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Zweites Kapitel.

Ein kurzes Lebewohl.

 

Ich glaube, das Herz wäre mir zersprungen wenn man mein Schnürleib nicht aufgeschnitten hätte; oh, wie wünschte ich, daß es gebrochen wäre! Als ich wieder zum Bewußtsein meines unglückseligen Daseins gelangte, fühlte ich Etwas eisig Kaltes unter der Scheitellocke meines Haares. War es Conrads Finger? Ich griff mit der Hand an die Stirn, um ihn fortzustoßen und erfaßte einen großen, vollgesogenen Blutegel. Dr. Franks saß neben mir mit Schwamm und Waschbecken.

»Das ist der Letzte, mein liebes Kind. Stören Sie ihn nicht, er thut seine Schuldigkeit an Ihnen.«

»Seine Schuldigkeit! War es seine Schuldigkeit, so Fürchterliches zu sagen? Mein Herz mit jedem Wort zu brechen! Sich meiner zu schämen – meiner und meines über Alles geliebten Vaters! Falsch und sittenlos! Was habe ich begangen? Oh, wenn ich doch nur wüßte, was in aller Welt ich begangen habe!«

»Nichts Böses, mein armes, liebes Kind, nicht das Geringste. Lassen Sie mich Ihr blasses Gesichtchen waschen. Nun aber weinen Sie auch nicht mehr, keine Thräne will ich mehr sehen. Was soll wohl sonst aus den schönen Augen werden, auf deren Rettung ich so stolz bin?«

»Oh, ich wünsche, Sie hätten sie mir nicht gerettet! Dr. Franks, ich habe weder Vater noch Mutter und Niemand auf der ganzen Welt, der mich liebt. Da war es, als ob ich jetzt dennoch wieder heiter und glücklich werden solle, und ich war so stolz auf mich und noch stolzer auf ihn, und ich dachte gerade, wie erfreut mein guter, lieber Vater wohl darüber gewesen sein würde. Und ich liebte ihn so sehr, Dr. Franks, so von ganzem Herzen – es ist vielleicht nicht sehr groß – aber ich liebte ihn mit jeder Faser meines Herzens – und jetzt muß ich ihn hassen, so sehr ich nur kann. Oh, lassen Sie mich nach meiner Heimath, lassen Sie mich nach Hause zurückkehren, wo mein Vater und meine Mutter begraben liegen!«

Ich richtete mich im Bette empor, um aufzustehen, und die Kerzen flimmerten mir vor den Augen.

»Bitte, geht aus dem Zimmer, ich bitte Euch Alle darum. Laßt auch Isola nicht zu mir kommen. Ich kann ihren Anblick jetzt nicht ertragen. Ich werde nicht viel Zeit zum Ankleiden beanspruchen, und Gepäck gebrauche ich auch nicht. Mrs. Shelfer, bestellen Sie mir inzwischen die Droschke. Die Zimmer sind nicht mehr nöthig, und auf die Briefe kommt es nun nicht im geringsten mehr an. Ich werde meinem Vater Alles sagen, wenn ich ihn sehe, und dann wird er mir vielleicht erzählen, was ich Böses gethan habe. Warum geht Ihr nicht, da Ihr doch seht, daß ich aufzustehen wünsche?«

»Wir gehen ja schon, mein liebes Kind. Trinken Sie erst noch dieses Glas Wein, um sich für die Reise zu stärken. Wollen Sie es jetzt nehmen, während die Droschke geholt wird?«

»Ja, Alles, Alles, gleich gut, was es ist. Nur halten Sie mich nicht länger zurück.«

Ich trank zu hastig, um es zu schmecken, ein volles Glas von einem dunkeln Saft, der mich vor ferneren leiblichen und geistigen Wanderungen schützte.

Als ich erwachte, war es heller Tag, und Dr. Franks, der neben mir saß, hielt eine meiner Hände in der seinigen. »Herrliche Konstitution,« murmelte er, »eine herrliche Konstitution.« Was nützte sie mir? Am Fußende meines Bettes saß die bitterlich weinende Isola. Nun erinnerte ich mich allmählich wieder meines ganzen Unglücks, aber ich sah es doch nur wie durch einen trüben Schleier. Die Wirkung des Schlaftrunks hielt mein Hirn noch gefangen, aber ein eisiges, dumpfes Schmerzgefühl lastete auf meinem Herzen. Nachdem Dr. Franks mir einen belebenden Trank gereicht hatte, zog er sich zurück, weil er bemerkte, daß ich mit Isola zu sprechen wünschte.

Die arme Isola kam zögernd heran und setzte sich neben mein Kopfkissen, doch schien sie in Zweifel, ob sie wagen solle, meine Hand zu nehmen. Ich aber ergriff die ihre, zog ihr Antlitz zu mir herab und bedeckte dasselbe mit Küssen. Isola hatte mir Nichts zu Leide gethan, und ich fand einen Trost darin, wenigstens sie noch lieben zu dürfen. Sie war ganz hingerissen von freudiger Ueberraschung.

