Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Was »Amalie Dietrich« mir brachte

Pastor Neumeister

Nein, es ging so nicht länger! Alles Reiben und Wärmen half nichts, ich mußte einen Arzt fragen. »Sofort ins Krankenhaus, da will ich Sie behandeln. Muskeln und Gelenkrheumatismus. Sie müssen sich einer Salizylkur unterziehen.«

Eine Freundin kam, um mich im Haushalt zu vertreten. Bei der Anmeldung wurde eine Wärterin herbei telephoniert. Eine kräftigt Frau trat bald danach in den Anmelderaum und fragte kurz und sachlich: »Kann die Aufnahme gehen?« Trotz der Schmerzen, die ich ausstand, mußte ich lachen, und statt des Hausverwalters antwortete ich selbst: »Ja, die ›Aufnahme‹ kann gehen.«

»Kommen Sie mit nach Baracke fünf.«

Was man alles werden konnte! Ich war also eine »Aufnahme«. Die Kur, der ich mich unterziehen mußte, regte mich aufs äußerste auf, ich konnte keine Luft bekommen, ich wollte durchaus ins Freie, ich mußte laufen, so meinte ich, weit laufen, damit ich nicht fühlte, wie der Kopf sich zu einer unförmlichen Kugel aus. wuchs. Was war das nur? Trieb man denn wilde Tiere durch meinen Körper, die mir die Knochen zerbrachen? Was sind das für wirre Stimmen, die so lebhaft auf mich einreden? Ist es das schwindsüchtige Mädchen, die neben mir liegt, die solchen Lärm macht? Still doch! – Still! – Nur ein wenig Ruhe! Ich sehe, wie über mir an der Decke eine Lampe angezündet wird; man verhängt sie mit einem Tuch. Nun ist es keine Lampe mehr, es ist der Mond, der die Schneegefilde der Polarregion bescheint.

Ich sitze auf einem Schlitten und sause mit Mylius Erichsen über krachendes, berstendes Polareis. Unser Atem verdichtet sich zu einem mächtigen Eisberg, der jetzt auf uns zuschwimmt, er wird uns erdrücken, ich will schreien, aber da liegt der Berg auf mir! Er drückt mich hinunter, – ich sinke, – tief, – immer tiefer! Alles ist vorbei!

Stöhnend wache ich auf. Nun ist kein Mondschein mehr, aber ich sehe, wie durch einen Nebel, die robuste Wärterin, die mich »Aufnahme« nennt. Wie merkwürdig, sie vermehrt sich; so oft ist sie da, daß ich sagen möchte: »Zwanzig von Ihnen könnten lieber hinaus gehen, Sie nehmen mir alle Luft weg.« Undeutlich sehe ich, daß sie den Mund bewegt, aber ich höre nichts, da gebe ich ihr zu verstehen, sie soll näher herankommen, als sie dicht bei mir ist, frage ich, ob ich mein Gehör verloren habe. Sie schüttelt energisch den Kopf und ruft mir in die Ohren: »Ängstigen Sie sich nicht, das gibt sich wieder. Das ist das Salizyl. Sie haben Erscheinungen, Sie sehen Bilder, und es rauscht vor Ihren Ohren!«

So, das weiß sie alles. Mühsam sage ich: »Ich war am Nordpol.«

Sie nickt gleichgültig, als hätte ich die selbstverständlichste Reise gemacht.

Später kommen die Ärzte. Der Oberarzt macht sich am Kopfende meines Bettes zu schaffen, er befestigt dicke Schnüre, an deren Enden Handgriffe hängen. Jetzt beugt er sich an mein Ohr und fragt, wie es mir geht. Ich klage ihm, daß mein Kopf so unförmlich groß wird. Er muß es ja sehen! Die Ärzte sehen einander an und nicken. Der Oberarzt legt seine Hand auf meine Schulter, und weit weg, als ob eine Wand von Watte zwischen der Stimme und mir stände, sagt er: »Sehen Sie, was ich da hingehängt habe?«

»Ja,« sage ich.

»Wollen Sie mal versuchen, ob Sie die Handgriffe fassen können? Die Rechte darf den Griff festhalten, aber die Linke muß tüchtig ziehen.«

Ich versuche, falle aber stöhnend in die Kissen zurück.

»Na, noch mal!« sagt überredend die Stimme.

