Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Frühe Erinnerungen

Charitas in Eisenach

Aus meiner frühesten Kindheit hebt sich ein Ereignis ab, das sich mir, trotz der langen Jahre, die dazwischen liegen, in seinen einzelnen Zügen unverwischbar eingeprägt hat. Ich war drei Jahre alt, da lief ich durch alle Räume unserer Wohnung, ich suchte meine Mutter. Es war gar niemand in den Zimmern, diese ungewohnte Leere machte mich bange, und ich ging suchend in die Wohnung der Großeltern, die mit in demselben Hause war. Die Tür war nur angelehnt, ich stieß sie auf, aber ich erschrak, ich stand vor etwas ganz Wunderbarem. – Gerade vor mir war ein hoher Aufbau, der ganz mit Blumen und Kränzen bedeckt war. Kerzen brannten und warfen ihren ruhigen Schein auf etwas Weißes, Helles. Undeutlich sah ich ein stilles, blasses Gesicht. Hier standen unter vielen, vielen Leuten auch Vater und Mutter. Am oberen Ende sah ich einen Mann allein stehen, der Mann sah anders aus als die andern Leute, durch sein langes, fremdartiges, schwarzes Gewand flößte er mir Furcht ein, aber als mein Blick wieder auf die vielen schönen Blumen fiel, da griff ich mit lautem Jauchzen in die bunte Fülle und riß einen Kranz mit schöner, weißer Schleife herunter. Niemand hatte mich bis dahin bemerkt, da die Blicke aller auf das obere Ende des Aufbaus gerichtet waren, erst jetzt, als ich mich durch meine Freude bemerkbar machte, drehten sich alle mit unwilligen Blicken zu mir, und die Mutter faßte mich sehr unsanft am Arm, nahm mir den Kranz aus der Hand, gab mir einen Klaps, schob mich zur Tür hinaus und sagte zürnend mit gedämpfter Stimme: »Du solltest doch drüben bleiben! Gleich geh, und komm nicht wieder hierher!« Ich setzte mich weinend auf ein Holzschemelchen, eine große Bangigkeit und Furcht kam über mich. Ich wunderte mich, daß ich von den vielen Kränzen nicht einen zum Spielen haben durfte. Wo mochte nur die Großmutter sein? Ich hatte sie solange nicht gesehen, und immer, wenn ich nach ihr fragte, sagte die Mutter:

»Sie schläft.«

 

Von da an wird's eine Weile dunkel im Gedächtnis. Es wird erst wieder hell, als ich eines Morgens von »Tante Klärchen«, einer Freundin meiner Mutter, aus dem Schlaf geweckt werde.

Ganz sanft und liebreich streichelte sie mein Gesicht und sagte: »Komm nun, mein Täschen, steh auf, ich zieh' dich an. So, laß uns ganz schnell machen, du mußt noch deine Suppe essen. Komm, ja, du bist noch so müde, aber es hilft nichts.«

Ich sah sie mit dem kleinen blechernen Öllämpchen vor mir, das sie nun auf den Stuhl stellte. Ich wollte nach der Mutter rufen, aber die Tante legte mir ihre Hand auf den Mund und sagte in leisem Flüsterton: »So, Täschen, sei nun ganz still, und tu, was ich dir sage! Deine Mutter bleibt bei dir, hab nur keine Angst, aber jetzt laß sie ganz in Ruh, ruf sie nicht, sprich auch nicht mit ihr, du störst sie.« Da befiel mich eine große Angst, war doch alles so anders als sonst, wenn ich aufstand: ich hätte so gern gerufen, ich hatte so viel zu fragen, aber als ich in das ernste Gesicht von Tante Klärchen sah, schwieg ich beklommen und tat, was sie verlangte. Die Mutter huschte geschäftig mit einem ebensolchen Lämpchen aus einer Stube in die andere, machte ab und zu eine kurze Bemerkung zur Tante, und als ich die Brotsuppe gegessen hatte, hing mir die Tante einen ansehnlichen, bunten Kattunbeutel um, band mir ein wollenes Kopftuch und ein größeres Tuch um die Schultern, steckte in den Beutel ein kleines Gelenkpüppchen, einen bunten Lederball und ein eingewickeltes Butterbrot. Dann hing sie mir eine kleine Botanisiertrommel um, in der sich, wie ich später merkte, Strümpfe und Taschentücher befanden. Die kleine vermummte Gestalt muß etwas Unförmliches und Komisches gehabt haben, denn als mich die Tante vom Stuhl auf den Fußboden gestellt hatte, schlug sie leise lachend die Hände ineinander, als ich aber mit lachen wollte, legte sie mir wieder ihre Hand auf den Mund und sagte: »Pst! Ganz hübsch still sein, Mutter mag es heute nicht.«

