Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Voigtsberg

Unser nächstes Ziel war Voigtsberg. Wir, zumal meine Tochter, wünschten ein Bergwerk in vollem Betrieb zu sehen. In Siebenlehn war das nicht mehr möglich, weil da kein Bergbau mehr getrieben wurde. Ich selbst ging hauptsächlich der Erinnerungen wegen dahin.

Unser Weg führte uns durch das liebliche Muldental, vorüber an dem entzückend gelegenen Hammerwerk. Nun durch den Hohlweg hinauf, da liegt alles vor uns, noch gerade so, wie ich es vor vierzig Jahren verlassen habe. Und doch anders. Ich hatte Voigtsberg nur gekannt in Sturm, Regen, Nebel, Schnee und Eis. Heute liegt der Ort in goldigem Sonnenglanze vor uns ausgebreitet. Das Glöckchen vom Huthause läßt auch heute noch in kurzen Pausen sein »Rrr–ting« erklingen.

Ich sehe mich tiefbewegt, sinnend um und lenke meine Schritte nach dem langgestreckten, niedrigen Gebäude mit dem hohen Schornstein. »Zutritt verboten!«, wir treten aber doch ein. Am hinteren Ende der rohen Halle steht ein weißhaariger, bleicher Bergmann und dreht langsam mit ernster Miene ein Steuerrad. Ich trete zu ihm, begrüße ihn, und frage, ob er Voigtsberger ist. Er nickt und dreht schweigend weiter.

»Sind Sie immer hier gewesen?«

Er nickt wieder.

»Ist der Krämer Haubold noch hier?«

»Haubolds? Die sind lange weg. Ich glaub', die sind tot.«

»Können Sie sich wohl besinnen, daß die ein eben konfirmiertes Mädchen bei sich hatten, die sie ›Moarie‹ nannten?«

Jetzt kam Leben in die welken Züge, und er rief erregt: »Ach freilich! Die hab' ich nich vergessen. Der hab' ich manchmal den schweren Wagen nach Siebenlehn fahren helfen, und oft, wenn sie im ganzen Dorfe nach Wasser herumrannte und nichts kriegen konnte, da hab' ich ihr das Wasserhaus vom Steiger aufgeschlossen. Ich war doch dazumal Junge beim Steiger und hatte den Schlüssel zum Wassertrog. Wie die sich immer gefreut hat, wenn sie ihre Kannen voll schöpfen konnte! Ja, ja, die hab' ich gut gekannt! Ich seh' sie noch vor mir. Ein herzhaftes Ding war das, machte im strengen Winter ganz allein weit 'naus, ganz bis Hamburg.«

Ich war tief bewegt und sagte leise: »Sie sind also der Winkler-Hermann! Und ich bin die Moarie!«

Er sah mich mit weit geöffneten Augen schweigend an, dann winkte er einem Bergmann, übergab ihm das Rad und trat mit mir vor die Halle. Erregt sah er mir hier ins Gesicht, lange, schweigend, er suchte in meinen Zügen, schüttelte den Kopf und sagte: »Sie wären die Moarie? –!«

»Ja,« sagte ich ernst, »ich bin es.«

Sein prüfender Blick glitt über meine Gestalt, und er sagte: »Gedacht hätt' ich's nicht, aber bei Gott ist kein Ding unmöglich.«

Er reichte mir die Hand, uns war beiden ganz feierlich zumute.

»Ich habe jetzt keine Zeit,« sagte er, »aber sehen Sie da unten im Muldental das schmucke Häuschen, das gehört mir! Machen Sie mir doch die Freude und essen Sie Abendbrot bei uns.«

Das versprach ich. Ehe wir aber soweit kamen, wollten wir erst mal alles sehen und kennen lernen.

Um drei Uhr läutet das Glöckchen vom Huthaus zur Schicht. Von allen Seiten kommen die Bergleute herbeigeströmt, ganz so, wie ich sie vor vierzig Jahren gesehen habe. Wir schließen uns ihnen an und nehmen hinter der schlichten Orgel Platz. Einer der Bergleute spielt, die bleichen Männer in der groben Arbeitstracht singen andächtig:

»Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Ein Grubenkleid – ein Totenkleid.
Drum falt' ich betend meine Hände
Und flehe um Barmherzigkeit.
O Herr, du meine Zuversicht:
Verlaß, verlaß den Bergmann nicht!

Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Ein Grubenschacht – des Todes Schacht.
Wohin ich meine Augen wende,
Nur schweres Graun, nur tiefe Nacht,
Mein Heil, mein Licht, Immanuel,
Komm, mache du mein Dunkel hell!

Wer weiß, wie nahe mir mein Ende
Ein Grubenlicht – mein Lebenslicht.
Ein Tropfen löscht es gar behende,
Wie bald verweht's der Zugwind nicht!
Herr Gott, in Not und in Gefahr
Nimm meines Lebens gnädig wahr!

Gib mir, o Herr, zum sel'gen Ende
Ein wachend und ein betend Herz.
Dein Wort als Leuchte in die Hände
Zur Fahrt hinauf- und niederwärts.
Kommt dann die allerletzte Schicht,
Dann zag' ich nicht, dann klag' ich nicht!

Still leg' ich dann am sel'gen Ende
Das schwarze Kleid der Grube ab;
Man legt die ausgelöschte Blende
Und mein Gezähe mir aufs Grab;
Mir reicht der Herr das weiße Kleid
Der himmlischen Gerechtigkeit.

Einst fahr' ich dann am sel'gen Ende
Herauf aus meines Grabes Schacht;
Hell leuchten alle Bergeswände,
Des Himmels Glanz durchbricht die Nacht,
Es steigt die Gnadensonne auf
Und alles jauchzt: Glück auf! Glück auf!«

Wir hatten von der Berghauptmannschaft aus Freiberg Erlaubnisscheine zur Anfahrt erhalten. Im Zechenhause mußten wir unser Zeug mit der Bergmannstracht vertauschen. Nun standen wir erwartungsvoll an dem gähnenden Schacht. Ich schaute schaudernd in die Tiefe. Weit unter uns bewegte sich ein einsames Licht. Auf meinen fragenden Blick sagte mir unser Begleiter: »Das ist der Bergzimmermann, der die Sprossen untersucht.«

Und nun beginnt unsere Anfahrt. Mir ist doch etwas unheimlich zumute, als wir aufgefordert werden, erst mal einige Meter auf der senkrechten Leiter hinabzusteigen. Ich zittere heftig. Ein Blick in die undurchdringliche Tiefe läßt mich zaudern. Die ungewohnte Kleidung, die unheimlich huschenden Schatten, die das Licht unserer Blende auf die Felswände wirft, machen mich ängstlich. Aber siehe da! Jede Bewegung unsrerseits wird von unserem fürsorglichen Begleiter, der ein paar Stufen vor uns hinabklettert, genau beobachtet und überwacht, bis wir an dem Absatz angekommen sind, wo die Fahrstühle sind. Jedem Fahrstuhl wird ein Bergmann beigegeben. Als wir untergebracht sind, gebietet unser Führer mit freundlichem Ernst, aber großer Entschiedenheit, absolute Ruhe! Er ermahnt uns, auch unsern Körper durchaus still zu halten. Und nun beginnt die gleichmäßige Fahrt in die Tiefe. Keinen menschlichen Laut vernehmen wir, neben uns rasseln die schweren, eisernen Ketten. Eine unheimliche Fahrt in diesen schwarzen Abgrund machen wir. Waggons, gefüllt mit Steinen, ziehen rasselnd an uns vorüber. Ich wage nicht, den Kopf zu drehen. Vor mir habe ich die schräge, rötliche Wand. In kurzen Unterbrechungen sehen wir nur die Angabe der Meterzahl, die wir zurückgelegt haben.

