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Die Jahre gingen. In dem einen reiste der Vater nach Polen, um, wie er sagte, weiße Maikäfer zu sammeln. Donath aus Reichenbach ging mit, um die Sammlungen zu tragen. Ein andres Jahr reiste die Mutter mit dem hochbepackten Tragkorb in die Salzburger Alpen, mit dem Auftrag vom Vater, Alpenpflanzen und den Schmetterling »Apoll« zu sammeln. Im darauffolgenden Jahr wurde zu einer Reise nach Holland gerüstet. Da auf der Reise in die Alpen der Korb den Rücken wund gescheuert hatte, so wurde jetzt die Reise mit dem Wagen eingerichtet. Es war ein schwerfälliges Gefährt, und der Mutter Augen ruhten mit Besorgnis auf der langen, grünen Kiste, die auf den niedrigen Rädern stand. Die Reise wurde angetreten, nicht mit besonderem Mut. Ich war untröstlich, mir war das Herz diesmal ganz besonders schwer, nachts konnte ich nicht schlafen, ich weinte mich ganz krank, paßte in der Schule nicht auf und wurde vom Vater und in der Schule gescholten, daß ich lässig sei. –
Es waren mehrere Tage nach der Abreise der Mutter verstrichen, der Vater hatte mich mit einer scharfen Vermahnung früh zu Bett geschickt, ich solle ausschlafen, dann aber endlich mit meinem Kummer zu Ende sein und wieder fleißig an die Arbeit gehen. Auf meine dringende Bitte hatte man mir mein Bett nun in die Holzkammer gestellt, da ich so gern, wie ich sagte, in meiner Stube auch schlafen wollte. Trotz des Vaters Mahnung saß ich aufrecht im Bett und schluchzte. – Was war das? Ich hörte unter mir Türen gehen, Stimmen wurden hörbar, dann auf der Treppe nach dem Boden ein schwerfälliger Schritt. Der Schritt der Mutter! Den kannte ich doch! Mir war, als müsse mein Herz stillstehen. War das Wirklichkeit oder täuschten mich meine Sinne?! Da! – meine Kammertür wurde leise geöffnet, die Mutter fragte flüsternd: »Täschen, wachst du noch?«
»Mutter!« rief ich in maßlosem Staunen und streckte die Arme aus. – Ja, es war die Mutter. – Sie setzte das kleine Öllämpchen auf die Truhe und nahm mich zärtlich in die Arme. Wir weinten beide. Dann setzte sie sich auf den Stuhl am Bett und sagte mit leisem Vorwurf: »Warum läßt du mich nicht reisen?« Ich sah sie erstaunt, verständnislos an. Was konnte denn ich dabei tun? Ich ließ sie nicht reisen? Aber sie war ja gereist!
Die Mutter fuhr eindringlich fort: »Mach' mir's doch nicht extra schwer! Kannst du es denn gar nicht lernen, allein zu sein?«
»Nein,« sagte ich schluchzend, und klammerte mich an sie, »ich kann nicht ohne dich sein! Der Vater denkt nur an seine Pflanzen, ich muß doch mit jemandem sprechen! Immer hab' ich dir was zu sagen, aber du bist nicht da. Du hörst mich nicht, du antwortest mir nicht.«
»Doch, Charitas, ich höre dich!«
»Du hörst mich?! Ach, Mutter! Wenn du doch so weit fort bist?«
»Ja, ich höre immer dein Weinen, immer – immer! Ich sehe dein trauriges Gesicht, ich rede dir zu, aber es hilft mir nichts, du weinst weiter, und du zwingst mich umzukehren! Ist das recht? Wenn ich schon tagelang fort bin?«
»Ja, ja,« rief ich lebhaft, »es ist recht! Nun bin ich wieder froh, nun bleib nur hier! Du hältst es nicht aus, und ich halt es auch nicht aus. Nun bin ich wieder ganz glücklich!«
»Ach,« sagte die Mutter ungeduldig, »mit dir ist doch gar nicht zu reden! Wie kannst du so unverständig und kurzsichtig sein! Meinst du etwa, ich schlepp' die Karrete zum Spaß durch die Welt? Wir sollen doch leben! Die Leute laufen uns nicht mit dem Geld nach! Jetzt bin ich tagelang ganz vergeblich auf der Landstraße gewesen! – Fort muß ich doch wieder. Erleichtere es mir doch! Ergib dich drein! Du mußt es doch!«
»Mag doch der Vater reisen!«
»Das ist ja versucht! Der Vater hat andere Gewohnheiten und andere Bedürfnisse. Du solltest das wissen.«
Ja, ich wußte es, und wir schwiegen eine Weile, dann fuhr die Mutter fort: »Sei doch stark und tapfer! Wenn du deinen Regungen immer nachgibst, wird gar nichts aus dir! Versprichst du mir, daß du mich in ein paar Tagen ruhig ziehen lässest? Das nenn' ich Liebe, wenn du mit dir kämpfst, um mir die Ruhe zu geben. Versprichst du?«
»Ich will's versuchen,« sagte ich leise weinend.