Nun kam die Mutter, sie war bleich und ernst. Sie hatte ihre dick wattierte Jacke an und um den Kopf ein wollenes Tuch gebunden. In der Hand trug sie eine Tasche aus grobem Segeltuch. Die beiden Blechlämpchen wurden gelöscht, die Tante nahm mich auf den Arm, die Mutter schloß die Tür und gab der Tante den Schlüssel.

»Laß doch das große Mädchen laufen,« sagte die Mutter mit müder Stimme.

»Ja, gleich Malchen, es ist aber noch so finster, und sie ist in ihren Tüchern so unbeholfen, daß sie auf der Treppe leicht fallen könnte.«

Als wir das Haus verlassen hatten und den Hügel, auf dem der Forsthof stand, hinabgestiegen waren, befanden wir uns auf der breiten Chaussee. Wir gingen im Morgengrauen einen weiten, weiten Weg, so erschien es mir jedenfalls. Riesengroß reckten die kräftigen Pappeln ihre dunklen Wipfel in den kalten, nebligen Novembermorgen. Wie eine schwarze Wand dehnte sich linker Hand der Zellwald neben uns. Ich taumelte verschlafen zwischen Mutter und Tante, beide hatten mich angefaßt, die Mutter sagte: »Wach' doch auf, sonst fällst du noch über deine eigenen Füße!« Da hob mich die Tante mitleidig auf und trug mich eine Strecke, zwischendurch kam ich auch auf den Arm der Mutter, und als wir endlich an Häuser kamen, da mußte ich auch mal wieder laufen. Endlich hatte sich ein grauer, trüber Tag durch den nächtlichen Nebel hindurch gekämpft, wir hatten die Nachbarstadt erreicht und wanderten durch stille, verschlafene Gassen in einen geräumigen Hof, wo ein großer, gelber Wagen stand, dahinein hob mich meine Mutter, setzte mich in die hinterste Ecke und sagte: »So, mein Täschen, hier darfst du weiter schlafen. Sitz nun ganz still, daß du mir nicht von der Bank fällst.«

Nun es aber Tag war, saß ich nicht gern still, alles war so anders, als was ich bis dahin erlebt hatte. Die neue Umgebung reizte meine Neugier, ich drückte das Gesicht gegen das Fenster, und sah mit Staunen, wie ein ganz fremder Mann gleichgültig und verschlafen heran schlurrte. Er warf einen Blick in den Wagen, holte die Pferde und spannte an. Ich war noch nie gefahren und sah dem neuen Erlebnis mit fieberhafter Spannung entgegen. Die beiden Frauen hatten bis jetzt draußen gestanden, nun nahm die Mutter an meiner Seite Platz, und Tante Klärchen drückte mich mit stürmischer Liebe in die Arme und sagte laut weinend: »Ach, du armes, gutes, kleines Täschen! Dich seh' ich ja nun in meinem ganzen Leben nie wieder!«

Da fing ich auch an zu weinen, schlang meine Arme fest um ihren Nacken und bat flehentlich: »Liebe Tante, geh doch nicht fort, bleib doch bei uns!«

Da knallte der Fuhrmann, die Tante eilte hinaus, und der schwerfällige Wagen rummelte über den Hof durch die Neugasse, und die Tante lief winkend hinterher, bis der Weg sich senkte, da konnte sie nicht Schritt halten, und als der Wagen um den Schloßberg bog, da war sie unsern Blicken entschwunden.

