich seine Hand und küßte sie, als er sein Antlitz abwendete.

»Mein Herz, ich bin heute nicht kräftig genug nach Allem, was Du mir erzählt hast. Ich hatte zwar schon gestern eine dunkle Ahnung, daß irgend ein Anschlag im Werk sei, denn meine Arbeitsstube war nicht ganz so geordnet, wie ich sie verlassen hatte. Aber, mein theures Kind, geleite mich heute Nachmittag auf die sonnige Anhöhe, und wills Gott, werde ich dann meine Erzählung wenigstens beginnen.«

Vergeblich bat ich ihn, dies noch aufzuschieben.

Er sagte, es läge ihm eine Last auf der Seele, welche er herunterwälzen müsse. So fuhr ich ihn denn früh am Nachmittag langsam nach dem schattigen Plätzchen. Dort, wo die Brise sich zwischen dem jungen Laube verlor und die goldenen Kettengehänge des Geisklee's sich schwankend bewegten, lauschte ich, während Guidice seine Pfoten behaglich gähnend von sich streckte, der Erzählung meines Onkels. Ich war noch zu jung, um den Seufzer zu verstehen, mit dem er sie begann. Wenig Menschen können die Geschichte ihres Lebens erzählen, ohne daran zu denken, wie sie mit ihrem Leben gespielt haben! Ach, der Würfel wird nur ein einziges Mal geworfen, doch unbeachtet rollt er fort und seine Augen werden nicht gezählt!

Obgleich ich die Geschichte nicht in seiner ausdrucksvollen Weise erzählen kann, so will ich doch versuchen, seine Worte und Gefühle, so weit mein Gedächtniß reicht, treu wiederzugeben. Feierlich und traurig tönte die Geschichte von seinen Lippen, denn ihm lastete vom Anfang bis zum Ende die Kenntniß schwer auf der Seele, daß Alles bald vorbei sein würde und er nur noch mit Ergebung den über seinem Haupte schwebenden Schlag zu erwarten hatte.

Edgar Vaughan's Geschichte.

»Ich bin, wie Du weißt, von jeher unstäter und ungeselliger Natur gewesen. Mein Vater war vor meiner Geburt gestorben und da meine Mutter sich wieder verheirathet hatte, noch ehe ich Gehen gelernt, waren wenig Einflüsse vorhanden, um meinen Sonderlings-Neigungen entgegen zu wirken. Ich schien keiner von den beiden Familien anzugehören, obgleich ich stets an den Vaughan's hing und die Daldy's nicht leiden konnte. Die Verwalter des meiner Mutter ausgesetzten Erbtheils waren meine Vormünder. Ein Testament hatte mein Vater nicht gemacht, weil er in Folge der strengen Lehnsbeschränkung über Nichts verfügen konnte. Das Einkommen meiner Mutter umfaßte nur bewegliches Eigenthum, denn es war unter keinen Umständen gestattet, die Ländereien irgendwie zu belasten. Die Hypothekenschulden, die Dein Vater bezahlt hat, wie Du ohne Zweifel gehört hast, stammten noch aus alter Zeit.

Ich brauche Dir nicht zu erzählen, daß die Güter während der Minderjährigkeit Deines Vaters auf schamlose Weise verwaltet wurden.