Die Mutter küßte mich, nahm das Lämpchen und sagte: »Diese Nacht können wir wohl beide schlafen!«
Nach einigen Tagen wurde Hektor wieder eingespannt, und auch die Mutter legte sich den breiten Zuggurt vor die Brust und schlug wieder die Richtung nach Nossen ein. Ich ging ein Stück mit und nahm mich aufs äußerste zusammen. Dann mahnte die Mutter zur Umkehr.
»Wenn du wenigstens manchmal schreiben wolltest, wie es dir geht,« sagte ich.
Wir standen still, und die Mutter sagte: »Wenn ich Geld oder Bestellungen habe, die bald erledigt werden müssen, dann hört ihr von mir. Das Porto ist teuer, ich überlege jeden Pfennig. Aber davon abgesehen, stell' dir doch mal vor, ob mir nach Briefschreiben zumute ist, wenn ich abends todmüde in einen Gasthof komme.«
Wir nahmen wieder Abschied, und ich stand noch lange und sah umflorten Blickes der wunderlichen Fuhre nach.
Wochen – Monate gingen. Ich wurde von einer beständigen Angst und Sehnsucht gequält. Wenn ich aus der Schule kam, wartete ich auf eine Mitteilung, aber immer vergeblich. Der Vater wurde immer stiller und wortkarger, und Madame Hänels Gesicht nahm einen bedenklich abweisenden Ausdruck an, wenn ich einen Hering oder für einen Dreier ordinären Sirup holte. Sie fragte jedesmal nach der Mutter, und ich wußte, daß die Nachfrage mit der anwachsenden Rechnung zusammenhing. Einige Außenstände liefen wohl ein, aber die Summen vermochten doch nicht die Not fernzuhalten. Es lag etwas Schweres, Drückendes in der Luft. Ich hatte ein Gefühl, als müsse etwas Besonderes passieren. War der Mutter etwas zugestoßen, daß sie gar kein Geld schickte?
Es war mir auffallend, daß ich schon mehrere Male einen feingekleideten Herrn getroffen hatte. Ich konnte mir nicht denken, was er bei uns wollte, denn der Vater schickte mich jedesmal fort, wenn ich mit ihm zusammentraf.
Einmal war er wieder da gewesen, und als ich nun aus der Holzkammer kam, sagte der Vater: »Setz' dich mal hierher, ich muß dir etwas sagen.«
Ich erschrak heftig und rief: »Mutter ist tot!«
»Davon weiß ich nichts,« sagte der Vater dumpf. »Sie schickt kein Geld, sie schreibt auch nicht. Ich weiß mir nicht länger zu helfen.« Ich sah ihn angstvoll an, und er fuhr widerstrebend fort: »Nein, es geht nicht weiter! – Wir müssen uns trennen. – Du hast den fremden Herrn gesehen?« Ich nickte. »Das ist Herr von Schönberg aus Herzogswalde. Ich gehe zu ihm und nehme eine Hauslehrerstelle an.«
Nach einer Pause fuhr der Vater gedrückt fort: »Du mußt dir ein andres Heim suchen.«
»Geh' ich denn nicht mit?« fragte ich unsicher.