»Mutter«, fragte ich, »was tun wir?«

»Wir reisen.«

»Zum Vater?«

»Nein, zum Onkel Karl.«

»Wo wohnt der?«

»Weit, weit weg, ganz in der Walachei.«

Ich lachte, da ich meinte, die Mutter macht Spaß mit mir. Sie sagte nach einer Weile: »Versuch doch zu schlafen, du bist doch gewiß müde.«

Nein, ich war gar nicht müde, es gab so viel Neues zu sehen. Ich wunderte mich, wie weit wir doch vom Forsthof weg fuhren. Immer fuhren wir auf der einsamen Chaussee vorwärts, durch weite, öde Felder und durch stille Dörfer.

Mir war zumute, als müßte ich nun mein lebelang in dem großen Wagen durch die weite, weite Welt fahren.

Dann bin ich doch endlich eingeschlafen. Ich erwachte erst, als der Wagen still stand.

»Komm,« sagte die Mutter, »steig aus!«

»Sind wir nun in der Walachei?«

»Ach bewahre!« sagte die Mutter, »jetzt sind wir in Dresden, nun geht die eigentliche Reise erst los!«

 

Wir sind in Bukarest. Ich stehe auf einem Stuhl, Onkel Karl und Tante Leanka stehen vor mir. Die Mutter sitzt mit einer Näharbeit im Hintergrunde der Stube. Die Tante hat mich geputzt. Ich habe ein leuchtendes blaues Kleidchen an, kurzärmelig, am Hals ausgeschnitten. Die Tante legt mir ein Kettchen um den Hals, sie tritt ein paar Schritte zurück und ruft entzückt: »Zu niedlich! Karl, sie ist gar nicht mehr dieselbe! Sieh nur, wie ihr das Blau gut steht. Süß sieht sie aus, nicht wahr, Karl?«

Der Onkel nimmt mich lachend in die Arme, küßt und drückt mich, so daß ich halb vor Freude, halb vor Schmerz quieke, dann kommt die Tante und setzt die Liebkosungen fort.

»Malchen,« wendet sie sich an die Mutter, »du sitzest da, als ginge dich das Kind nichts an, was sagst denn du dazu?«

Die Mutter stimmt nicht ein, sie schüttelt ärgerlich den Kopf und sagt: »Ihr macht einen schönen Affen aus dem Kind! Und wenn ihr sie nun verdorben habt, was dann? Wer soll sie dann wieder in Ordnung kriegen?«

»Du bist ein altmodischer Sauertopf,« schilt die Tante, »als ob sie durch ein hübsches Kleid verdorben würde! Da müßten viel Leute verderben. Jetzt ist sie unser Kind. Du hast es selbst gesagt, als du kamst. Nicht wahr, Sophie, du bist Onkels und Tantes Kind?«

Ich fühlte mich gedrückt. War die Mutter böse auf mich? Es war so schade, ich hätte mich so gern recht laut mitgefreut, aber ich fühlte, die Mutter war böse geworden. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Warum war die Mutter immer andrer Meinung als die anderen? Nicht einmal über meinen Namen waren sie sich einig. Von der Mutter wurde ich »Charitas« oder »Täschen«, von Onkel und Tante »Sophie« genannt. Ich bekam von den beiden, was ich mir nur wünschte, und die Wünsche wuchsen, je mehr sie erfüllt wurden. Außer schönen Kleidern bekam ich reichlich Spielzeug. Mein besonderes Entzücken war eine große Puppe.