Das Chancery-Gericht setzte einen Verwalter ein, der sich als ein träger Schuft erwies. Inzwischen erhielten Dein Vater und ich die herkömmliche Erziehung, bei der kein Unterschied zwischen uns gemacht wurde. Obgleich nur Halbbrüder, waren wir einander in starker Liebe zugethan, besonders nach der tüchtigen Tracht Schläge, welche Dein guter Vater für seine Pflicht gehalten, mir in Eton zu verabreichen. Dieselbe ist mir sehr dienlich gewesen; vorher hatte ich Deinen Vater ein wenig wegen seines sanftmüthigen Charakters verachtet. In Oxford hielt ich mich, seitdem Dein Vater abgegangen war, sowohl von den zahlreichen geselligen, wie von den äußerst schwach vertretenen studirenden Kreisen fern und führte ein ziemlich einsiedlerisches Leben. Sobald die Vorlesungen vorüber waren, ruderte ich träge in meinem Kahne auf dem Cherwell, wobei ich mit französischen und italienischen Novellen versehen war, oder ich schlenderte zwischen den Zigeunern der Steppen von Cowley umher. Die Halle In der englischen Universität der Speise- und Versammlungsraum. besuchte ich niemals, sondern speiste in irgend einer entlegenen Weinschenke und verlebte die Abende oft bis zum späten Läuten der großen Glocke von Christ-Church-College in Spazierritten durch die einsamen, nach Otmoor, Aston Common oder Stanlake führenden Alleen. Es war seltsam, daß ich mich nie verliebte, da ich viele kleine Abenteuer erlebte und oft hübsche Mädchen kennen lernte. Jetzt, wo ich ein solches Wrack bin, kann ich ohne Eitelkeit sagen, daß ich in jener Zeit für ungewöhnlich hübsch galt. Natürlich war ich keine beliebte Persönlichkeit. Doch daraus machte ich mir Nichts und Niemand hatte Grund, mir übelgesinnt zu sein. Ich wollte für nichts Besonderes gelten, gab mir keine vornehmen Airs Anglizismus; »legte kein vornehmes Verhalten an den Tag«., war höflich gegen Jeden, der sich die Mühe nahm, mich anzureden, und die Welt, welcher ich weder trotzte noch schmeichelte, ließ mich, wie sie es immer in solchen Fällen zu thun pflegt, meinen eigenen Weg gehen.

Als ich nach London kam, führte ich in Lincoln's Inn Eine der vier englischen Anwaltskammern (Inns of Court) für Barrister (das sind in England die plädierenden Anwälte, im Gegensatz zum Solicitor, der nur beratend außerhalb des Gerichts tätig ist ist). Bis zur Mitte des 19. Jh. wurden in Lincoln's Inn noch Studenten ausgebildet. fast dasselbe Leben. Wie von den meisten jungen Leuten, die zur Barre Daher der Name »Barrister« für diesen Anwaltstyp. (» Bar« = Schranke im Gerichtssaal). berufen worden, wurde auch von mir in der Heimath erzählt, daß ich zu großen Hoffnungen berechtige. Hiezu war nie eine Aussicht vorhanden. Ganz abgesehen von der Frage der Begabung fehlten mir Fleiß und Liebe zum Rechtsstudium, und ich verstand es in keiner Weise, mich um Klienten zu bemühen. Noch ein schlimmerer Mangel war, daß meine einsamen Gewohnheiten sich zu einer scheuen Abneigung gegen meine Mitmenschen zu verdüstern begannen.

Du hast gehört, daß ich verschwenderisch gewesen. In Bezug auf meine frühere Laufbahn war diese Anklage durchaus unwahr. Freilich muß ich gestehen, daß ich des Geldes nie sehr achtete und auch niemals versuchte, Dinge unter ihrem Werthe zu kaufen. Ich gebrauchte indessen so wenig für mich, und meine Lebensweise war so ungesellig, daß ich nie die bescheidene, mir als jüngerem Sohne bewilligte Summe überschritt. Später wurde es anders, und es waren gute Gründe dafür vorhanden.

Zur Zeit der Saison von London war ich stets am ruhelosesten und menschenfeindlichsten. Nicht etwa, daß ich auf den frivolen Flitter der Mode und die Wolken falscher Herrlichkeit um mich her mit Neid geblickt hätte. Ich fühlte mich nur als Engländer durch die Kriecherei, die Verstellung und die Affenthorheit gedemüthigt, welche wir ›Gesellschaft‹ benennen. Ich sehnte mich nach irgend einem Lande, wo die Männer mehr Selbstachtung und die Frauen mehr Weiblichkeit besitzen.