»Nein,« sagte der Vater, »ich gehe allein, wenigstens erstmal, – alles ist unsicher, – du mußt dir ein Unterkommen suchen, wo du gegen Dienstleistungen freien Aufenthalt bekommst. Ich habe dich immer zum Fleiß angehalten. Du kannst einer Hausfrau schon recht gut zur Hand gehen, meinst du nicht?«
Alles fiel auseinander! Ich konnte nicht sprechen. Was wurde nur aus uns allen? Und die Mutter!? Der Vater sagte es nicht, aber es war doch klar, daß er nicht an ihre Rückkehr glaubte. Ich mußte allein sein. Ich ging hinauf in die Holzkammer. Das konnte die Mutter nicht verlangen, daß ich nach dieser Nachricht ruhig blieb! Ich lag lange weinend vor der Truhe, dann überlegte ich, was ich tun konnte, um mir – ein – Heim, – nein einen Aufenthalt zu suchen. –
Ich bat in der Schule meine Gefährtinnen, mir suchen zu helfen, und es dauerte nicht lange, da sagte mir die Gelfert-Ida – ihre Mutter hatte eine Restauration – sie habe etwas für mich, ich möge in der Dämmerung zu ihr kommen, sie wolle mir sagen, was sie wisse. Als ich kam, sagte sie: »Hier ist ein Mann aus Nossen gewesen, dem hab' ich erzählt, was du mir gesagt hast. Er hörte gut zu und sagte: ›Nächsten Dienstag komme ich wieder, da laß sie herkommen; wenn sie mir gefällt, nehme ich sie selbst. Meine Frau möchte gern ein Schulkind haben, das ihr bei der Arbeit hilft und Wege geht.‹«
Ich fragte noch: »Ist er freundlich?«
»O, das schon,« sagte Ida, »mehr weiß ich auch nicht, aber frag' doch mal meine Mutter.«
Frau Geifert sagte: »Was weiß ich von ihm? Er kommt her, trinkt ein Glas Bier, redet ein bißchen und geht wieder.«
Zur verabredeten Zeit ging ich zu Gelferts. Ich traf einen hochgewachsenen Mann, der mir durch sein gestärktes Vorhemdchen und die blitzende Busennadel, durch das sorgfältig gescheitelte Haar und die weißen Handmanschetten sehr imponierte. Er war sehr freundlich, sehr gewandt, seine Rede begleitete er stets mit lebhaften Gesten. Alles wickelte sich viel schneller und bequemer ab, als ich mir's vorgestellt hatte. Da hatte ich aber Glück, sagte ich zu mir selbst. Schon nächste Woche konnte ich kommen, hier war die Adresse, er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb mit geläufiger Hand Namen und Wohnung auf.
»Nun,« schloß er, »ein Bett und was so dazu gehört,« und er rundete mit einer Handbewegung alles dazu Gehörige ab, »das bringst du natürlich mit, alles übrige wird sich schon machen.«
Als ich dem Vater meinen Erfolg erzählte, fühlte er sich sichtlich erleichtert und fuhr fort die dicken Pakete von den Gestellen zu holen. Vieles packte er in große Kisten, die sollten erst mal hier auf dem Boden stehen bleiben, das übrige machte er für den Umzug zurecht. Donath war da und half ihm. Beide waren so von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, daß sie mich gewähren ließen. So gut ich's verstand, suchte ich meine Angelegenheiten zu ordnen. Ich war in trauriger Abschiedsstimmung. Wie war es nur möglich, daß alle die Sammlungen fort sollten? Standen sie da nicht, wie hingestellt für die Ewigkeit? Der Forsthof und wir gehörten doch unzertrennlich zusammen! Gewiß, wir waren zeitweise fort gewesen, aber wir waren doch alle immer wieder gekommen, und was da einmal stand, das war stehen geblieben. Ich hatte ja öfter gestöhnt, wenn ich an schönen Sommertagen geduldig die angewelkten Blättchen auseinanderpuhlen mußte, oder wenn ich die vielen Raupen von ihren kahlen Stengeln auf die frischen Kräuterbündel setzen mußte, aber das alles gehörte nun einmal zu uns, und nun, da ich mich für immer von all dem trennen sollte, da fühlte ich ein tiefes Weh. Waren die Pflanzen, die Raupen und die Käfer durch die tägliche Arbeit an ihnen nicht zum Teil mein Eigentum geworden? Mit wie vielen Menschen und Gegenden verknüpften mich diese Dinge. Ach, waren wir denn plötzlich so arm geworden? Wie oft hatte der Vater gesagt: »Es stecken Tausende in den Sammlungen, aber freilich, hier borgt mir keiner ein Dreierbrötchen dafür.«
Ich hatte die dumpfe Verbitterung allmählich kommen sehen, daß es aber soweit kam, daß gar keine Hoffnung mehr war! Das Schlimmste war und blieb die Ungewißheit über die Mutter. Wenn sie nur hier wäre, dann wäre es soweit nicht gekommen!