Endlich ein Ruck. Die Fahrstühle halten, und sofort sind unsere freundlichen Erdgeisterchen bei der Hand und stellen sich in unseren Dienst. Wir sehen an der Wand, daß wir 550 Meter tief sind. Und hier nun sind die Gänge, die ich als Kind auf der Karte gesehen habe. – Hatte ich mir damals eine Vorstellung von hellglänzenden, silberfunkelnden Bergeswänden gemacht, so war das ein Gebilde meiner Phantasie gewesen. Auch das gemeinschaftliche Arbeiten von vielen Bergleuten an einem Ort war eine irrige Vorstellung gewesen.

Hier waren wir in dem »In Christi Hilfe stehenden«-Gang. Hier war's dunkel, einsam, kalt und feucht. Auf einem schlüpfrigen Brett tappten wir vorsichtig weiter. Wir stießen auf Seiten- und Nebengänge. Hier nur nicht verirren! Ist man dann verloren? Mein Führer zeigt auf den Kompaß. – Aber wo ist denn das Silber und das Edelmetall? Der Bergmann erhebt seine Blende und zeigt auf die rötliche Wand. Diese matt glänzenden Streifen im Gestein, die enthalten das Silber, aber sie sind eingebettet in taubes Gestein. Viel taubes Gestein wird abgeschlagen, in dem kein Silber enthalten ist, es ist gar nichts wert und wird gleich auf die Halde geschüttet. Das erzhaltige Gestein muß viel Scheidungs- und Läuterungsprozeduren durchmachen, ehe es seinen Weg in die Münze findet.

Vor einer fast senkrechten, dicht an das Gestein angebrachten, sehr unbequemen Leiter machten wir halt und wurden freundlich aufgefordert, recht vorsichtig da hinaufzuklettern.

Hätte ich vorher gewußt, was mir alles zugemutet würde, dann hätte ich wohl kaum gewünscht, eine Anfahrt zu erleben. Jetzt mußte ich vorwärts!

Unser Führer ging auch hier voran und öffnete oben eine niedere Tür. Wir krochen durch die Öffnung und befanden uns in einer Art Höhle, etwa von der Größe einer geräumigen Stube. Es fiel uns, die wir aus der Dunkelheit kamen, zunächst auf, daß es hier so hell war. – Kein Wunder! – All unsere Blenden vereinigten sich, um den Raum zu erleuchten. Hier waren wir »vor Ort«, und zwei Bergleute begrüßten uns freundlich mit »Glück auf!« – Sie beobachteten uns interessiert. Unser Führer belehrte uns über die neue Art des Hauens, die aus den italienischen Bergwerken übernommen ist. Der gestreckte Arm führt mit kräftigem Schwunge den Hammer von unten nach oben, gegen die Stange, die in das Gestein hineingetrieben wird.

Die beiden tätigen Bergleute zeigten uns ihre Arbeit. Eine etwa fünfzig Zentimeter lange, nicht sehr starke, vorn zugespitzte Eisenstange wird durch kräftige Schläge in den Stein hinein getrieben.

Eintönig, – taktmäßig fallen die Schläge. Bei dieser Arbeit pflegen sich die Bergleute durch Singen – vorwiegend geistlicher Lieder – gegenseitig zu ermuntern.–

Der Steiger maß nach und fand, daß die Öffnung so weit gediehen sei, daß eine Sprengung stattfinden könne.

Unter der fürsorglichen Hut unserer Führer erreichen wir nach zwei Stunden wieder das Tageslicht.

Nun blieb mir noch das Beste, was ich mir, wie Kinder den besten Bissen, bis zuletzt aufbewahrt hatte. Dieses Beste war das Häuschen am Brunnen. Seit ich an jenem Januarmorgen vor vierzig Jahren aus diesem Hause gegangen war, hatten auch hier allerlei Veränderungen stattgefunden. Tod und Leben hatten ihren Einzug gehalten. Die guten, alten Lehmanns fand ich nicht mehr vor, sie hatten längst ihren Platz an Christels Seite gefunden.

Gustel war seit langen Jahren verheiratet und zeigte mir mit mütterlichem Stolz das Bild ihres einzigen Sohnes. Sie selbst ist eine stattliche Blondine. Auf meine Frage nach dem Fritz höre ich, daß er seit vielen Jahren in Amerika ist.

