Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Unsere Kinder

Vater und Sohn

Etwas Schöneres als unseren großen Garten konnte man sich für die Erziehung der beiden Mädchen nicht denken. Von klein auf waren sie draußen. Selbst im Winter, wenn Wind und Wetter nicht gar zu schlimm waren, konnten sie sich hier, im Schutze der Bäume, tüchtig bewegen.

Ein Kindheitsparadies war ihnen mit diesem Garten beschert, wie es jedem Kinde zu wünschen wäre. Kein Fürstenkind konnte es besser haben. Der Garten war Spiel-, Unterrichts, und Arbeitsstätte. Sie hatten das große Glück, ausschließlich unter den Augen der Eltern aufzuwachsen, die Zeit und Ruhe für alles hatten. Wie frei konnten sie sich entwickeln, und wie vielseitig und reichhaltig war das Material, das die Natur als Hilfsmittel für die Erziehung bot. Wie vertraut und intim verkehrten sie mit Pflanzen und Tieren.

Chary war etwa drei Jahr alt, da kam sie in höchster Aufregung zu mir und rief: »Mutter, komm ganz schnell! Vorn am Hause sind alle Ameisen Engel geworden! Komm, sonst fliegen sie fort!«

Ein andres Mal stand sie mit Käthe oben auf der Anhöhe und sah sinnend hinunter auf die Gipfel der Bäume. »Sieh nur, Käthe,« sagte sie, »was sich die Bäume da alles erzählen! Sieh mal, der Kleine will was von seinem Vater, aber der schüttelt den Kopf.«

Als sie heranwuchsen, wurde auch der Unterricht meist im Garten gegeben, sie lernten vielfach an der Gartenarbeit, ohne daß sie ahnten, daß sie unterrichtet wurden.

Wenn sie miteinander spielten, zogen sie Blumen, Bäume und Tiere in ihr Spiel, sie personifizierten alles, und auf diese Weise entstanden die niedlichsten Augenblicksmärchen, an denen sie selbst die größte Freude hatten.

Wie interessant war jeder Gast, der ins Pastorat kam. Mit welcher Freude begrüßten sie »Tante Agnes«, die Erzieherin aus dem Nachbarpastorat, die ihnen so schöne Puppenkleider nähte.

Es kamen auch Gäste, die die Nacht blieben. Jeden Herbst kam der Klavierstimmer, der Herrnhuter aus Christiansfeld. Er erzählte ihnen, wenn er fertig mit Stimmen war, von seinen Wanderungen und von dem Leben in den anderen Pastoraten.

Eines Tages wurde mein Mann kurz vor Tisch zu einem Kranken gerufen. Wir mußten eilig anrichten, und da hatte Schusters Dagmar, die schon lange bei uns diente, ganz gegen Landessitte, einen Handwerksburschen abgewiesen.

Als wir bei Tisch saßen, sah Chary versonnen auf ihren Teller, und als ich sie mahnte, doch anzufangen, sagte sie traurig: »Ich mag doch nicht! – Der Handwerksbursche! Dagmar hat ihn weggeschickt.«

»Na, dann geh und hol' ihn wieder,« sagte ich.

Nach einer Weile kam sie weinend zurück. Ich erschrak – konnte er ihr etwas getan haben?

»Warum weinst du denn so? War er nicht nett zu dir?«

Sie schluchzte heftiger und sagte: »Er will nicht wieder zu uns kommen!«

»Wo trafst du ihn denn?«

»Er sitzt draußen im Straßengraben und zieht seine Strümpfe aus, und die sind ganz kaput. Du könntest ihm doch heile geben.«

»Na,« tröstete ich, »wart' nur, es kommt wohl mal wieder einer!«

Wichtige Tage waren für die ganze Gemeinde, wenn die Kirchenvisitation abgehalten wurde, dann kam der Propst oder gar der Generalsuperintendent. Die Kinder standen in ihren Sonntagskleidern mit uns vor der Einfahrt, um den hohen Gast zu begrüßen. Der nächste Tag war, auch wenn es ein Wochentag war, ein großer Festtag. Meist war schönes Wetter, da die Visitation im Sommer stattfand. Die Glocken läuteten, und die kleine Kirche füllte sich mit der andächtigen Gemeinde.