Ich war zum letztenmal in der Holzkammer, hier packte ich meine Sachen. Von allem nahm ich Abschied. Was mir die Wirklichkeit versagt hatte, hier hatte ich es mir dichterisch geschaffen. Kühn hatte meine Phantasie alle Schranken durchbrochen und Welten gebaut, die mein leibliches Auge nie geschaut hatte. Vorüber! Ganz nüchtern mußte ich mir überlegen, wie ich meine Sachen nach Nossen schaffen konnte. Da war Fuhrmann Märker, dem gab man so etwas, aber doch nur, wenn man Geld hatte. Der Mutter Grundsatz war: »Was der Mensch selbst tun kann, das soll er selbst tun.« Der Hauswirt hatte einen Schiebbock, den würde er mir leihen, ich würde ihn wieder bringen. Die Sachen wurden in einen Tragkorb gepackt, das Bett obendrauf, und nun galt's vom Vater Abschied zu nehmen.
»Mit dir wird's schon gehen,« sagte er, »es ist ja nicht zum erstenmal, daß du zu fremden Leuten mußt. Du wirst dich fügen. Das muß man bei fremden Leuten! Fleiß und Geduld habe ich dir anerzogen, beides braucht man im Leben, und du wirst mir dankbar sein, daß ich so streng zu dir war. Was willst du?« fügte er hinzu, als er sah, daß ich weinte, »du bist ja jung, dir steht die ganze Welt noch offen!«
Ich sagte: »Immer habt ihr mir versprochen, wenn ich einmal fort sollte, käme ich nach Herrnhut.«
»Nach Herrnhut!« sagte der Vater bitter, »ja, das habe ich gesagt, da hoffte ich noch! Wer denkt denn jetzt an Herrnhut! Ich weiß nur, daß es so nicht weiter geht. Leb' wohl, sei brav!« Weinend ging ich fort.
Ich schob den Schiebbock nach Nossen und suchte die Familie Nagel auf. Vor dem Hause hielt ich still und schaute nach den oberen Fenstern hinauf. Da oben sollten sie wohnen. Die Fenster waren geöffnet, jemand spielte Gitarre und sang dazu, ich hörte gerade: »Mein Lieb ist eine Alpnerin, gebürtig aus Tirol.«
Ich ging hinauf und klopfte, man hörte mich nicht gleich, erst als ich stärker klopfte, wurde die Tür geöffnet. Eine große, schlanke Frau ließ mich eintreten. In der mittelgroßen Stube sah ich außer dem mir bekannten Mann und der Frau, die mich einließ, einen jungen, hübschen Menschen auf dem Sofa sitzen, er hatte die Gitarre vor sich, er hatte bis jetzt gesungen. Nagel stand vor dem Spiegel und band sich gerade die Krawatte. Als er mich sah, drehte er sich zu mir und sagte: »So, so, – da bist du ja! – Ganz wie's verabredet war, – so ist's recht! Bernhardine,« wandte er sich an die Frau, »ich hab' dir eine Stütze versprochen, da steht sie!« und er zeigte mit theatralischer Gebärde auf mich.