Hinter dem Hause war ein Garten. War das eine Lust! Der Onkel konnte sich gar nicht genug tun, er baute mir eine Hütte, stellte Tisch und Bank hinein, und oft hing er an die Sträucher Früchte, gerade so hoch, daß ich sie selbst pflücken konnte. Er schenkte mir einen Spaten und eine Harke und wies mir ein großes Stück Land an, mit dem ich tun durfte, was ich wollte, wenn ich ihn aber um Rat fragte, dann belehrte er mich und half mir zurecht. So vergingen für mich die Tage in Freude und Glück, und kein Wölkchen hätte mir den Himmel getrübt, wenn ich nicht oft das Gefühl gehabt hätte, daß die Mutter nicht so glücklich war, wie ich selbst. Auch Kinder durfte ich bei mir sehen. Da ich sie zu meinem Glück sehr nötig hatte, so ging ich oft auf die Straße und zog mir ein halb nacktes Walachenkind herein. Wir konnten einander nicht verstehen und meinten dann beide, lautes Schreien müsse das Verständnis vermitteln, als ich aber merkte, daß uns das nicht vorwärts brachte, verlegte ich mich aufs Aufpassen und Lernen. Onkel und Tante lachten über meine Sprachstudien. Maritza, das Mädchen, röstete uns Maiskolben, da saß ich mit den Walachischen Kindern, und wir puhlten an dem »Kukuruz«. Es kamen aber auch deutsche Kinder, und ich erinnere mich eines größeren Mädchens, das Adele hieß, und dessen Geschicklichkeit ich sehr bewunderte, sie konnte aus Kartenblättern alles mögliche falten und ausschneiden, sie machte mir Schlitten und setzte Papierpuppen hinein, dann jauchzte ich vor Vergnügen. Wenn es regnete, spielte der Onkel mit uns im Laden, Adele mußte in die Stube, und der Onkel versteckte mich. Er hob mich hoch hinauf in den Schrank und schob mich hinter ein großes Lederbündel, oder er versteckte mich unterm Ladentisch. Welche Aufregung für uns alle, wenn mich Adele endlich fand. –

Wenn deutsche Kunden kamen, rief mich der Onkel und sagte stolz: »Sehen Sie, das ist unser Kind, sie heißt Sophie!«

Eines Tages nahm die Mutter Abschied von uns. Sie war sehr traurig, nahm mich in die Arme, küßte mich und ermahnte mich, recht artig zu sein, sie hoffte nur Gutes von mir zu hören, wenn sie mal wieder käme. Ich fragte, wohin sie ginge, da sagte sie: »Ich gehe weit fort, nach Siebenbürgen.«

Ich sehnte mich wohl nach der Mutter, aber ich hatte es so gut, daß ich mich bald gewöhnte. Nachdem die Mutter fort war, kam oft ein großer, stattlicher Herr, der mich immer zu sich rief und jedesmal sehr freundlich mit mir sprach, das war der deutsche Pastor Neumeister. Wenn er draußen vorüber ging, lief ich ihm voller Freude nach und war glücklich, wenn er mir die Hand gab. Sein Bild hat sich meinem Herzen unauslöschlich eingeprägt.

Nach langer, langer Zeit kam eines Tages die Mutter wieder. Ich mußte sie immer ansehen, sie kam mir so fremd vor, sie sah jünger und wohler aus, und mir schien, sie war vergnügter und gesprächiger. Nachdem sie eines Tages eine erregte Aussprache mit Onkel und Tante gehabt hatte, nahm sie mich auf den Schoß, küßte mich und sagte: »Weißt du was, Täschen? In ein paar Tagen reisen wir!«

Ich erschrak und fragte: »Willst du wieder nach Siebenbürgen, und soll ich mit dahin? Laß mich doch hier beim Onkel!«

Sie lachte und sagte: »Nein, nicht nach Siebenbürgen, nach Siebenlehn wollen wir. Weißt du, nach Sachsen, auf den Forsthof, zum Vater.«

Ich weinte und erklärte, ich wolle lieber hier bleiben.