Mit welcher Ehrfurcht hörten die Kinder neben der Mutter, wie erst der Vater von der Kanzel, und dann der Generalsuperintendent vom Altar die Predigt hielt. Da sie viel mit Schusters Kindern verkehrten, konnten sie mit der Zeit Dänisch sprechen und verstehen.

Zu anderen Leuten kamen sie selten, aber einmal wurden sie von Lille Jakobs Frau, Christiane Kaltoft, eingeladen. Die Leute waren von Jütland herüber gezogen, sie sprachen einen rauhen, fremdartigen Dialekt, und ich mußte mahnen, recht langsam zu sprechen, und selbst dann mußte ich mir Mühe geben, ihr Dänisch zu verstehen. Die Frau erweckte meine ganze Teilnahme, sie war ganz anders als die eingesessenen Bauerfrauen in der Gemeinde. Sie war ja auch freilich keine eingesessene Bauerfrau, viel eher hätte ich sie für einen Nachkommen der Zigeuner halten können. Sie liebte grelle Farben, und sie hatte starke Empfindungen, mit denen sie nicht zurückhielt. Ihre ärmliche Kate lag weit draußen, westlich vom Dorf, mitten in der braunen Heide. Haus, Vieh, Feld stand im Schuld- und Pfandprotokoll, sie arbeiteten hart, um die Zinsen aufzubringen.

Christiane Kaltoft (Kirkeby)

Ihr Mann wurde »Lille Jakob« genannt im Gegensatz zu dem Bauer Jakob. Die Frau litt stark an Heimweh, und dafür hatte ich Verständnis. In ihr vereinigten sich allerlei Gegensätze; trotz ihrer häufigen Niedergeschlagenheit hatte sie einen guten Mutterwitz, die humoristischen Fältchen in dem kleinen, spitzen, unschönen Gesicht nahmen sich sonderbar aus unter den verweinten Augen. Wenn sie mir erzählte, wie aufgeregt sie würde, wenn der Sturm die Wolken nach dem Norden jagte, dann bebte ihr kleiner, zarter Körper, und das Gesicht zuckte vor Schmerz.

Als sie mich mit den Kindern einlud, hatte sie mir geheimnisvoll gesagt, ich solle nur an einem schönen Sommertag mal kommen, sie habe auch einen Spaß für die Kinder.

»Kinder müssen doch 'mal lachen, das ist ihr gutes Recht. Das Leben wird nachher ernst genug. Ich mach' deshalb unsern Kindern oft 'mal einen Spaß. Da wir ein bißchen hoch liegen, kann man bei uns auch so schön den Sonnenuntergang sehen. Wenn die in der Ferne ins Meer sinkt, dann halte ich immer mit der Arbeit ein bißchen auf, das seh' ich mir an.«

Also die sah sich Wolken und Sonne an!

Ich war selbst ganz gespannt, was für einen Spaß unsere Kinder wohl bei Christiane erleben würden, und so gingen wir eines Nachmittags den weiten Weg durch die Heide. Unterwegs pflückten wir Heideblumen, und ich mußte den Kindern das Märchen von Andersen: »Vom großen und vom kleinen Klaus« erzählen. Das machte ihnen viel Spaß, und sie fragten: »Hat Lille Jakob denn auch kein Pferd, und muß er sich's vom großen Jakob borgen?«

»So wird's wohl sein,« sagte ich.

Hier war das einsam gelegene Häuschen. An der Hausmauer saß ein kleines Kind. Eine Kartoffelhacke war gegen die Hausmauer gelehnt. Zu Häupten des Kindes war ein dicker Büschel Kartoffelkraut an die Hacke gebunden. Ich begriff, das gab dem Kinde den nötigen Schatten. In der Hand hielt die Kleine einen ausgedienten Holzschuh, um den ein blauer Fetzen gewickelt war – eine billige Puppe!