Ich gab allen dreien die Hand und sagte: »Unten sind meine Sachen, soll ich sie heraufholen?«
Der Mann warf einen Blick aus dem Fenster und sagte lachend: »Wahrhaftig, unten steht die ganze Fuhre! Willy, hol' den Kram herauf, trag's in die Bodenkammer, und stell' den Schiebbock in den Hof. Du brauchst ihn wohl nicht gleich wieder zurückzufahren?«
Ich schüttelte den Kopf. Willy kam mit den Sachen, die Frau nahm einen Schlüssel von der Wand und ging mit hinauf, um mir die Kammer zu zeigen.
»Stell' es nur dahin,« sagte sie zu Willy, »sie richtet sich dann schon ein.«
Unter der unbekleideten Schrägung des Daches stand die Bettstelle. Die Frau sagte, während sie sich in der Tür noch einmal umdrehte: »Wie heißt du doch?« Dann wiederholte sie langsam meinen Namen und sagte: »Wenn du hier eingeräumt hast, komm hinunter, ich will mit dir gehen und dir zeigen, wo wir das Wasser holen.«
Ehe ich ans Einrichten ging, trat ich vor das kleine Bodenfenster. Was ich von hier aus sah, war schön. Unten im Tal wand sich anmutig das silberglänzende Band der Mulde, im Hintergrunde begrenzt durch rötlich zerrissene Felsenwände und grün bewaldete Berge. Als ich nach einer Weile unten ankam, zeigte die Frau auf ein Paar hölzerne Wasserkannen und sagte: »Sie sind schwer, du brauchst sie aber nicht voll zu nehmen, geh lieber einmal mehr.«
Sie selbst nahm einen zierlichen Krug und schlug, unten angekommen, einen hübschen Wiesenpfad ein, der zu einem ausgemauerten Brunnen führte, aus dem wir nun beide schöpften. Ich mußte sie immer verstohlen ansehen. Ich verglich sie mit den Frauen, mit denen ich sonst zusammengelebt hatte, sie sah ganz anders aus. Als wir wieder in der Stube waren, hatte ich ein unbestimmtes Gefühl, daß sie hier in die nüchterne, kleine Stube gar nicht her gehöre. Ihr feines, hübsches Gesicht war von dunklen Hängelocken umrahmt. Um den Kopf hatte sie ein schwarzes Spitzentuch geschlungen. Ihre Kleidung war fadenscheinig und dürftig, aber der Schnitt erschien mir apart und elegant. Sie hatte feine, schlanke Hände. Wie hätte sie wohl die schweren Wasserkannen tragen können, das paßte gar nicht zu ihr. Wenn sie nicht in diese kleine nüchterne Stube paßte, wohin gehörte sie dann? Meine Phantasie war fix fertig sie einzuordnen. Ich hatte ja viel gelesen, und kühne Bilder und Vorstellungen erfüllten meine Seele. Sie gehörte in ein Schloß, auf eins der Ruhebetten, von denen überall welche herumstanden. Ich stattete sie mit prächtigen Kleidern aus, sie hatte viel Dienerschaft, denn sie konnte und mochte doch nicht arbeiten. Es machte mir Freude, sie anzusehen, nur hätte ich ihr gern etwas mehr Leben mitgegeben. Ich wollte tüchtig und willig arbeiten, alles hübsch blank putzen, vielleicht kam dann ein Lächeln in diese traurigen Züge, vielleicht brachte ich sie soweit, daß sie eines Tages sagte: »Ich mag dich gar nicht wieder entbehren.« Ich wünschte so sehr, daß mich jemand gern hatte. Ihr Blick ruhte träumerisch auf mir, da besann ich mich, daß ich Hand anlegen mußte, wenn ich meine Träume verwirklichen wollte. Ich wusch draußen auf und brachte die kleine Küche in Ordnung. Frau Nagel sagte nur mit müder Stimme, was notwendig war.
Am nächsten Tag nahm ich meine Bücher unter den Arm und suchte die Schule auf. Wie war ich verlegen, als ich an der Tür stand und die vielen fremden Kinder mich neugierig betrachteten, als sie die Köpfe zusammensteckten und laut miteinander flüsterten.