Der junge Arzt tritt heran und will mir helfen, aber der Oberarzt schiebt energisch die helfende Hand beiseite und sagt: »Nein, das gilt nicht! Sie müssen selbst, Frau Pastorin. Na – –?«

Ich unterdrücke den Schmerz, fasse den Griff und ziehe an der elastischen Schnur.

»Sehen Sie wohl, daß Sie können!«

Er legt sanft seine Hand auf meine kranke Hand und sagt eindringlich: »Wir wollen ja gerne tun, was wir können, aber Sie müssen auch das Ihre dazu tun! Hören Sie mal genau zu, können Sie mich verstehen?«

Ich nicke.

»Ihr Herz ist krank, die Herznerven! Sie dürfen Ihren Zustand nicht leicht nehmen. Sie müssen sich, trotzdem es schmerzt, immer überwinden und an den Schnüren üben, damit die Lähmung sich nicht festsetzt. Immer üben, – sonst –! Wie? Ob ich glaube, daß Sie noch wieder gesund werden können? Es hängt mit von Ihrem Willen ab. Wenn Sie recht fleißig an dem Apparat arbeiten, können Sie noch wieder glücklich werden.«

Er reicht mir freundlich die Hand, und dann gehen die Herren.

Also so stand es um mich. Das Herz krank! Wollte ich nicht gern noch leben? Hatte ich nicht noch Pflichten und Aufgaben zu erfüllen? Brauchten mich denn meine Kinder nicht noch? Mein Junge, der noch der Erziehung bedurfte? Was hatte ich noch alles geplant, was wollte ich noch alles, und vielleicht hatte ich zu nichts mehr Zeit. Was konnte ich überhaupt noch, nichts als gefesselt still liegen? Ach ja, ziehen sollte ich ja. Ja gleich! Die Tränen kamen. Nichts konnte ich mehr, nicht einmal mehr im Winkel sitzen und sticken und stopfen. Immer noch führte mein Weg durchs dunkle Tal.

Meine ganze bunte Vergangenheit, auch das mühselige Leben meiner Mutter, zog an meiner Seele vorüber. Hatte nicht ihr Leben auch durch dunkle Täler geführt, und wie hatte sie sich hindurchgetastet? Manchen Gang hatten wir gemeinsam gemacht, damals an dem Winterabend, am Lilienstein entlang. Wie sehnsüchtig hatten damals die Augen das Dunkel durchspäht, wie müde waren die Füße vorwärts gestolpert; mir war, als hörte ich noch heute, wie die Mutter in energischem Ton sagte: ›Vorwärts! Wenn wir uns jetzt hinsetzen, erfrieren wir!‹

Endlich wird schon ein Licht auftauchen, das uns wenigstens den Weg zeigt, wenn es auch noch keine »süße Ruh« bedeutet. Und ein andres Mal: »Kannst du denn gar nicht lernen, mit Gott und dir allein fertig zu werden? Mußt du immer jemanden haben, der dich tröstet und streichelt? Du mußt lernen, einsam zu sein!«

Soviel Übung hätte ich durch mein bisheriges Leben haben können, aber ich hatte es noch immer nicht gelernt. Die konnten einsam sein, die sich eine Aufgabe, ein Ziel steckten: Forscher, Künstler, Gelehrte. Ich war nichts von alledem, weder nach dem Nordpol, noch nach der Südsee führte mich meine Bestimmung. Ich hatte ein Kind zu leiten, damit es durch die Gefahren der Großstadt heil an Leib und Seele seinen Lebensweg ging.

Was konnte ich für das Kind tun?

Auf sein Sehnen mußte ich eingehen. Ich mußte, wenn ich wieder gesund wurde, eine Wohnung mit einem Gärtchen suchen, damit er pflanzen und graben, pflegen, beobachten, sich eine Hütte bauen konnte. Das war meine nächste Aufgabe. Gehen konnte ich ja, da hieß es auf die Suche gehen. – Aber ich sollte ja am Apparat üben! Eilig, als käme es auf die Minute an, tastete ich zitternd nach den Handgriffen.

 

Wochen waren vergangen, ich war wieder heraus aus dem Krankenhaus. Das erste war, daß ich meine Wohnung kündigte und eine andere suchte. Nach vieler Mühe gelang es mir. Wir würden den engen Mauern entrinnen, ein kleines Gärtchen war gewonnen, und in meines Jungen Seele baute ich schon im Geiste aus alten Säcken eine Indianerhütte. Vorläufig war ich im übrigen noch zum Nichtstun verurteilt, denn ich hatte den linken Arm noch in der Binde und mußte mir bei allem helfen lassen.