Nicht lange danach reisten wir wirklich ab. Wir fuhren diesmal nicht auf der Donau, sondern benutzten die Bahn. Onkel und Tante brachten uns an die Bahn, wir nahmen alle bewegt Abschied voneinander, ich hörte, wie der Onkel traurig sagte: »Ein Abschied fürs Leben!« Die Tante sagte: »Das wirst du bitter bereuen!« Die Mutter dankte sehr warm für alles, und dann noch ein letztes Winken aus dem Zug, und wir schieden auf Nimmerwiedersehen. –

Wir waren lange still und weinten, dann aber versuchte die Mutter während der Reise meine Erinnerungen an die sächsische Heimat aufzufrischen. »Wir gehen zum Vater,« sagte sie, »kannst du dich noch auf den Vater besinnen? Kannst du dich denn noch auf unsere Stuben besinnen? Auf die vielen Pflanzenpakete? Weißt du denn nicht mehr, daß wir viele schöne Käfer und Schmetterlinge hatten, und Schlangen und Eidechsen? Und erinnerst du dich denn nicht an Tante Klärchen?« Ja, ja, ihrer erinnerte ich mich. »Ich seh' sie nie wieder,« sagte ich fest.

»Doch!« rief die Mutter lebhaft, »du siehst sie wieder, und schon recht bald.«

Immer erzählte mir die Mutter vom Vater, sie sagte, er sei sehr klug, sehr fleißig. Da fragte ich: »Hat er mich so lieb wie Onkel Karl? Kann er so schön mit mir spielen?«

»Dazu hat er keine Zeit,« sagte die Mutter, »aber wenn du ihn recht lieb hast, dann erzählt er dir viel Schönes von Tieren und Pflanzen.«

Als wir in Dresden wieder in den großen Wochenwagen stiegen, da kam mir mit einemmal die Erinnerung, daß ich das schon einmal erlebt hatte. Und als wir am nächsten Morgen wieder den Weg auf der Chaussee zurücklegten, als ich wieder im Morgengrauen die Pappelallee sah und an der Hand der Mutter nun auf Siebenlehn zuschritt, da war mir ganz sonderbar zumute, so als hätte ich das alles geträumt, nur Tante Klärchen fehlte in dem Bilde, und wir machten den Weg in entgegengesetzter Richtung. Wir erstiegen den Hügel und standen nun vor dem Hause, dem Forsthof. Als wir die weitläufige Diele betraten, saß die Hauswirtin mit ihrem Mädchen da und schälte Obst. Frau Claus ließ bei unserm Anblick vor Überraschung Äpfel und Messer fallen, sie fuhr in die Höhe, sah uns beide mit vorgestrecktem Kopf an und rief in höchster Erregung: »Mein Gott, ist es denn möglich, sind Sie es denn wirklich, Frau Dietrich! Und das ist die kleine Charitas! Aber wie haben Sie sich beide herausgemacht.«

Die Mutter richtete flüchtig ein paar kurze Fragen an die Frau, die sie flüsternd und eifrig beantwortete, dann stiegen wir die Treppe hinan. Vor der Tür machte die Mutter einen Augenblick halt, sie ließ ihre Blicke an mir und an sich selbst prüfend herunter gleiten, dann sagte sie leise mit unterdrückter Erregung: »Gib Vater die Hand und einen Kuß und sei recht lieb!«

Erwartungsvoll folgte ich der Mutter. An einem großen, grünen Tisch saß ein Herr, der schrieb. Bei unserm Kommen drehte er sich um. Großes Staunen malte sich auf dem seinen, blassen Gesicht. Die Mutter setzte die Tasche hin, ging mit ausgestreckten Händen zum Vater und sagte feierlich: »Wilhelm, da sind wir wieder!«

Ich hielt auch mein Händchen hin und fühlte einen Kuß auf meiner Stirn.