Die Tür öffnete sich, der Kantor trat ein. Er war eine große stattliche Erscheinung. Bei seinem Eintritt trat Totenstille ein. Mit einem strengen Feldherrnblick überschaute er die Klasse, dann fiel sein Blick fragend auf mich. Ich faßte mir ein Herz und fragte schüchtern, ob ich hier zur Schule gehen dürfe.
Er fragte nach Namen und Herkunft und wollte das Abgangszeugnis sehen. Ich gab es ihm.
»Zeig' deine Bücher!«
Er warf einen Blick in die Hefte, ich beobachtete ängstlich sein Gesicht, er schien nicht zufrieden.
»Wo ist dein Tagebuch?« sagte er.
»Ich – ich – habe kein Tagebuch.«
»Führt ihr in Siebenlehn kein Tagebuch über die Religionsfragen?«
Ich sah ihn verständnislos an und sagte: »Nein.«
»Sonderbar!« sagte er, »das muß dein erstes sein, was du dir zulegst, ein sehr dickes Heft, oben in die Mitte schreibst du: I. N. G, das heißt: im Namen Gottes, denn hier hinein schreibst du alle Fragen und Antworten, die in der Religionsstunde vorkommen. Du numerierst sie, und was ich für morgen aufgegeben habe, das lernst du auswendig. Hier herrscht Ordnung, merk' dir das! Deine Nachbarin wird dir darin zurecht helfen. Jetzt komm an die Wandtafel und rechne uns ein Exempel vor.«
Der Schreck bei diesen Worten fuhr mir in die Glieder, ich zitterte. Ich konnte nicht einmal unter ganz gewöhnlichen Umständen rechnen, wieviel weniger aber jetzt hier, so öffentlich, wo die erwartungsvollen Blicke der vielen fremden Kinder auf mich gerichtet waren. Da stand die Aufgabe. Der Kantor gab mir die Kreide und sagte: »So – jetzt vorwärts! Die Aufgabe ist nicht schwer!«
Ich hörte seine Worte wie aus weiter Ferne. Was war das doch für ein sonderbares Sausen in den Ohren? Ach, wie schrecklich! Da stand der Kantor, er hatte die Arme verschränkt und sah mit eisigem Blick auf mich herab.
»Nun, wird's bald!« sagte er mit drohender Stimme. Ich aber stand mit gesenktem Kopf und rührte mich nicht.
»Kannst du nicht, oder willst du nicht!«
Jetzt blickte ich verzweifelt auf die Tafel, aber es half mir nichts, ich sah nichts. Da nahm er mir die Kreide aus der Hand, wandte sich zur Klasse und sagte: »Das ist nämlich die Tochter eines Naturforschers, mit einem wunderbar großartig klingenden Namen, aber es ist nichts dahinter. Ihr habt alle gesehen, sie kann nicht einmal ein einfaches Divisionsexempel rechnen. Ja, ja, das fängt gut an! Ob du wohl in Religion auch so Ausgezeichnetes leistest? Ich muß dich wohl unter meine ganz besondere Obhut nehmen. Setz' dich mal hier unten auf die letzte Bank. Ihr da – Vogel und Schönberg – rückt mal auseinander, und nehmt die Dietrich zwischen euch.«
Zitternd nahm ich den bezeichneten Platz ein. In der Pause fragte ich die »Schönberg« nach ihrem Tagebuch.
»Hier ist es,« sagte sie und zeigte mir ein unförmliches, dickes Heft. »Ich will es dir borgen zum Abschreiben. Hier kommt nur Religion hinein. Du kannst ja nicht bis morgen alles abschreiben. Laß erst mal eine Menge Blätter leer und fang an, was du für morgen haben mußt.«
Ich sah mir den Anfang an, da stand unter I. N. G.