Ich las viel. Konnte ich denn gar nichts anderes tun? Ich saß in trübe Gedanken versunken und fragte mich immer wieder, wenn mein Junge in der Schule war und ich so allein saß: »Was kann ich tun?«

Da sagte eine liebe, nun ferne Stimme: »Das mußt du tun!«

Ich hatte allerhand einzuwenden: konnte ich denn das noch? Ach, es war ja so lange her, seit ich geschrieben hatte! Ich hatte es ganz aufgegeben. Wen erfreute ich denn nun damit? Und dann die vielen Schwierigkeiten mit dem Stoff! Nein, ich war ja doch auch noch krank. Die Stimme widerlegte mich: »Ist nicht gerade der rechte Arm noch gesund? Schwierigkeiten! Manche mußt du innerlich bekämpfen, andere lösen sich unter der Arbeit. Nur nicht sitzen und darauf warten, bis die Lösung von selbst kommt! Die kommt nicht von selbst!«

»Tüchtig am Apparat üben, damit die Lähmung sich nicht festsetzt!« so hatte der Arzt gesagt. »Nicht sich hinsetzen, da erfrieren wir!« Das alles waren Stimmen, die kein Abwarten und Ausruhen zulassen wollten.

Da holte ich Papier und Tinte und sagte zaghaft: »Was meinst du, Mutter, wenn du nun noch einmal auf die Reise sollst? Sollte ich dich wohl ausrüsten können? Kannst du wohl von dieser Reise mir etwas mitbringen, was mir wieder Freude und Interesse in Haus und Herz bringt?« Und unter Tränen und Kämpfen, mit viel Selbstüberwindung schrieb ich an ihrem Leben.

»Amalie Dietrich« brachte, wie das auch früher ihre Gewohnheit gewesen war, gar seltsame Überraschungen aus aller Herren Länder. Es tauchten Menschen und Beziehungen auf, deren Dasein ich nicht geahnt hatte, viele von ihnen waren aber ganz alte Bekannte, deren Wiedererscheinen mir vorkam, als kehrten sie aus einer anderen Welt zurück.

Ich grübelte über unsere Thüringer Verwandten. Ganz wenig nur wußte ich von ihnen, und ich sah keine Möglichkeit, wie ich den Faden finden sollte, der mich mit ihnen verknüpfte. Da kam ich eines Tages in Altona in eine Apotheke. Apotheken übten aber schon von meiner Kindheit her einen eigentümlichen Reiz auf mich aus. Ich wähnte mich allein, und da las ich so halblaut vor mich hin, was an einer Schieblade stand: »Mercurialis.«

Plötzlich kam hinter einem Verschlag der Apotheker hervor, er sah mich etwas erstaunt an und sagte: »Wollen Sie Mercurialis?«

»Nein,« sagte ich, »ich will Vaseline. Aber die Aufschrift erinnerte mich an die Pflanze, die ich in meiner Kindheit so oft gesammelt habe.« Wir kamen nun in ein längeres Gespräch, in dessen Verlauf ich ihm erzählte, wer ich sei, und daß ich als Kind diese Pflanze oft in den Wäldern meiner sächsischen Heimat gesammelt habe.

»Sollte ich dann wohl eine Moossammlung von Ihren Eltern haben?« fragte er lebhaft. Das erregte mich, und ich bat ihn, ob er sie mir mal zeigen wolle.

Er holte sie, aber schon von weitem rief ich: »Nein, das ist nicht unsere Aufmachung.«

»Aber,« sagte der Apotheker, »da steht doch ›Dietrich‹ drauf. Ich nahm sie in die Hand und las: Dr. David Dietrich, Jena. »Ach,« sagte ich, »das ist einer unsrer Verwandten! Lebt der noch?«

»Nein,« sagte der Apotheker, »der ist erst vor kurzem gestorben. Er ist sehr alt geworden.«

Ich sann ein wenig nach, dann fragte ich: »Wer kann mir wohl Auskunft über die Dietrichs geben?«

»Schreiben Sie doch mal an Professor Stahl in Jena, er ist Botaniker, und er wird Ihnen Auskunft geben können.«