Gustel hat denselben Zug von Sanftmut und Güte wie die Mutter. »Erquickt euch,« sagte sie, »es ist warm draußen,« und sie setzt uns schäumendes Zuckerbier vor; sie geht und kommt mit einem dünnen Päckchen Briefe wieder, die sie vor mich hinlegt.

»Die sind von dir!« sagt sie mit einem leisen Anflug von Vorwurf im Ton. »Ja,« fährt sie fort, »sieh sie dir nur mal an, es ist wenig, was du mir in den langen Jahren geschrieben hast. Wir wollten doch immer so gern von dir hören.«

»Gustel,« sagte ich, »es sind viele Menschen während der Jahre in mein Leben getreten!«

Ich habe das Band, das die Briefe zusammenhält, gelöst, vor mir liegen kleine, ausgezackte, rosa Bogen, die mit einer bunten Oblate in der Ecke beklebt sind. Zwischen weitläufig gezogenen Bleistiftlinien marschieren die Buchstaben groß und steif hintereinander her. Der Inhalt ist gleich Null. Und doch sehe ich das Päckchen mit tiefer Bewegung an. Meine Hand gleitet über die Bogen.

»Diese,« sage ich zu meiner Tochter, »erinnern mich an meinen ersten Tag in Hamburg, ich bekam sie damals von freundlichen Kindern in einer Apotheke geschenkt. Ach, Menschen sterben hin, Häuser vergehen und entstehen, und solche Kleinigkeiten bleiben erhalten und zaubern uns eine Welt voll Erinnerungen vor die Seele.«

Gustel nickt und sagt: »Wie oft haben wir doch von dir gesprochen! Mit welcher Sorge haben die Eltern gebangt, wie du wohl die weite Reise mögest überstanden haben, aber ich hab' immer gesagt, du wärest anders, du wärest beherzt. Unsereiner hätte sich zu Tode gefürchtet!«

»Glaub' nur, unsereiner hat sich auch fast zu Tode gefürchtet!«

Am Abend gingen wir, auch die Gustel mit ihrem Mann, zum Winkler-Hermann, in das nette, kleine Haus in der Talmulde. Hermann stellte mir seine freundliche Frau vor. Beide hatten sich sonntäglich angezogen. Die Frau war noch mit dem Decken des Tisches beschäftigt.

»Heute,« sagte sie, »nehme ich Ihnen zu Ehren unser silbernes Geschirr, wir haben es neulich zu unserer silbernen Hochzeit bekommen.«

»Daß Sie Silberzeug bekamen, das lag für Sie doch sehr nahe, da doch ihr Mann seit seiner frühesten Jugend in einem Silberbergwerk arbeitet.«

Auch hier wurde uns ein Glas Zuckerbier zu unserer »Bemme« vorgesetzt. Silbergeschirr konnte ich aber nicht entdecken, da sagte Frau Winkler, indem sie auf einen Steingutteller mit silbernem Rande deutete: »Sehen Sie? Unser Silbergeschirr!«

Ich sah. Es war etwas anderes, als was ich erwartet hatte, aber, so dachte ich, vielleicht schätzt die ihr Silbergeschirr, das nicht aus Silber ist, höher ein als jemand der echt silberne Gabeln und Löffel hat. Wir unterhielten uns in herzlichster Weise über die Vergangenheit.

Als wir gingen, vergoldete die Abendsonne die Fenster der kleinen Bergmannshäuschen. Winklers und Gustel mit ihrem Manne standen vor der Haustür und winkten uns noch lange nach. Vom Hermann war es ein Abschied fürs Leben.

Wir waren noch nicht lange wieder in unserm Großstadtheim, als uns Gustel schrieb: »Denke Dir nur, der Hermann hat wie immer im Zechenhaus das Steuerrad gedreht, da steht es plötzlich still, ein Bergmann geht hin, um zu sehen, was los ist, da liegt der Hermann tot hinter seinem Rad. Der Tod hat ihm das Steuer aus der Hand genommen! Die Frau ist untröstlich!«


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