Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Siebenlehn

»Das Lager dieses Städtleins belangend, ist selbiges von seinem ehemaligen Regierungsplatze, dem Kloster Zella, wie auch heutigem königlich und kurfürstlich sächsischem Schlosse und Amtshause Nossen, von jedem nur eine halbe Meile abgelegen. Von seiner Kreys- und Berghauptstadt Freyberg aber eineinhalb Meile, nächst bei der Straße, so durch dessen Feldflur von Nossen her nach Freyberg gehet, gelegen. Mehrere Distantien benachbarter Städte anzuführen, wird nicht nötig sein, weil man von Siebenlehn aus nordwärts durch Nossen, südwärts auf der Freybergischen Straße und westlicher Seite durch den Zellwald ins ganze Land herum kommen kann. – Den Ursprung und Anbau betreffend, rührt selbiger unstreitig von seinen uralten, und weyland wohlschüttenden Bergwerken, die unter die ältesten des Landes zählen. Denn als man in Freyberg zu schürfen anfing, waren die Siebelschen Bergwerke in vollem Flor und hießen damals schon was Altes.

Weil nun die Bergleute gerne zehren des Brotes, Fleisches, Bieres, des Unschlitts zu Schmeer und zu Grubenlichtern, auch des Leders und Eisenwerkes nicht lange entraten können, noch weit danach laufen wollen, haben sich bald etliche Handwerker zu ihnen gesellt und damit denen Bergleuten rechte Lust, das Werk mit Freuden anzugreifen, gemacht.

Dieses achte also vor den ersten Anbau des damals noch ganz öden Platzes und Rodelandes, welchem man folgends den Namen Siebenlehn gegeben hat.

Nämlich, da einer zur selben Zeit eine neue Fundgrube ausgeschürfet und eidlich hat bezeugen können, daß er der erste Fünder derselben gewesen, hat ihm der Bergmeister mit einer Schnur so viel vermessen, daß er sieben Lehen bekommen, welche er alle durch besondere Gruben oder Pingen hat bewältigen müssen. Die sieben Gruben aber hießen:

  1. Der Zimmermannsschacht.
  2. Der Romanus-Erbstollen.
  3. Der kleine Roland.
  4. Der Markus-Erbstollen.
  5. Der Gott allein die Ehre-Erbstollen.
  6. Zur neuen Versorgung Gottes.
  7. Der fröhliche Sonnenblick.

Ob nun wohl sotaner reiche Bergsegen nach und nach geringer geworden, und mit der Zeit fast hat gar verschwinden wollen, so haben doch die Nachkommen deswegen nicht dürfen Hunger leiden, oder ihre altväterlichen Sitze ledig stehen lassen, sondern zu ihrer Nahrung und Hantierung bald andere Gewerbe gefunden, haben sich auch bis dato damit so wohl fortgebracht und in Kunde gesetzt, daß man von Siebenlehn in und außer Landes fast mehr zu reden weiß, als von mancher großen und volkreichen Land-Stadt. Dann haben die Siebenlehner auch für ein sonderbares Glück und Ehre zu achten, daß obgedachtermaßen unterschiedlich hier geborene und erzogene qualifizierte Stadt-Kinder der Kirchen Gottes und gemeinem Wesen zu Dienst in- und außer Landes nützliche Leute worden, und zum Teil in vornehmen Bestallungen gelebt, damit sie diesen ihren Landsleuten mit Rat und Tat auch beförderlich und verträglich sein können.«

 

Wie man sich doch verändert! Wie ängstlich hatte ich während meiner Kindheit das Sattlerhaus in der Niederstadt gemieden, und wenn ich den Mann von weitem sah, war ich ihm eilig aus dem Wege gegangen, hatte ich doch jedesmal Angst, er könne wieder den Lederriemen nehmen und mich so unbarmherzig schlagen.

Und heute?

Heute suchte ich das Haus, heute wollte ich mich mit dem Manne auseinandersetzen. Ich wollte ihm sagen, daß ich ihm verziehen habe.

Auf dem Wege dahin durchwanderte ich im Geiste die ärmlichen Räume. Wie deutlich sah ich sie vor mir! Unauslöschlich hatten sie sich meinem Gedächtnis eingeprägt.

Durch die Wohnstube kam man in die enge, winkelige, dumpfe Werkstätte, die angefüllt war mit Pferdekummeten, zerrissenen Matratzen, durchgesessenen Stühlen und Haufen von verfitzten Haaren, die ich nach der Schulzeit auszuzupfen hatte. O, ich wußte noch ganz genau, wie viel weicher sich Kälber- als Kuhhaare zupfen ließen.

In die Werkstätte war der Backofen gebaut, auf seiner runden Buchtung lagen Bretter, worauf die Lederreste lagen, der Sattler hob mich manchmal hinauf, damit ich aufräume und das Leder sortiere, gewisse Abfälle nannte er Leimleder, die mußte ich in einen besonderen Beutel sammeln. – Zwischen Backofen und Wand war ein schmaler Gang, da war auf der Diele mein Lager hergerichtet. Diese Schlafstelle behielt ich aber nur so lange, bis die Ferkel kamen, die vertrieben mich. Der Mann sagte: »Die müssen's warm haben, das Mädel kommt auf den Boden.«

Der weite, dunkle Boden aber hatte mir große Furcht eingeflößt, und mir war's in der Erinnerung, als hätte ich Nächte hindurch nach der Mutter geweint und mich in Sehnsucht nach ihr verzehrt.

Ich hatte ihr laut mein Leid geklagt und ihr heilig und teuer versprochen, immer gut zu sein, wenn sie nur kommen und nie wieder von mir gehen wollte.