Auf meine Vorfrage erhielt ich zur Antwort, daß in Eisenach noch ein sehr altes Fräulein Dietrich lebe, die mit den botanischen Dietrichs zusammenhinge. Sofort fragte ich in Eisenach vor, ob mein Besuch willkommen sei, und nach der freundlichen Zusage reiste ich zu ihr. Fräulein Dietrich war die Tochter von Gottlieb Dietrich, der in seiner Jugend durch botanische Beziehungen mit Goethe in Verbindung gewesen war. Sie war 95 Jahr alt, hatte aber für alles, soweit es die Vergangenheit anbetraf, ein sehr gutes Gedächtnis. Sie erzählte mir viel von Goethe und Herder, die beide in ihrem Vaterhause verkehrt hatten. Von ihr erfuhr ich die Geschichte der botanischen Dietriche bis zurück zu 1688. Sie stellte mir in freundlichster Weise die Bilder, die in ihrem Besitz waren, zur Verfügung. Während meines Aufenthaltes in Eisenach war ich öfters bei ihr. Ich wußte, als ich Abschied von ihr nahm, daß es ein Abschied fürs Leben war. Sie wurde, 97jährig, heimgerufen. Diese Begegnung hatte mir solche Freude gemacht, daß ich den Mut hatte, weiteren Spuren nachzuforschen.

Wie fern lag der Aufenthalt in Bukarest! Hätte ich doch jemanden gehabt, der mir meine Erinnerungen hätte bestätigen können. Ich klagte das einem Freunde aus Lauenburg. »Wenn Sie mal jemanden treffen, der vor langer Zeit in Bukarest gewesen ist, dann geben Sie mir bitte einen Wink.«

Er schüttelte den Kopf und sagte: »Wie sollte ich in Lauenburg zu einer solchen Begegnung kommen? Sie knüpfen auch noch die Bedingung daran, daß es vor langer Zeit gewesen sein muß!«

»Natürlich,« sagte ich, »das Bukarest vor fünfzig Jahren hat doch anders ausgesehen, als das heutige.«

Er nickte lachend.

Schon bald danach erhielt ich einen Brief, in dem er mir die Adresse einer alten Dame mitteilte, »und« – so schrieb er – »sie wohnt in Hamburg, ich habe es Ihnen so bequem wie möglich gemacht.«

Ich besuchte die Dame, und nachdem wir über Bukarest gesprochen hatten, fragte ich sie, ob zu ihrer Zeit wohl ein Pastor Neumeister dagewesen sei.

»Unser guter Pastor Neumeister!« rief sie erfreut, »natürlich! Den kannten wir Deutschen doch alle! Der ist ja ein Menschenleben hindurch in Bukarest gewesen! Der war unser aller Freund und Berater. Sehr befreundet sind wir mit dem gewesen!«

Zaghaft fragte ich: »Er lebt wohl aber nicht mehr?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen! Er ist später mit seiner Familie nach Deutschland gezogen, ich weiß aber nicht wohin.«

Neumeister war nach Deutschland gezogen! Wenn er noch lebte, wie konnte ich ihn ausfindig machen!

Ich sprach darüber mit einer befreundeten Dame, sie stand auf und kam gleich danach mit einem Buche zurück. Auf meinen fragenden Blick sagte sie: »Das ist ein altes Pastorenverzeichnis. Es wäre doch spaßig, wenn wir Ihren Pastor Neumeister darin fänden. Ha, hier ist er! Schmolsien, Pommern!«

Konnte es sein? Ich wagte nicht zu hoffen, schrieb aber sofort an die gefundene Adresse. Schon nach einigen Tagen kam eine Antwort: »Sie suchen meinen Onkel Rudolf, er war viele Jahre in Bukarest. Sie finden ihn fünfundachtzigjährig, in Groß-Salza bei Magdeburg.«

Also wirklich! Er lebte noch und war in erreichbarer Nähe. Auf meine Vorfrage, ob ich ihn besuchen dürfe, kam die denkbar freundlichste Einladung. Mit Kind und Kegel möge ich kommen, sowohl er wie seine Frau würden sich herzlich freuen. Es berühre ihn ganz heimatlich, Beziehungen zu Bukarest zu finden. An dem Hause meines Onkels Nelle sei er ja täglich vorüber gekommen! –

Als die Ferien kamen, ging der Junge nach Bistensee, um sich unter Onkel Hensens Leitung an den ländlichen Arbeiten zu beteiligen. Meine Tochter und ich aber waren Gäste von Pastor Neumeisters, die uns jede nur mögliche Freundlichkeit erwiesen.