Nachdem Vater und Mutter einige Worte gewechselt hatten, gingen sie in das Nebenzimmer. Ich sah mich um, zog mir einen Stuhl an das Fenster und blickte lange durch die Gasse auf den kleinen, stillen Marktplatz des Städtchens. Ach, welch anderes Bild bot sich mir hier, als aus dem Ladenfenster des Onkels in Bukarest!

Als wir in der Dämmerung zu Tante Klärchen gehen wollten, hörten wir, daß die Familie seit kurzem nach Dresden gezogen sei. Das bedauerte die Mutter lebhaft. Nun gingen wir zum Großvater. Er saß allein in einer kleinen, dürftigen Stube. Als er sah, wer wir waren, war er sprachlos vor Staunen. Nachdem wir ihm beide die Hand gereicht hatten, bestellte die Mutter Grüße von Onkel und Tante. Der Großvater ging langsam an die Kommode und zündete die hochbeinige, blecherne Öllampe an. Nun erst konnte ich ihn recht sehen. Er war ein langer, hagerer Mann, der von der Last des Alters vornüber gebeugt ging. Sein faltiges Gesicht war mit grauen Bartstoppeln bedeckt, und nur ein dünner Kranz grauen Haares zog sich um den Hinterkopf. Wir setzten uns an den Tisch, er sah mit leisem Kopfschütteln von einer zur andern. Ein Weilchen hörte ich der lebhaften Erzählung zu, dann aber bat ich flüsternd die Mutter um Spielzeug. »Was will sie?« fragte der Großvater verwundert, »Spielzeug? Mußt du denn gleich Spielzeug haben? Die scheint aber da unten schön verwöhnt zu sein. Wie soll ich wohl zu Spielzeug kommen? Na warte – –« er zog die Tischschublade auf und reichte mir ein Bund Spielkarten.

»Mutter, gib mir bitte auch eine Schere.«

»Eine Schere? Wozu will sie die denn?« fragte er verwundert.

»Daraus will ich mir etwas schneiden, so wie Adele in Bukarest.«

»I das wär' noch besser! Meine schönen Karten wolltest du mir zerschneiden? Die sind für dich zum Ansehen, nicht zum Ruinieren!«

Nun baute ich Kartenhäuser und war eine Weile ganz in Anspruch genommen, so daß ich nicht auf die Reden der beiden achtete. Da hörte ich das Wort: »Wien.« Lebhaft rief ich dazwischen: »Großvater, ich bin auch in Wien gewesen – und in Pest – und in Bukarest, da wohnt der gute Onkel – und Pastor Neumeister – und – –«

»Ja, ja,« sagte die Mutter ungeduldig abwehrend: »Das wissen wir doch, nun spiel' du nur, und red uns nicht dazwischen.«

Der Großvater sah mich vorwurfsvoll an, und die Mutter sagte: »Ja, wie ich sagte, wir haben schon gleich Pläne geschmiedet, und da meint eben Wilhelm, daß wir in allernächster Zeit eine Reise nach Wien machen wollen.«

Da der Großvater schwieg, fuhr die Mutter seufzend fort: »Vater, du kannst dir ja wohl denken, was für mich die Hauptschwierigkeit dabei ist. Wohin soll ich denn mit dem Kinde?«

Ich rief wieder lebhaft dazwischen: »Mutter, ich geh' wieder mit, und dann fahren wir wieder auf dem großen Wasser, bis wir beim Onkel sind. Ja, Mutter, morgen wollen wir gleich gehen!«

Der Großvater sah mich streng an und sagte: »Seit wann haben denn die Kinder das Wort?«, dann zur Mutter gewandt: »Du denkst doch nicht, daß ich sie nehmen kann? Ja, wenn die Mutter noch lebte, die hatte ja auch ihren Narren an der Kleinen gefressen. Eine Frau weiß ja auch mit Kindern umzugehen. Ich bin alt, ich möchte endlich meine Ruhe haben. Was sollte ich Wohl mit einem so verwöhnten Kind anfangen? Meine Haushälterin muß noch mit verdienen, die ist fast den ganzen Tag vom Hause, arbeitet bei andern Leuten. Was sollte ich mit dem Kinde, das sag' mir mal! Der Karl schickt mir ja, aber es sind teure Zeiten! Hier fliegen uns die gebratenen Tauben nicht in den Mund. Das kommt wieder von deinem unüberlegten Handeln! Wenn die doch das Kind haben wollten, weshalb hast du es ihnen denn nicht gelassen? Da sitzt du nun wieder und weißt nicht wo aus noch ein, und dann sollen andere dir helfen. Um Rat fragen tust du niemanden, und dann geht alles verkehrt aus.«