1. Frage: Was ist Religion. – Religion ist die Art und Weise, Gott zu erkennen und zu verehren.
2. Frage: Wieviel Religionen gibt es? Es gibt vier Religionen.
3. Frage: Zu welcher Religion bekenne ich mich?
»Nein,« sagte Schönberg', »das geht dich heute noch nichts an; hier schreibst du für morgen ab, und das lernst du! Aber lern' ordentlich, sonst geht's dir schlecht. Wir sind jetzt gerade beim sechsten Gebot. Hier: 116. Frage: Was ist die Ehe? Die Ehe ist die von Gott verordnete Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts, um sich bei der Erreichung ihrer Bestimmung gegenseitig zu unterstützen und die Absichten Gottes an den Menschen fördern zu helfen.«
Ich sah »Schönberg« verständnislos an und sagte schwer aufseufzend: »So etwas haben wir in Siebenlehn nie gelernt!«
»Ha! – Siebeln!« sagte sie überlegen, »das glaub' ich schon. Da habt ihr nicht mal ein Tagebuch. Nossen ist in allem voran. Freu' dich, daß du hier bist, hier lernt man was, der Kantor weiß, was er will. Paß nur ja auf, wenn das nicht geht wie am Schnürchen, dann wirst du gestraft.«
»Was tut er mir denn, wenn ich etwas nicht kann?«
»Er haut dich, oder du mußt nachsitzen.«
Ich paukte an der Ehefrage herum, aber die Worte wollten sich dem Gedächtnis nicht einprägen. Der Kantor ließ am nächsten Morgen von einer über mir Sitzenden das sechste Gebot aufsagen, dann richtete sich sein strenger Blick auf mich, und der von mir so gefürchtete Augenblick kam, er sagte: »Dietrich, 116. Frage: Was ist die Ehe?«
Ich fing ganz gut an, aber der strenge Blick verwirrte mich so, daß ich die Gemeinschaft, die Bestimmung und die Verbindung so durcheinander warf, daß nur Unsinn herauskam.
»Rechnen kannst du nicht, und Religion kannst du auch nicht. Du wirst nachsitzen und zwanzigmal die Antwort auf die 116. Frage aufschreiben. Borg' dir von den anderen Schiefertafeln. Heute nachmittag vor der Stunde sagst du mir's auf. Ich denke dann wird's sitzen.«
Als ich mit meiner Strafarbeit fertig war, kamen die anderen schon wieder zur Schule. Ich bekam an dem Tage kein Mittagessen, aber ich konnte die 116. Frage beantworten wie am Schnürchen, und sie hatte sich fest eingeprägt.
Frau Nagel tat mir leid. Je länger ich da war, desto mehr fühlte ich, daß sie auch nicht zu Mann und Sohn paßte. Es paßte niemand zueinander, jeder ging seinen eignen Weg. Der Sohn war Schreiber in einer nahe gelegenen Fabrik; wenn er zu Hause war, klimperte er auf der Gitarre ohne Aufhören. Die Mutter hielt sich die Ohren zu und bat um Ruhe, das berührte Willy nicht, er pfiff oder sang weiter. Ich wunderte mich, wie respektlos er die Mutter behandelte. Ich sah, wie sie sich bald ergab. Mir schien, sie hätte mehr kämpfen müssen, aber ich sah sie nur dulden. Was der Mann am Vormittag tat, wußte ich nicht, weil ich dann in der Schule war. Nachmittags putzte er sich und ging aus. Oft sah ich ihm nach, wenn er lustig pfeifend, sein Stöckchen schwingend, den Berg hinauftänzelte. Manchmal wachte ich nachts auf von einem Gepolter auf der Treppe. Ich hörte die Etagentür öffnen und schließen und schlief bald wieder ein. Außer der schweren Sorge um die Mutter hatte ich eine unbestimmte Angst in diesem Hause.