Mir aber war es wie ein Traum, daß ich jetzt dem Greise die Hand drücken durfte, dem ich als vierjähriges Kind meinen Knicks gemacht hatte. War mir doch zumute, als wäre ich vor undenklichen Zeiten schon einmal auf der Welt gewesen. Auch hier nahm ich von dem ehrwürdigen Paar Abschied fürs Leben. Die kluge, liebenswürdige Frau Pastorin ist neunzigjährig erst vor kurzem gestorben.

Das Buch wanderte in die Welt. Es kam auch nach Rußland. Das erfuhr ich, als ich eines Tages einen Brief von einem Staatsrat aus Mitau erhielt.

Er schrieb mir, seine Frau sei meine Cousine. Ich erinnerte mich des Paketes und der neun Taler, die mir als Kind von meinem Onkel aus Rußland geschickt waren, und nun entspann sich mit den spät entdeckten Verwandten eine eifrige Korrespondenz, die damit endete, daß wir, meine Tochter und ich, mit einem Frachtdampfer nach Riga fuhren, um mit vieren meiner Cousinen drei Wochen zusammen zu sein. Ich, die ich mein Leben lang von meiner Seite ohne Verwandte gewesen war, ich fand in meinem Alter die fernen Vettern und Cousinen.

Wir waren noch nicht lange wieder von Rußland zurückgekehrt, als mir eines Abends ein Brief mit holländischer Marke gebracht wurde.

Der Inhalt versetzte mich in größtes Staunen, er lautete unter anderem: – – »Ich glaube nicht, daß es in Holland viele Menschen gibt, die sich Frau Dietrichs noch erinnern können. Als ich sie kannte (1862 bis 1863), waren die meisten Personen, mit denen sie zu schaffen hatte (Apotheker und Professoren), keine jungen Leute, und sie sind wohl alle tot, glaube ich. Wenn einige von ihnen vielleicht noch am Leben sind, dann werden sie auch nicht die merkwürdige Frau vergessen haben. Aber mit mir ist es etwas anderes. Es sind nicht die großen Gaben und die Genialität Ihrer Mutter, die es mir angetan haben. Ich hatte Veranlassung, ihr gutes Herz, ihr warmes Gefühl kennen zu lernen; wir hatten nicht nur Bewunderung für Frau Dietrich, sondern ihr Name wurde bei uns nie genannt ohne Dankbarkeit und Liebe. Es war so: Mein Vater war Apotheker in Rotterdam; und er sah bald, daß es sich um etwas Ungewöhnliches handelte, wenn Frau Dietrich mit ihren Herbarien ankam.

Mein älterer Bruder war zweiundzwanzig, er hatte sein Examen als Apotheker schon gemacht und war begeistert für die Botanik. Schon bei der ersten Begegnung mit Ihrer Mutter schienen die beiden einander zu verstehen, und in kurzer Zeit war das eine schöne Freundschaft. Solange Frau Dietrich in Rotterdam verweilte, kam sie fast täglich zu uns.

Mein Bruder war sehr leidend, aber er wollte sie immer sehen und mit ihr sprechen. Dann bat er meine Mutter, Frau Dietrich einzuladen, um mit ihm zu speisen. Er war bald zu schwach, um sein Zimmer zu verlassen, und öfters speisten die zwei dann oben und plauderten über ihre geliebten Pflanzen, und ich kam und ging geräuschlos, um für sie zu servieren, was ich als eine große Ehre empfand. Ich war siebzehn und hatte eine Art Anbetung für meinen Bruder. Dieses freundschaftliche Verhältnis dauerte bis zum Tode meines Bruders. Ich kann mich nicht alles dessen genau erinnern; aber ich glaube, daß Frau Dietrich zweimal in Rotterdam war. Jedenfalls weiß ich ganz gut, daß sie im März 1863 da war und uns erzählte von der Anstellung nach Australien. Wir wußten alle, daß mein Bruder sterben mußte, und daß er seine verehrte Freundin nie wieder sehen würde. Und da hat ihre Mutter sogar ihre Abreise nach Deutschland um einige Tage verschoben, um das Ende abzuwarten, und hat noch Blumen gekauft, um sein Grab zu schmücken. Er starb den 11. März 1863. Er hatte Frau Dietrich noch ein Andenken gegeben, und ich habe es für ihn kaufen müssen. Als Souvenir habe ich noch ein kleines Herbarium in meinem Besitz von verschiedenen Moossorten aus der Schweiz. Wenn ich in Ihrem Buche las, daß es immer die Aufgabe war, jedes Blümchen und Blättchen in derselben Lage zu trocknen, die es in der lebendigen Natur hatte, dachte ich augenblicklich an mein kleines Herbarium. – Aber meine Erzählung ist noch nicht zu Ende. Einmal hat mein Vater noch einen Brief aus Australien bekommen, und 1873, als sie von ihrer großen Reise zurück war, besuchte sie meine Eltern noch in Rotterdam. Ich war nicht mehr da, und hatte eine Anstellung bekommen als Lehrerin der englischen Sprache und Literatur an der höheren Töchterschule in Haarlem, und da hat wirklich Ihre Mutter in ihrer großen Treuherzigkeit und Liebe mich hier besucht. Sie hat mich sogar eingeladen, mit ihr nach Pompeji zu gehen, wohin sie reisen wollte; aber ich konnte dafür keinen Urlaub erhalten. Ich fühlte wohl, daß sie es fragte, dem Andenken meines Bruders zuliebe, aber ich war doch sehr geehrt und glücklich. Nachher habe ich immer bedauert, daß nichts aus der Reise werden konnte. Ihre Adresse in Hamburg hat sie uns leider nicht gegeben, und wir haben nie etwas Näheres gehört.

