Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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In der Großstadt

Meine Tochter hatte sich auf der Reise nach Sachsen soweit gekräftigt, daß sie bald nach unserer Rückkehr eine Stelle in einem Landpastorat annehmen konnte.

Die Älteste verheiratete sich, und ich blieb mit meinem Jungen allein.

Nun lebte ich in der Großstadt, mit zehn Partieen in einem Hause. Waren das nicht Menschen genug? In der einsamen Heide hatte ich sie mir ja so sehnlich gewünscht, nun hatte ich sie in Hülle und Fülle.

Da machte ich bald die Erfahrung, daß man sich nirgends einsamer und verlassener fühlen kann, als in einem großen Etagenhaus in der Großstadt. Es waren soviel Menschen, daß der eine sich vor dem andern wehrte, daß er sich abschloß. Man legte die eiserne Kette vor die Tür, – vielfach auch ums Herz!

In nächster Nähe spielten sich Schicksalsschläge ab, von denen man nur erfuhr, wenn es zu einer äußeren Katastrophe kam.

Eines Tages komme ich zu meinem Jungen, um zu sehen, ob er auch fleißig arbeitet. Er steht statt dessen vorm Fenster und schaut interessiert auf die Straße.

»Aber Addi!« rufe ich entrüstet, »nennst du das arbeiten?«

Er zeigt nach unten und sagt: »Sieh, da steht ein Krankenwagen.«

»Was geht das dich an? Wir sind doch hier nicht auf dem Lande, wo einen jeder Wagen ans Fenster lockt!«

»Nein,« sagt er zerstreut, »aber sieh doch, da bringen sie den Herrn aus dem Parterre heraus, – und sieh nur, – er blutet! Sieh doch!«

Ich erfahre, daß sich der Herr die Pulsader durchschnitten hat. Man hört gedampft Weinen und Wehklagen, – aber man hat kein Recht an das Leid des Nachbarn.

Wenige Tage danach ertönt aus der dritten Etage lustiger Gesang und Gläserklirren, da wird eine Hochzeit gefeiert. Auch die Freude, die dicht in unsrer Nähe so laute Formen annimmt, sie geht uns nichts an. Die eiserne Kette liegt vor der Tür! –

Wenn Addi gearbeitet hat, will er hinaus.

Heiß, schmutzig, mit wirrem Haar und funkelnden Augen kommt er wieder. »Wie siehst du denn aus? Was hast du denn getan?«

»Na, verhauen haben wir uns! Die Mottenburger sind unsre Feinde. Die Bande! Es ist eine Gemeinheit, sie werfen schlankweg mit Steinen nach uns! Junge! Junge! Wir aber drauf los! Ha, nur sich nichts gefallen lassen! Wenn sie aber mit Steinen werfen, verschanzen wir uns!«

»Wo denn?« frage ich seufzend, während ich ihm seine Kampfesrüstung abnehme. Sein Schild besteht aus einem großen Pappstück, über das er ein Katzenfell gezogen hat. Er hat auch einen Spieß und einen Kopfschmuck aus den Fransen eines abgesetzten Handtuchs.

»Ha,« sagt er, während er sich wäscht: »sieh mal da drüben hin, da auf dem freien Platz, sieh, unter der Dornenhecke, da haben wir eine tiefe Höhle gegraben, dahinein verschanzen wir uns!« Und die kleine Brust wogt, und die Augen glühen im Kampfeseifer.

»Addi!« sag' ich erschrocken, »ihr dürft nicht in die Höhle! Versprich mir, daß du da nicht hineinkriechst! Gerade vor ein paar Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, daß so eine Höhle eingestürzt ist, und daß ein Junge erstickt ist. Nicht wahr, du versprichst mir, daß du nicht mehr mitmachst? Ich hab' ja keine ruhige Minute mehr, wenn du nicht bei mir bist!«

»Ach,« sagt er ärgerlich, »gar nichts darf man tun! Ich mag so gern draußen sein!«

»Ja, ja mein guter Junge! Wart' nur, wir gehen zusammen in den Tannenwald.«

»Heute?«

»Nein, Sonntag.«

Und wir gehen.

Es sieht aus, als ob jeder sich gerade dieses Tannenwäldchen zum Ziel seiner Wanderung ausgesucht hätte. Wir gehen zwischen soviel Menschen, als gehörten wir zu einer Prozession. Ich kann kaum mit dem Kinde sprechen, ich kann keinen Gedanken fassen, weil sich jeden Augenblick ein neues Gesicht vor meinen Blick schiebt. Da sind viele Pärchen, die lachen und schwatzen. Viele aber sehen müde und stumpf aus. Da sind Eltern, die haben Kinder an der Hand, die sehen aber unlustig und heiß aus. Ein buntes Bild, aber kein durchaus frohes. Mir selbst ist, als ob ich Blei an den Füßen hätte, zwischen all den vielen Menschen fühle ich eine große Traurigkeit und Einsamkeit. Aber nun sind wir im Freien! In weitem Umkreis wachsen Tannen. Ach, das wollen Tannen sein? Diese kümmerlichen, armstarken Stämmchen, die so dicht beieinander stehen, daß sie keinen Platz haben sich zu entfalten. Bei vielen filzt sich das dürre Gezweig ineinander. Große Strecken sind mit Stacheldraht abgeschlossen. Aber hier können wir hinein. – Von Blumen und Pilzen hatte ich dem Kinde erzählt. Ein vorwurfsvoller Blick trifft mich. Sind das Blumen? Zwischen verstäubten Brombeerranken und einigen schüchternen Andeutungen von Heidekraut liegen abgerissene Geflechtstücke von alten Kinderwagen, ferner Bierflaschen, Eierschalen, Blechdosen und verbeulte Kochtöpfe. Wollte man hier aufräumen, man hätte weit mehr zu tun als auf dem Siebenlehner Scherbenberg. Mir ist, als hätt' ich etwas gut zu machen meinem Jungen gegenüber.