Die Mutter war sehr rot geworden, sie stand auf und sagte kurz: »Sag' Großvater gute Nacht, und komm.«

»Laß doch deinen Mann allein reisen, und bleib du zu Hause, es ist doch früher auch ohne dich gegangen. Mag er doch wieder einen Burschen zum Tragen mitnehmen.«

Hierauf antwortete die Mutter nicht, sagte kurz »gute Nacht« und ging mit mir nach Hause. Unterwegs sah ich, wie sie sich öfter die Augen wischte. Plötzlich nahm sie mich in die Arme und sagte erregt: »Hast du mich recht lieb?«

»Ja,« sagte ich beteuernd: »Ich hab' dich ganz furchtbar lieb. Wein' nicht, ich geh auch mit dir nach Wien. Hier mag ich gar nicht sein, ich kenne sie alle nicht. Wir gehen wieder zum Onkel und zur Tante!«

Die Mutter nahm seufzend meine Hand und ging schweigend mit mir nach Hause.

Mit Staunen sah ich in der nächsten Zeit dem Treiben der Eltern zu. Von einer fieberhaften Geschäftigkeit waren beide beseelt. Der Vater kletterte beständig an den hohen Gestellen empor, die alle Wände bedeckten und sich bis zur Decke erstreckten. Er holte die dickbauchigen Pflanzenpakete herunter, die Mutter suchte aus, ordnete die Pflanzen auf weißem Papier, suchte die Etiketten dafür und richtete dann und wann eine Frage an den Vater, die dieser prompt und kurz beantwortete. – Aber auch aus den Nebenräumen wurden eine Menge wunderbarer Dinge herbeigeholt. Aus Glaskästen wurden Käfer und Schmetterlinge und aus flachen Schubladen wurden Steine ausgesucht. Wie hübsch waren die! So sorgsam lagen sie in Watte verpackt in ihren blauen Pappkästen. Wie sie funkelten, und was für hübsche Jacken und Spitzen sie hatten! Jeder Gegenstand war mit einem zierlichen Zettel versehen. Ich hatte eine traumhafte Erinnerung, als hätte ich das alles schon einmal gesehen. Ganz besonderen Spaß machten mir die großen Klumpen Quecksilber, die in den Käfer- und Schmetterlingskästen ruhelos herum irrten. Bei der geringsten Bewegung gerieten sie in große Aufregung, hastig durcheilten sie die Kästen, und was mir ganz wunderbar vorkam, jeden Augenblick, wenn der Kasten bewegt wurde, veränderten sie ihre Gestalt, sie teilten sich in unzählige kleine, glänzende Pünktchen, um bei einer erneuten Bewegung sich wieder in geheimnisvoller Weise zu einem einzigen großen Klumpen zu vereinigen.

»Mutter,« flüsterte ich erregt, »sind das lebendige Tiere?«

»Nein,« sagte der Vater, »aber ganz kleine Tiere wollen gern in die Kästen kommen und die Käfer und Schmetterlinge anfressen, aber das Quecksilber leidet es nicht.«

Die Mutter hatte mir einen hohen hölzernen Schemel auf die Bank gestellt, da saß ich nun vor dem großen Tisch und konnte alles übersehen, aber wenn ich recht lustig und geschwätzig wurde, dann drehte die Mutter sich an ihrem Tisch um und machte mir lebhaft Zeichen, daß ich still sein müsse, oder sie sagte: »Besieh dir dein Bilderbuch, und störe uns nicht.«