Wie hatte ich diese Versprechungen gehalten? – ! Unter diesen Gedanken und Erinnerungen hatte ich die Stätte erreicht. Ich sah mich um, aber was war das? Hier stand ja gar kein Haus, – nichts stand da, ich befand mich vor einem leeren Platz, der etwa den nächsten Häusern als Bleichplatz dienen konnte.

Ich hatte in aller Stille hingehen wollen, jetzt aber mußte ich fragen, wo Sattler Triebel wohnte. – Der Mann, den ich fragte, sah mich erstaunt an und sagte nach einer Pause: »Wen suchen Sie? Den Sattler Triebel? Der is lange tot, seine Frau wohnt an der Nossener Straße.« Er beschrieb mir das Haus, und ich wanderte in tiefen Gedanken dahin. Für ihn kam ich zu spät.

Als ich das dürftige Stübchen betrat, schlug mir ein beißender Qualm entgegen, so, als ob man nasses Holz verbrenne.

Durch den Qualm hindurch entdecke ich am Fenster eine alte Frau, die mir bei meinem Eintritt erstaunt das Gesicht zuwendet.

»Guten Tag!« sage ich hustend, »sind Sie Frau Triebel? Sie erlauben wohl, daß ich das Fenster öffne. Draußen ist so herrliche Luft, lassen Sie sie herein! Bei der Wärme haben Sie noch eingeheizt?«

Auf dem Gesicht der Frau malt sich maßloses Staunen, daß ich so eigenmächtig über ihren Qualm verfüge.

»Nu,« sagt sie gereizt: »'s Holz muß naß sin, ich hab' mersch erscht heite aus 'm Zellwalde geholt.«

»Aber weshalb heizen Sie denn bei dem warmen Wetter noch ein?«

»Nu,« sagt sie ärgerlich, »wie sull ich'n sunst mei bissel Wassersuppe kriegen! Mieze, runter da, laß die Dame sitzen.«

Sie nimmt ein Bündel alter Kleidungsstücke, auf denen die Katze gesessen hatte, fort, deutet auf den Stuhl und nimmt mir gegenüber Platz.

Wir sehen einander forschend ins Gesicht, wir sind einander ganz fremd, keine findet in der anderen auch nur die entferntesten Spuren einstiger Bekanntschaft.

Endlich sagt die Frau mit einer leisen Verstimmung im Ton: »Ich kann mich doch gar ni besinnen, daß ich Ihnen schon gesehen hab'? – ! Wem sein Se denn eegentlich, un was wollen Se denn bei mir? Se sein gewiß im Errtum un woll'n gar ni zu mir!«

»Nein, Frau Triebel,« sage ich ernst, »ich bin nicht im Irrtum! Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, fällt es Ihnen wohl ein, daß Sie mich gekannt haben. Es ist allerdings lange, sehr lange her!«

Die Alte sieht mich prüfend an und schüttelt den Kopf, dann sagt sie sehr entschieden: »Nee, ich kann mich gar ni besinnen.«

»Erinnern Sie sich wohl, daß Sie vor langen Jahren einmal ein Kind vom Forsthof bei sich hatten?«

Die Alte sieht mich starr an, dann sagt sie langsam: »Nu – freili – besinn' ich mich – das war doch die von Dietrichs, de kleene Char–e–das?«

Ich nicke. »Die bin ich.«

»Ä! Is'n wahr?! Sie wär'n de kleene Char–e–das?!«

Ich nickte wieder. Die Alte seufzte tief, ließ den Kopf auf die Brust sinken, schloß die Augen und sagte leise: »Weihnachten! Ach Gott, das Weihnachten! Ja, ja, er war garscht'g zu dir, sehr garscht'g! Und's war doch der David gewest!«

»Was?«, rief ich lebhaft, »der David?! So ist es also doch noch herausgekommen? Und das erfahre ich erst heute? Nach vierzig Jahren? – !«

»Ich selber hab'n zum Geständnis gebracht! Wie Hab' ich meinen Mann gebitt', er soll doch zu dir uf'n Forschthof gehn und's dir mit dem David sagen, aber er hat mich ausgelacht un gesagt: en Kinde tut man doch keene Abbitte! Ich hab's gar ni verwinden können. Viele Weihnachten nachher hab' ich egal an dich denken müssen. – Ja, siehste, nu kann er nischt mehr gutmachen!«

Sie stützte den wackelnden Kopf in die verschrumpelten Hände und sann lange nach, dann sagte sie seufzend: »Ach, du lieber Gott, er hat e schweres Ende gehatt!«

Ich drückte ihr zum Abschied die Hand und ging, in ernste Gedanken versunken, um weitere Beziehungen aus ferner Vergangenheit aufzusuchen.

Schließlich fragte ich nach den beiden Sparmanns. Man wies mich in ein Hinterhaus. Ich fand nur noch den großen, der kleine war vor kurzem gestorben. Trotz der mancherlei Veränderungen, die auch hier während der vierzig Jahre vor sich gegangen waren, fand ich auf der Kommode, auf demselben Platz wie vordem, das Buch von der Christenverfolgung. Wie sonderbar, daß meine alten Augen wieder auf den grellbunten Bildern ruhten!

Wir sprachen auch hier von alten Zeiten, von dem Besuch der beiden in Hamburg, und der große Sparmann konnte sich nicht genug wundern, daß auf der schönen Lombardsbrücke keine Windmühle mehr steht, daß alle paar Minuten der Eisenbahnzug darüber rasselt.

»Das kann nicht mehr schön sein,« meinte er, »ich bin froh, daß ich mit dem kleinen Ernst noch in aller Ruhe auf die schöne Alster sehen konnte.« Wir trennten uns, und ich suchte den Kleinen auf dem Gottesacker.


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