Ein paar größere Kinder huschten bei unserem Kommen schnell in den Torfschuppen, von diesem sicheren Versteck aus guckten sie erstaunt und neugierig durch den Spalt der angelehnten Tür.

Dann kam lachend Christiane vom Torfstechen. Ihr kurzes Röckchen reichte ihr knapp bis über die Knie. An den schwarzen, nackten Füßen trug sie eisenbeschlagene, plumpe Holzschuhe. Gesicht, Arme, Hände, alles war ebenso schwarz wie die Füße. Um den Kopf hatte sie in malerischer Weise ein grellrotes Tuch geschlungen.

»Nun, Sie treffen mich bei der Arbeit,« sagte sie lachend, »aber ich gehe eben an die Pumpe und wasche mich. Komm doch, Petrea, sei nicht so dumm, und gib der Frau und den kleinen Mädchen die Hand, und dann ruft Vater, und sagt, wir hätten Besuch, und dann zeig' ihnen euer Spielzeug!«

Meine beiden näherten sich schüchtern einem kleinen, plumpen Holzwägelchen.

»Ja, ja, nehmt den nur und fahrt die Puppe. Jakob hat den Wagen gemacht, er macht auch alle unsere Holzschuhe und beschlägt sie mit Eisenblech. Er ist ganz klug und geschickt. Nun kommt aber herein, ich hol' euch ein Glas Milch, und wenn ihr getrunken habt, dann geht die Vorstellung los.«

›Vorstellung?‹ dachte ich, ›was hat sie bloß vor?‹

In der Stube mochten meine Kinder nicht gern sein, sie nahmen wieder ihre Sträuße und stellten sich mit den andern Kindern draußen hin.

Christiane warf einen gleichgültigen Blick auf die Heideblumen und sagte: »Solche Blumen pflückt ihr? Im nächsten Jahr findet ihr auf unserm Grund und Boden keine mehr. Im Herbst zünden wir unser Stück Heideland an, und dann machen wir's urbar und säen Buchweizen hinein. Das gibt noch Arbeit, zumal da wir kein Pferd haben und Jakob alles mit dem Spaten graben muß. Aber nun – ! Paßt auf!«

Sie flüsterte Jakob ein paar Worte zu, der ging an eine kleine Seitentür und öffnete sie.

»Ho! Ho!« riefen die kleinen Kaltofts und klatschten in ihre schmutzigen Hände.

»Das Schwein! Das Schwein!«

Sie kreischten und strampelten vor Vergnügen, die meinen aber drängten sich ängstlich an mich.

Ja, da war es! Hei, wie es ums Haus jagte. Es setzte wie besessen über den Düngerhaufen und plantschte durch die braune Pfütze! Kaltofts Kinder stellten sich an die Hausecke, und wenn es sich zeigte, jagten sie es zurück. Karen lachte über meine beiden, stellte sich übermütig hin und rief: »Ha! ich bin gar nicht – «

Da hatte das Schwein sie in seinem sinnlosen Hetzen umgerissen, sie streckte die Beine hoch, und Eltern und Kinder kreischten und zappelten vor Vergnügen.

Die konnten sich auf billige Weise einen »Zirkus Renz« mit all seiner Aufregung schaffen. Ich meinte, das Schwein sei nun wohl so erschöpft, daß es wieder zur Ruhe müsse. Das war aber andrer Meinung! Es freute sich der Freiheit und jagte wie besessen in die Heide und alle Kaltofts hinterher. Das Baby hatten meine Kinder im Blockwagen und suchten es vor etwaigen Angriffen des Schweines zu schützen.

Als das Tier endlich wieder unter sicherem Verschluß war, da hatten meine beiden genug von dem Spaß und wollten die Sonne doch lieber von unserm Garten aus zu Bett bringen.


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