Meine Eltern sind tot, mein einziger Bruder lebt in Belgien, und seit drei Jahren bin ich hier in Haarlem in den Ruhestand gesetzt.

Die alte, merkwürdige Episode von Frau Dietrich war fast wie ein Märchen geworden, und – da kommt plötzlich eine Freundin und schenkt mir Ihr Buch. Das war wie ein Wetterstrahl! Ich habe das Buch in drei Tagen ausgelesen und lebe nun wieder ganz in der alten Zeit, manche liebe Schatten steigen auf. Das Bild gegenüber dem Titel von Scharff aus Altona, das habe ich auch. – Nach dieser langen Erzählung verstehen Sie, warum ich Ihnen schreiben wollte. – –«

»Cornelia Eshuys« war der Brief unterschrieben. Lange ruhte mein Blick mit tiefer Bewegung auf diesem merkwürdigen Brief. Ich rechnete. Vor fünfzig Jahren erzählte mir die Mutter ihr seltsames Erlebnis, das sie in die Prinzenstraße nach Rotterdam geführt hatte. Ich stand auf und holte mir mein Album, da waren die fünf Bilder, die ich nur auf den ausdrücklichen Wunsch der Mutter aufbewahrt hatte. Wie oft hatte mein Blick fragend auf den fremden Gesichtern geruht, und ich hatte mir gesagt: »Nie im Leben finde ich einen Faden, der mich mit diesen Menschen verbindet.« Und hier lag ein Brief von Cornelia Eshuys, der mir zu meiner Freude auch bestätigte, daß ich das Bild der Mutter so aufgefaßt hatte, wie auch andere es gesehen hatten. Die Photographie zeigte mir ein junges Mädchen, der Brief sprach von einem langen, arbeitsreichen Leben, das nun zur Ruhe gekommen war.

Wer hatte uns, die wir räumlich einander so fern waren, zusammengeführt? Amalie Dietrich! Sinnend blätterte ich weiter im Album. Was für eine bunte Reihe von Bildern zog da an mir vorüber. Wie kam der arme sächsische Bergmann neben den weltbekannten, reichen Hamburger Großkaufmann, der biedere dänische Bauer zu dem gelehrten Forscher? Die brave Krämerfrau zu der distinguierten Weltdame? Meiner Mutter und mein eigener wechselvoller Lebenslauf hatte sie alle auf engem Raum vereinigt. Wollte ich, während ich mich mit ihnen allen beschäftigte, noch einmal den Weg durchs dunkle Tal beschreiten? Bunt war unser beider Leben gewesen. Das Schicksal hatte uns äußerlich und innerlich zeitweise weit auseinandergerissen, es hatte mich aus der sächsischen Dorfkrämerei in das reiche Haus an der Alster, aus dem strohgedeckten Pfarrhaus der nordschleswigschen Heide in das kalte Leben der Großstadt geworfen, es hatte mir den treuen Weggenossen von der Seite gerissen. Bei dem ernsten Rückblick auf mein und meiner Mutter Leben sage ich mit dem Propheten Hesekiel: »Da hob mich der Wind auf, und führete mich weg. Und ich fuhr dahin, und erschrak sehr; aber des Herrn Hand hielt mich fest.«


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