»Oh, theure Clara, ich bin so froh, daß Du mich noch liebst. Ich befürchtete schon, daß Du gar Nichts mehr von mir hieltest. Was hat dies Alles zu bedeuten, Liebste? Wenn Du Dich wohl genug befindest, so erzähle mir, was an diesem fürchterlichen Elend schuld ist.«

»Dasselbe wollte ich gern von Dir erfahren, liebes Herz. Du mußt es sicherlich viel besser wissen als ich.«

Ich konnte mich nicht entschließen, sie zu fragen, was aus Conrad geworden sei.

»Ich weiß Nichts, Liebste, ich weiß nicht das Geringste darüber, nur, daß ein furchtbarer Streit zwischen Dir und Conrad stattgefunden hat, und ich muß Dir mittheilen, woher ich das weiß. Ich war nämlich so gespannt auf Etwas, daß Du leicht errathen kannst, daß ich mich bald, nachdem Conrad gekommen war, an die Thür schlich. Du sahst so eifrig aus dem Fenster, daß Du nicht bemerktest, wie ich die Thür ein wenig öffnete. Darauf hörte ich ihn sagen, wie sehr er Dich liebe, und ich war von Herzen froh darüber. Nun aber kam mir der Gedanke, daß es nicht ganz recht von mir sei, und da ich Alles wußte, was ich zu wissen wünschte, lief ich wieder hinunter. Das Nächste aber, was ich hörte, war, daß die Thür Deiner Schlafstube heftig zugeschlagen wurde, dann stürzte Conny aus dem Hause, und Guidice kam mit sehr betrübter Miene zu mir herunter. Ich rannte zu Dir hinauf und fand Dich zuckend und kreischend am Boden liegen, und dabei zerrtest Du so wild an den Betttüchern; ich war so erschrocken, daß ich kein Glied bewegen konnte. Dann kam Guidice mit schrecklichem Geheul, Mrs. Shelfer lief schnurstracks zum Doktor, und ich goß das Wasser aus der Waschkanne über Dich, und weiter weiß ich Nichts mehr.«

»Aber mein Herz, Du bist doch sicherlich inzwischen zu Hause gewesen?«

»Jawohl. Als Dr. Franks kam, und Du Dich etwas besser befandest, da wollte er, daß ich nach Hause gehe, denn er sagte, er habe an einer Patientin genug. Seine älteste Tochter, ein so nettes Mädchen, begleitete mich, und Papa erfuhr gar nicht, daß ich das Haus verlassen hatte. Er war noch oben und brütete über seinen Reliquien, und die ganze Oberklasse des College mußte ohne Vorlesung zum Mittagessen nach Hause gehen, aber ich glaube, die dummen Mädchen waren froh darüber.«

»Und hörtest Du nicht – aber nein, daran liegt Nichts.«

»Nein, von Conrad habe ich Nichts gehört. Ohne Zweifel ist er zu seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Kratzen und Schaben, zurückgekehrt. Er hat jetzt eine herrliche Gruppe in Arbeit, die ihm so am Herzen liegt, daß sie ihn nicht ruhig schlafen läßt. Es ist etwas Schauriges nach Dante, und die Hauptfigur ist nach Dir modellirt. Ich habe die Zeichnungen gesehen und er hat Dich ganz genau getroffen.«

»Wie äußerst schmeichelhaft! Ich will keine weiteren Fragen thun. Bitte, theile mir mit, wann ich zum Verkauf komme. Jedenfalls möchte ich behaupten, daß das Kunstwerk auf illegitime Weise entstanden ist.«

Mein Blick haftete forschend auf ihrem Antlitz, aber dasselbe zeigte nicht das geringste Verständniß, was unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn sie das bittere Geheimniß gekannt hätte, denn sie besaß schnelle Fassungsgabe und war offen wie der Tag. Ich war ärgerlich über mich selber, daß ich mich zu einem so zwecklosen Hohn erniedrigt hatte, der sicherlich den Weg zu ihrem Bruder finden würde.

»Jetzt will ich Dich nicht länger zurückhalten. Laß' mich mit Dr. Franks sprechen. Ich will heute Nachmittag reisen.«

Die arme Isola erbleichte. Sie hatte den Vorfall nur als einen Streit zwischen Liebenden betrachtet, der sich in einigen Tagen wieder ausgleichen würde. Sie war nicht fähig, irgend einen Groll lange zu hegen und vergaß, daß ich dies konnte.