Deine Eltern, meine liebe Clara, verheiratheten sich gegen Ende des Dezembers 1826, sechs Jahre vor Deiner Geburt. Bei dieser Gelegenheit machte mir Dein Vater, der einzige Mensch, an dem mir überhaupt Etwas lag, ein großes Geschenk. Er gab mir tausend Pfund, und er würde mir eine noch bedeutendere Summe gegeben haben, denn er war ein äußerst freigebiger Mann, wenn die Güter nicht unter der langjährigen schlechten Verwaltung gelitten und großer Geldopfer bedurft hätten. Ich kann mit Entschiedenheit sagen, daß jetzt der Brutto-Ertrag auf das Doppelte und der Netto-Gewinn auf das Vierfache gestiegen ist seit jener Zeit, als Dein Vater die Güter übernommen hatte. Die vier Jahre, welche zwischen diesem Ereigniß und seiner Heirath lagen, hatte er benutzt, um Alles, was er zurücklegen konnte, auf die Entlastung der Güter zu verwenden, und deßhalb, wie gesagt, war dies Geschenk ein sehr großmüthiges. Und mehr noch, er drang in mich, bei ihm auf den Gütern zu leben und bot mir eines seiner Pachtgüter zu höchst vortheilhaften Bedingungen an. Auf meine Weigerung bat er mich sogar, gegen ein hohes Gehalt die Verwaltung der Güter und die Oberaufsicht großer Verbesserungen, welche er beabsichtigte, zu übernehmen. Ich erinnere mich noch so genau, als sei es gestern gewesen, der Worte, welche er sprach. Er ergriff meine Hand mit dem ungekünstelten herzlichen Lächeln, dem selten Jemand widerstehen konnte.

›Komme doch, mein Junge!‹ rief er. ›Wir sind ja nur unserer Zwei. Im alten Nest ist Platz für uns Beide, und Du bist jetzt groß genug, um mich durchzuprügeln.‹«

Bei der süßen Erinnerung an die Tracht Schläge von Eton wurden meinem armen Onkel die Augen feucht.

»Du siehst also, mein Kind, daß ich, anstatt Deinem Vater das Besitzthum zu mißgönnen, alle Ursache hatte, ihn zu lieben und zu verehren. Dennoch lehnte ich sowohl dieses wie seine übrigen Anerbieten ab und nahm nur sein Geschenk an, das ich ziemlich glücklich anlegte. Nachdem ich einen äußerst angenehmen Monat ›zu Hause,‹ wie ich mich immer ausdrückte, verlebt hatte, kehrte ich in den ersten Tagen des April 1827 nach London zurück. Es giebt ebenso wenig zwei ganz gleiche Seelen wie Körper, und wie geringe Verschiedenheit trifft man in den Kreisen der Gesellschaft! Wahrlich, es wäre vernünftiger, des Säuglings Antlitz in eine Speiseform zu zwängen und ihm aus Nase und Lippen Rosetten und Trauben zu kneten, als Millionen menschlicher Gemüther nach ein und demselben Modell zu biegen und zu pressen. Und doch sind hier alle Menschen gleich, ob von dänischer Es wird oft übersehen, dass in der Zeit vor der normannischen Eroberung 1066 die Dänen nicht nur politisch große Bedeutung für England hatten, sondern auch einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil ausmachten., sächsischer, keltischer oder normannischer Abkunft, ob sie im fußtiefen Schnee wandern oder als Alpenreisende an Stricken schweben. Einer tritt in die Fußtapfen des Andern, schwingt die Arme in gleichem Takt, und Keiner sieht nach rechts oder nach links. So marschiren sie in einer Millionen zählenden Reihe hinter einander durch das Leben. Wer voranschreitet, das wissen sie nicht, warum sie folgen, das können sie nicht sagen, wohin sie geführt werden, danach fragen sie nicht. Ich lenkte sofort ihre Aufmerksamkeit und ihren Spott auf mich, weil ich es wagte, einen Hut zu wählen, der mich nicht in einer halben Stunde skalpirte und eine Kravatte, die mich nicht erdrosselte, ja, weil ich die Frechheit besaß, zu speisen, wenn ich hungrig war. Wie oft sehnte ich mich nach einem Lande der Freiheit und Vernunft, wo es keine Schande ist, ein Austernfaß zu tragen oder einem Handwerker die Hand zu schütteln. Ich weiß, weßhalb Du lächelst, Clara. Du denkst: ›Wie anders bist Du jetzt, mein guter Onkel. Ist es nicht ein wenig wankelmüthig von Dir, daß Du allen diesen Livree-Humbug hier duldest?‹ – Ja, ich bin anders geworden. Ich bin jetzt älter und weiser und bilde mir nicht mehr ein, daß ich den Rost der Jahrhunderte mit meinem Aermel wegwischen kann. Was die Livree betrifft, so fühlt sich der Engländer glücklich darin, es ist seine Uniform. Auch habe ich so schwer unter der Gewaltthätigkeit einer ungezähmten Rasse gelitten, daß sich meine Bewunderung für den nicht vom Lasso eingefangenen menschlichen Nacken, wie ich zu sagen pflegte, etwas vermindert hat. Ich las irgendwo den Vers:

Die Freiheit schaltete zu frei mit mir.

Derselbe enthält in Kürze die Moral meiner Lebensgeschichte. In jener Zeit jedoch, wo ich die socialen Gesetze vielleicht aus dem parteiischen Gesichtspunkt des jüngeren Sohnes ansah, und wo die edle Einfachheit und natürliche Herzlichkeit Deines Vaters, die süße Sanftmuth Deiner Mutter noch frisch in meinem Gedächtniß waren, hatte ich keine Lust, mich an den Miethswagen der Mode zu klammern, wie es einem armen Briten zukommt, bis die Peitsche des Kutschers ihn erreicht. Als ich bemerkte, daß Niemand sich darum bekümmerte, ob ich dort saß oder nicht und nur vom Bedientensitz Erbsen auf mich abgeschossen wurden, während ich am Wege ging, da that ich, was Tausende vor mir gethan und nach mir wahrscheinlich thun werden – ich erklärte meine britischen Landsleute allesammt für blödsinnige Sklaven und sehnte mich, von der Galeere erlöst zu werden. Vielleicht aber würde ich niemals entkommen sein, denn ich vergeudete gleich den meisten Leuten meines Standes meine ganze Energie in kleinen Excentricitäten, wäre nicht das, was wir Müssiggänger ›die Macht der Verhältnisse‹ nennen, eingeschritten. Zu einer Zeit, als mein Lebensstrom ruhig dahinfloß, obgleich seine Wellen murmelnd gegen das Ufer schlugen, wurde er durch ein plötzlich eintretendes Ereigniß in ein anderes und rauheres Flußbett getrieben.

Eines Nachmittags im April 1829 stieß ich mein kleines Boot von der Tempeltreppe ab, wo es befestigt lag, und da mir noch finsterer und mürrischer als sonst zu Sinne war, beschloß ich einen längeren Ausflug. So versah ich mich denn mit Lebensmitteln wie Robinson Crusoe, und nahm Decken und Hüllen mit mir. Es war gerade der Stillstand zwischen Fluth und Ebbe eingetreten. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nach Richmond zu fahren; da ich aber zu träge war, gegen die Fluth zu kämpfen, so richtete ich mich nach dem Willen der Natur und ruderte stromabwärts. In wenigen Minuten trat eine schnelle Ebbebewegung ein und ich beschloß, mit derselben so weit zu fahren, bis die Fluth mir entgegenkommen würde.

Nachdem ich mehrere Stunden hindurch stetig fortgerudert hatte, war ich weit über mein gewohntes Kap ›Wende-um‹ hinausgelangt. Der starke Zug der Ebbe hatte mich im Verein mit einer kleinen Brise stromabwärts getrieben und ich war über den Barking Reach bis zu dem Dagenham Marschland gekommen. Hier wälzen und schlängeln sich schmutzige Buchten und Canäle zwischen den schlammigen nördlichen Ufern der Themse hin. Alles umher ist eine traurige, öde, einförmige Wüste. Nirgends wird die todte Fläche auch nur durch ein Haus oder einen Baum unterbrochen; nur dicht am Flusse sind einige niedrige Hütten, welche mehr großen Kähnen als Häusern gleichen, auf dem sumpfigen Boden erbaut. In diesem Zustand befand sich, so weit ich mich auf mein Gedächtniß verlassen kann, dieses Marschland von Essex im Jahre 1829. Wie es jetzt dort aussieht, kann ich nicht sagen.