Wenn aber der Vater in der Nebenstube beschäftigt war, dann galt die Mahnung nicht, das fühlte ich bald heraus und fing nun nach Herzenslust an zu plaudern und zu fragen. Die Mutter ging dann auch geduldig auf alles ein. Mit meinen Gedanken lebte ich noch ganz in Bukarest, und beständig stellte ich Vergleiche an. Ach, wie ganz anders war doch alles beim Onkel gewesen als hier. Da wurde doch nicht in der Wohnstube gearbeitet, dazu war doch die Werkstätte, wo Gesellen und Lehrjungen unter der Aufsicht des Onkels arbeiteten. Der Onkel hatte mich manchmal dahin mitgenommen, da war es aber nicht so ernst und streng gewesen, da wurde Spaß gemacht. Ich lachte immer darüber, wie der Schlesier sprach, und ich machte es ihm nach, und dann wurde der Onkel so lustig und sagte: »Sophie, wie macht der Schlesier?«

Wie schön hatte ich da mit bunten Lederlappen gespielt, und wenn ich einen Ball oder ein Paar Schuhe für die Puppe haben wollte, gleich wurde es mir gemacht. Und viel hübscher war die Stube gewesen, da hingen so schöne, bunte Bilder in breiten, glänzenden Rahmen, Heilige hatte die Tante sie genannt, und sie hatte mir so wunderschöne Geschichten von ihnen erzählt. Hinten in der Ecke, da hing der Heiland am goldnen Kreuz und immer brannte ein rotes Lämpchen davor, was an seinen goldnen Ketten von der Decke herabhing. Wie schön waren die Möbel, ein weicher Diwan war da gewesen, hier hatten wir nur die harte Holzbank. Und wir alle gingen da so hübsch angezogen. Ach, und wenn ich vom Laden aus auf die Straße geschaut hatte, was hatte ich da alles gesehen! Nicht weg finden konnte ich vom Fenster.

»Mutter,« sagte ich jetzt in wehmütigem Andenken an die Zeit, »wann gehen wir wieder nach Bukarest?«

Die Mutter schüttelte energisch den Kopf und sagte: »Nie!«

»Nie?! Ach, Mutter!« rief ich weinerlich, »warum denn nicht! Ich möchte viel lieber in Bukarest sein, da durfte ich immer so schön spielen, hier soll ich immer still sein. Warum hast du denn dein hübsches Zeug nicht mehr an?«

»Das habe ich weg geschlossen.«

»Warum denn? Magst du gar keine schönen Kleider anhaben?«

»Ich muß sehr fleißig sein, da passen diese besser.«

»Warum mußt du so fleißig sein?«

»Weil wir arm sind und verdienen müssen.«

»Aber ich bin doch nicht arm, ich habe doch noch mein schönes Kleid an.«

»Nun, da freu dich, so lang wie's dauert.«

»Ist der Onkel auch arm?«

»Nein, der ist reich.«

»Warum haben wir hier keine Werkstätte?«

»Ach, du fragst auch! Weil der Vater kein Handschuhmacher ist.«

»Was ist er denn?«

»Ein Naturforscher.«

»Nicht wahr, Mutter, »in Handschuhmacher ist doch etwas viel Besseres als ein Na–tur–forscher.« »Nein, o nein!« wehrte die Mutter lebhaft ab, »das Allerschönste und Allerbeste ist ein Naturforscher.«

»Ich möchte aber doch lieber ein Handschuhmacher sein.«

»Weil du noch sehr dumm bist und gar nichts verstehst. Wenn du mal groß bist und etwas gelernt hast, da sagst du gerade wie ich, das will ich doch hoffen.«

Da kam der Vater wieder herein, ich schwieg ganz still und besah das Bilderbuch, oft aber ruhten meine Blicke gedankenvoll auf dem Vater, der viel besser sein sollte als ein Handschuhmacher.


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