»Sprich nicht so, Liebste, und wo Du noch so schwach bist. Ich weiß sicher, daß Du davon sterben würdest. Und was würde Conny sagen? Du darfst keinenfalls abreisen, ehe Du ihn aufgesucht und gesehen hast.«

»Ich sollte zu ihm gehen? Ich hoffe, ihn nicht früher wiederzusehen, als bis ich ihn in einer anderen Welt wegen dieser schmachvollen Beleidigung zur Rechenschaft ziehen kann. Nein, bitte, kein Wort mehr, ich will seinen Namen nicht mehr hören. Wie kann er Dein Bruder sein? Isola, mein Herz, Dich werde ich niemals vergessen. Nimm dies von mir an und gedenke meiner mitunter, denn Du wirst mich nimmer wiedersehen.«

Ich gab ihr einen Ring mit einem Smaragd, der von Perlen eingefaßt war; kleine Sinnbilder ihrer eigenen Lieblichkeit. Es war nicht derjenige, den ich von ihrem Bruder zurückgefordert hatte, das war ein einfacher Goldreif gewesen.

»Oh Clara, sage doch das nicht, Alles, nur das nicht; denn ich weiß, daß Du dabei bleiben wirst, Du bist so abscheulich eigensinnig. Und ich habe noch nie Jemand in der Welt so geliebt wie Dich, nicht einmal Conny.«

»Nicht einmal Deinen Vater und Deine Mutter?«

»Nein, nicht halb so sehr. Ich bin dem Papa wohl gut, wenn er freundlich ist, aber das ist er jetzt nicht oft (hier füllten sich die Augen der armen Kleinen wieder mit Thränen), und meine Mutter habe ich nicht gekannt. Sie starb, als ich geboren wurde.«

»Auch ich liebe Dich am innigsten auf der Welt – von jetzt an, mein Herz; dennoch müssen wir uns trennen.«

»Um uns nie wiederzusehen? Das nenne ich nicht Liebe. Sage mir, warum es sein muß, oh, sage es mir. Es scheint, daß Alle, die ich liebe, von schrecklichen Geheimnissen umgeben sind.«

Sie schien von Gram überwältigt. War sie doch nicht, gleich mir, schon in zartem Alter in der harten Lehre des Unglücks gewesen.

»Mein Liebling, ich will Dir zuweilen schreiben. Du kannst Dir die Briefe hier abholen. Von jetzt an will ich keine Geheimnisse mehr vor Dir haben. Du darfst aber nie an mich schreiben, sondern mir nur Deinen Namen auf einem Blättchen Papier mit meinen anderen Briefen schicken.«

»Aber warum in aller Welt soll ich Dir nicht schreiben, liebste Clara?«

»Das kann ich Dir nicht sagen.« Der Grund war, daß ich es nicht würde ertragen können, Etwas über ihren Bruder zu lesen. Nachdem diese Verabredung getroffen war, nahm ich unter heißen Thränen Abschied. Was Balaam und Balak, sowie George Cutting betraf, nach dem zu schicken ich für recht befunden hatte, so fehlte mir der Muth, irgend einen von ihnen abzuwarten. Dr. Franks hatte sich die äußerste Mühe gegeben, mich von meiner plötzlichen Abreise zurückzuhalten. Doch sagte ich ihm der Wahrheit gemäß, daß ich glaube, wahnsinnig werden zu müssen, wenn ich länger bliebe. Ich konnte nicht einmal mehr den Anblick des Zimmers ertragen, wo ich von der Höhe des Glückes plötzlich herabgestürzt und mit Füßen getreten worden. Der Kopf brannte mir und mein Herz sehnte sich nach der einzigen Stätte, wo ich wahre Liebe finden konnte, der Stätte, wo mein Vater und meine Mutter ruhten.

Der Doktor sah, daß ein Fieber sich in meinem Gemüth zu entzünden drohte, und als guter Arzt wußte er, daß es der beste Plan war, mir nachzugeben, um es dadurch zu dämpfen. Er bat mich nur, wenn mir sein Rath etwas werth sei, bei dem gefährlichen Zustand nicht allein zu reisen. Er erwies mir sogar die unerwartete und unverdiente Güte, mir seine älteste Tochter ohne Verzug mitzugeben, damit sie mich sicher nach Hause begleite.

Mein letztes Lebewohl galt Guidice, den ich nicht mitnehmen wollte, so sehr ich ihn noch liebte und er erhielt strengen Befehl, zuerst Isola nach Hause zu geleiten und sich dann nach seinem alten Quartier in den Stallungen zu begeben. Anscheinend zeigte er sich damit einverstanden, wenn auch mit betrübten Blicken. Aber als ich auf dem Bahnhof Paddington die Billets löste, stürzte er zu meinem Erstaunen in die Halle, warf zwei Gepäckträger über den Haufen und verlangte sein Billet ebenfalls. Unter diesen Umständen hatten wir nur die Wahl, ihn mitzunehmen oder den Zug zu versäumen. So nahm ich denn ein Billet für ihn und er sprang mit einer Begeisterung in das Hundecoupé, die ihm einen heftigen Stoß gegen den Kopf eintrug.



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