Es war die höchste Zeit zum Umkehren. So fleißig ich immer rudern mochte, konnte ich kaum um Mitternacht in meinen Hafen zurückgelangen. Boote mit Ruderstützen waren damals noch nicht erfunden, und in dem schmalen Kahn hätte kein Ruderer mehr als zehn Meilen die Stunde zurücklegen können. Gerade als ich mich umwandte, kam ein vielleicht an der Maschine beschädigt gewesener Postdampfer, der etwas weiter abwärts vor Anker gelegen hatte, mit dem Eintreten der Fluth den Fluß herauf und war schnell wieder außer Sicht. Als er an mir vorüberfuhr, rief ich nach einem Schlepptau. Entweder wurde ich jedoch nicht gehört, oder es wollte Niemand an Bord Notiz von mir nehmen. Es blieb mir Nichts weiter übrig, als die Ruder kräftig zu gebrauchen und scharf aufzupassen.

Jetzt begann die starke Strömung der Fluth, und ich setzte die Ruder mit aller Energie in Thätigkeit, während die ersten Sterne sich in dem dunkeln Wasser spiegelten. Es war ein öder und melancholischer Schauplatz. Der graue Nebel kam über das Marschland, und das warme Meerwasser umkosend schwebte er trübe daher, während ein weißer Dunstfleck sich hie und da über dem Strom kräuselte. Kein Schiff, keine Barke war in Sicht. Weder menschliche Stimmen, noch das Brüllen von Rindern unterbrachen die nebeltrübe Stille. Nur das Plätschern des Stromes gegen seine schlammigen Ufer oder gegen irgend einen morschen Ankerpfosten ertönte mitunter zwischen dem Knarren der Ruder. Die Oede und Traurigkeit harmonirte mit meinem finsteren Sinn. Ein Zug der Vergänglichkeit, der Selbstsucht und der Melancholie durchströmt die Welt. Tanzen und hüpfen wir, so sind wir nur auf den Wellen treibende Boote, philosophiren wir, so sind wir Nichts weiter als gebrechliche Pfosten.

Plötzlich störte mich ein lauter Schrei in meinen müßigen Träumereien. Ich schrak so zusammen, daß ich einen Fehlschlag mit dem Ruder that, in das Boot zurückfiel und mich umsah. Zuerst konnte ich nicht entdecken, woher der Schrei kam, bis mein Boot um eine niedrige Landspitze schoß, auf welche die Strömung mich zugeführt hatte. Dreimal und immer lauter wiederholte sich der Schrei, und ich hörte durch die abendliche Stille fluchende Männerstimmen und den Tumult eines Handgemenges. Etwa fünfzig Yards von mir entfernt, befand sich ein verdächtig aussehendes Gebäude, das aus Schiffsbrettern erbaut war und oberhalb des höchsten Wasserstandes auf Pfählen ruhte. Ein zerrissenes Wirthshausschild hing an einer Stange, und ein Damm führte zu den Stufen vor dem Hause. Während ich noch zögerte, sah ich zwei Gestalten hinter einem Gitterfenster wie in heftigem Kampfe begriffen, und es erfolgte ein schwerer Fall. Drei Ruderschläge, und der Kiel meines Bootes fuhr knirschend auf den Damm. Ich sprang mit dem Bootshaken heraus, schlang die Leine um einen Pfosten, eilte über den schlammigen Damm und erstieg die schmalen hölzernen Stufen. Die Thür war verriegelt, ich rüttelte mit aller Kraft daran, aber vergebens. Ein schwacher Schrei, wie von Jemand ausgestoßen, der im Kampf unterliegt, erreichte mein Ohr. Den Bootshaken mit beiden Händen ergreifend, schlug ich mit dem unteren Ende gegen die alte Thür und brach sie auf. Im Erdgeschoß war Niemand anwesend, aber über mir hörte ich ein Stöhnen und Trampeln. Ich stürzte die Treppe hinan und in den Raum hinein, wo die Schurkerei verübt wurde. Ein junges Mädchen lag völlig erschöpft am Boden, und zwei Schufte beugten sich mit einem Thau über sie. Von meinem Bootshaken getroffen, fiel der Eine sofort neben seinem Opfer zu Boden.