In der Schule fand ich mich allmählich zurecht. Die »Schönberg« war nun für mich »Anna« und die »Vogel« »Berta«. Einmal kam Anna und hatte ein ganzes Paket Bücher, die sie in ihr Fach legte. Nach der Stunde sagte sie: »Bleib noch ein bißchen, ich muß dir etwas zeigen.«
Sie holte die Bücher aus dem Fach und sagte: »Weil du nun doch meine Freundin bist, will ich dir gern etwas Schönes zum Andenken schenken!«
Ich erschrak vor Freude. Sollte ich wohl eins von den schönen Büchern haben? Anna sagte wohlwollend: »Du sollst dir zuerst eins aussuchen, du hast gewiß die meiste Freude dran. Sieh, wie hübsch, mit Goldschnitt, und so schöne Goldblumen auf dem Deckel!«
»Ach,« sagte ich aufgeregt, »wie wunderhübsch; aber wie darfst du die denn verschenken? Weiß denn deine Mutter das? Ich will dir nur gleich sagen, ich kann dir nichts wieder schenken, ich habe gar nichts.«
»Schad't nichts,« sagte sie, »such' dir nur aus.«
Ich nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand und sagte nachdenklich: »Wie kann ich wissen, welches schön ist? Von außen sind sie fast alle schön, nur dies nicht,« und ich nahm das einzig ungebundene Buch und schlug es auf. Begeistert rief ich: »Gedichte! Joseph! Ach, darf ich das haben? Gibst du mir das?«
»Du bist nicht gescheit!« sagte sie, »das ist das allersimpelste! Nicht mal eingebunden! Und du hast doch die Wahl.«
»Ja, aber wer Joseph war, das weiß ich doch. Siehst du, mir geht's ähnlich wie ihm, ich muß auch in der Fremde sein.« Ich drückte das Buch gegen die Brust und bat dringend, sie möge mir gerade dieses schenken.«
Sie lachte und sagte: »Behalt's! Ich hatte dir ein besseres zugedacht.«
Ich dankte beglückt und fragte, woher sie die vielen schönen Bücher hätte. Sie sagte: »Mein Vater ist Diener in einem reichen Hause in Berlin. Er schickt uns manchmal ein Paket von allerlei Dingen, die die Leute nicht mehr brauchen. Manches können wir ja davon benutzen, manches aber auch nicht. Was sollen wir mit den Büchern? Verkaufen können wir sie hier nicht, wir haben es versucht, es will sie niemand, und wir selbst haben keine Zeit zum Lesen, meine Mutter ist Waschfrau, und nach der Schulzeit muß ich ihr helfen.«
Da war alles erklärt, und ich konnte mit gutem Gewissen meinen geschenkten Schatz nach Hause tragen.
Ich hätte gern jemand an meiner Freude teilnehmen lassen, aber Frau Nagel sah immer so geistesabwesend aus, daß ich gar keine Verbindung anknüpfen konnte, da steckte ich das Buch zwischen meine Wäsche, und Sonntags, wenn ich mit der Arbeit fertig war, setzte ich mich in die Bodenkammer und vertiefte mich in die Schicksale meines geliebten Joseph. Meine Phantasie trug mich weit ins Morgenland, und mit Begeisterung lernte ich die gefühlvollen Verse.
Als ich eines Tages wieder hinaufkam, bot sich mir ein schmerzlicher Anblick. Die Kammer war bestreut mit Buchblättern. Ich sah nach, es war der zerrissene Joseph! Wer hatte mir das getan?
Weinend fragte ich unten. Willy lachte und sagte, er begriffe nicht, wie mich das so in Aufregung bringen könne. Das sei ja ein ganz albernes, gefühlsduseliges Buch. Ich sollte mir das Leben ansehen, die Rose pflücken, eh' sie verblüht, er meine es nur gut mit mir, Menschen und nicht Bücher solle ich mir ansehen. Welcher vernünftige Mensch denn heute noch an Joseph dächte, der wahrscheinlich überhaupt nie gelebt hätte. Er hätte hübschere Lieder, wenn ich nur wolle, könne ich sie bei ihm lernen. Ob ich wollte? Nein, ich wollte nicht, meinen Joseph wollte ich wieder haben. Weinend sammelte ich die Blätter zusammen und ging damit zu Frau Nagel. Ich bat sie um ihren Schutz und Beistand. Sie zuckte hilflos die Achseln und sagte endlich, da ich mich gar nicht beruhigen konnte: »Hier hast du ein paar Groschen, sieh zu, ob ein Buchbinder dir aus den Blättern wieder ein Buch binden kann.«
Der Mann, zu dem ich ging, wollte erst nicht dran, als er aber sah, wieviel mir an meinem Joseph lag, band er mir's für zwei Neugroschen ein.