Der Andere sprang auf mich zu und packte mich an der Kehle. Ich sah und bald fühlte ich auch, daß er ein kräftiger Mann war; ich war jedoch zu jener Zeit noch kein Krüppel. Wir waren einander vollkommen gewachsen. Ich riß seine Hand von meinem Halse, aber zweimal lag ich unter ihm, zweimal entwand ich mich seinem Griff wie eine Riesenschlange den Kiefern eines Tigers. Fest umklammert hielt Einer den Anderen, vergeblich suchte Jeder sich den Arm zum Schlage frei zu machen. Halb erwürgt wälzten wir uns am Boden; wer würde zuerst besinnungslos werden? Ein Zufall gab mir den Sieg. Dem Ersticken nahe, lockerten wir Beide den wüthenden Griff und lagen einander anstierend, umherspähend und schwer keuchend da. Meinen am Boden liegenden Bootshaken bemerkend, suchte mein Feind denselben durch eine plötzliche Bewegung zu erreichen. Anstatt ihn zurückzuhalten, stieß ich ihn mit aller Kraft darauf zu, und als er ihn faßte, drang die Spitze in eines seiner Augen. Mit einem Schrei des Schmerzes und der Wuth verlor er die Besinnung. Am ganzen Körper zitternd von der Anstrengung des verzweifelten Kampfes fesselte ich ihn und seinen Genossen mit dem zusammengedrehten Tauende, welches sie für das Mädchen bestimmt hatten.

Jetzt endlich hatte ich Zeit, mich umzuschauen. Auf einem niedrigen Rollbett am äußersten Ende des langen dunkelen Zimmers, in dem nur eine Schiffslampe brannte, lag eine ältliche Dame in vollständiger Betäubung. Auf der Diele, den Kopf gegen die Bretterwand gelehnt, die schwarzen Augen groß und voll auf mich gerichtet, saß ein trotz ihrer leichenblassen Wangen auffallend schönes Mädchen. Ein kostbarer Ring, um den sie auf Tod und Leben gekämpft hatte, war von ihrem Finger herabgestreift und hing auf dem opalgleichen Nagel, denn ihre Hände waren geballt und die Arme durch ohnmächtige Erschöpfung gänzlich erstarrt. Beide Damen trugen tiefe Trauer.

Das Uebrige ist in wenigen Worten zu erklären. Die armen Damen kamen endlich, nachdem ich ihnen Wasser in das Antlitz gespritzt und ihre Hände gerieben hatte, wieder zu sich und sagten mir, wo die Wirthin zu finden sei, welche von ihrem Mann und Bruder in ein anderes Zimmer eingesperrt worden. Sonst befand sich Niemand auf dem Gehöfte. Wie waren die Damen dorthin gekommen? Was war ihr Reiseziel und weßhalb waren sie solchen Gewaltthätigkeiten ausgesetzt worden? Sie befanden sich auf der Rückreise vom Kontinent, von wo sie durch eine Todesnachricht abgerufen worden, und sie hatten Antwerpen vor zwei Tagen in dem Dampfschiff verlassen, welches ich gesehen. Es war, wie die sämmtlichen damaligen Dampfer, ein schwerfälliger plumper Kasten, in welchem Mrs. Green und ihre Tochter die ganze Zeit hindurch auf unruhiger See hin und her geschleudert worden. Es war kein Wunder, daß die arme Dame mit schwacher Stimme rief, man möge sie irgendwo an das Land bringen, wo sich nicht Alles mehr im Kreise drehen würde. Ehe sie zu dem langweiligen Haltepunkt im Strom gelangt waren, hatte die schöne Adelaide, welche mit gutem Appetit an allen Mahlzeiten Theil genommen, die Seekrankheit ihrer armen Mutter dadurch verschlimmert, daß sie mit gepökeltem Schweinefleisch im Munde nach dem Erbsenpudding gefragt hatte. Auch jetzt überwand Miß Adelaide sehr bald die Folgen des furchtbaren Kampfes um Leben und Ehre. Sie hatte, was man heutzutage eine ›herrliche Constitution‹ nennt. Hätte sie dieselbe nicht besessen, so würde sie jetzt schon mit ihrer Mutter auf dem Grunde des Barking Reach Am nördlichen Themse-Ufer. gelegen haben. Die beiden schurkischen Bewohner jenes einsamen Wirthshauses waren nach Barking ausgesandt worden, um einen Wagen zu holen, Sie waren jedoch nur scheinbar darauf eingegangen, denn sie hatten ihre verruchten, habgierigen Augen auf den Reichthum ihrer unbekannten Gäste und die Schönheit der muthigen Adelaide geworfen. Unzweifelhaft wären beide Damen ohne den tapfern Widerstand, die Kraft und die Geistesgegenwart Adelaide's ermordet worden.

Als sie ihre Uhren und sonstigen umhergestreuten Kleinodien wieder an sich genommen hatten, und ich die armen Wesen von dem Schauplatz des Kampfes fortgeführt, war ich gänzlich rathlos, auf welche Weise ich sie nach Hause schaffen sollte. Barking war eine tüchtige Strecke entfernt, und den mir unbekannten Weg über die Haide würde ich schwerlich im Dunkeln gefunden haben. Außerdem war es immerhin gewagt, die beiden Damen in der Räuberhöhle zu lassen, mochten ihre heimtückischen Feinde auch noch so fest gebunden sein. Endlich gelang es mir mit großen Schwierigkeiten, die beiden Damen in mein Boot einzuschiffen, wo ich sie sorgfältig gegen die Nachtluft einhüllte. Nachdem ich dann meine Gefangenen noch einmal gebunden und in zwei verschiedene Zimmer, das Weib in den unteren Raum eingeschlossen hatte, ruderte ich wacker darauf los bis nach Woolwich. Hier bekam ich einen Wagen, in welchem meine Schützlinge die Reise nach London antraten. Darauf kehrte ich mit zwei Constablern nach der »Alten Ruderbarke« zurück, wie die niedrige Hütte hieß; die beiden Vögel waren aber ausgeflogen, was ich beinahe nicht anders erwartet hatte. Wahrscheinlich war es dem Weibe gelungen, erst sich und dann sie zu befreien. Jedenfalls war die »Alte Ruderbarke« ohne Mannschaft, und die Deserteure hatten sie in Brand gesteckt. Die Flammen warfen, als wir nach vergeblichem Durchsuchen des Marschlandes fortruderten, einen schwarzgelben Schein auf die Schlammufer und die nachlassende Fluth – ein treues Bild dessen, was mir bald zustieß: der Brand meiner eigenen Kabuse. Die beiden Männer wurden durch die Themsepolizei viel später ergriffen und als Flußpiraten zu lebenslänglicher Zwangsarbeit deportirt. Ich hörte wenigstens, daß es dieselben Leute gewesen.«

»Und Du, lieber Onkel, verliebtest Dich natürlich sterblich in die schöne Adelaide Green.«

»Eine junge Dame, mein Kind, zieht natürlich diesen Schluß. Aber jetzt darf ich nicht mehr sprechen;« (ich hatte ihn schon mehrmals zum Aufhören zu veranlassen gesucht), »und was ich nun zu berichten habe, betrifft mich im innersten Gefühl. Beim Zeus, wie kämpfte ich doch mit jenem starken Menschen! Und jetzt bedürfte es nur Deiner kleinen Faust, Clara, um mich zu Boden zu strecken.«

Er seufzte, und ich seufzte im Mitgefühl für ihn. Dann dachte ich an Shelfer und war stolz auf meine Tapferkeit, während ich meinen Onkel schweigend nach Hause fuhr.



 << zurück weiter >>