»Es tut mir leid,« sage ich entschuldigend, »aber wart' nur, in den Ferien darfst du auf's Land!«

Seine Augen leuchten: »Wieder zu Onkel Hensen nach Biestensee? Laß mich man lieber gleich ganz da, da werd' ich bei ihm Bauer, und das ist das Allerschönste!«

Und diesen Jungen hatte ich in die Großstadt gebracht! Welch ein Glück würde für den der Roagger Garten gewesen sein.

Nachts kann ich nicht schlafen, es ist heiß und stickig, und ich mache mir so viel trübe Gedanken. Sehnlich hatte ich mich einst fortgewünscht aus der einsamen Heide. Was hatte ich nun dafür eingetauscht? Wie würde gerade dieser Junge in dem großen Garten seine Willenskraft entfalten können, während sie ihn hier in sinnlosem Kampfe mit der Roheit auf Abwege führt.

Wie kann ich seinem Tätigkeitstriebe die rechte Richtung geben? In mein banges Fragen tönt von unten Gesang.

Was ist das, mitten in der Nacht?! Möbel werden umgestoßen, – beschwichtigende Stimmen reden aufgeregt auf die Singende ein. Das alles dringt gedämpft zu mir herauf.

Die Singende ist die kleine Schneiderin, ihr hungernder, gieriger Blick hat mich schon lange beunruhigt, nun ist das Gefürchtete da! Was mag sie so weit getrieben haben, daß sie nicht mit dem Leben fertig werden konnte? Hat sie sich zergrübelt? Sind es unerfüllte Hoffnungen, die sie in die geistige Umnachtung getrieben haben? Dahin kann man also kommen!

O Gott, nur das nicht! –

Der Winter kommt, der ist in der Großstadt eher zu ertragen. Nun sind die Freunde von ihren Sommerreisen wieder da, und wenn die Entfernungen auch weit sind, so sieht man einander doch zuweilen. – Ich sehe die Zeitungen durch, sie bringen spaltenlange Anzeigen von Vergnügungen, die suche ich aber nicht. Hier ist eine Liste der Vorträge, das paßt mir besser, denn ich habe noch große Lücken auszufüllen. Was lockt mich denn? Englische Literatur von Miß Macdonald. Deutsche Literatur von Professor Litzmann, und hier – dänische Vorträge von Mylius Erichsen. Entdeckungsreisen nach der grönländischen Polarregion.

Das muß ich hören! Der Vortrag führt uns in die Welt des ewigen Eises. Erschauernd folgen wir im Geiste dem kühnen Forscher in die uns fremden, kalten Schneegefilde. Als er geendet hat, möchte ich ihm ein Wort des Dankes sagen.

Ich überwinde meine Scheu und frage, ob ich diesen Vortrag übersetzen darf. Leider komme ich dafür zu spät, aber er hat auch anderes geschrieben, ob ich ihn nicht besuchen will, dann können wir mit mehr Ruhe darüber sprechen. Am nächsten Tag besuche ich ihn im »Skandinavischen Hotel«.

»Hier,« sagt er, »habe ich eine Wanderung durch die jütländische Heide, die ich einmal mit einem Freunde, einem Maler, gemacht habe, wenn Sie die übersetzen wollen?«

Es interessiert ihn, daß ich so lange in dieser Gegend gelebt habe, da muß ich doch Land und Leute kennen. Diese biederen, kindlichen Menschen. Ich kann seinem Urteil zustimmen, muß ihm aber gestehen, daß gerade mir Land und Leute recht viel zu schaffen gemacht haben.

Er zuckt die Achseln und sagt: »Es war nicht Ihre Heimat, und die politischen Verhältnisse erschwerten natürlich ein Zusammenleben.«

Er kommt dann auf seine Forschungsreisen, und ein neuer Ausdruck kommt in sein feines, bewegliches Gesicht. Unwillkürlich gleitet mein Blick über die zart gebaute Gestalt, und ich frage ihn, ob sein Körper diesen Strapazen gewachsen ist.

Er sieht mich ernst und nachdenklich an, dann sagt er: »Lesen Sie diese Gedichte, die sind in der Eisregion entstanden. Aus den verschiedenen Stimmungen, die diese Verse widerspiegeln, werden Sie eine Ahnung bekommen, welchen Leiden wir entgegengehen, aber Sie werden auch sehen, welcher Zauber darin liegt, unentdeckte Länder zu durchforschen. Ein beglückendes Herrschergefühl schwellt uns die Brust, wenn wir ungehemmt auf unseren Schlitten die unermeßliche Ebene durchsausen. Wie wächst uns der Mut, wenn wir mit Eisbären und Seehunden zu kämpfen haben! Denken Sie, welche Stimmungen löst eine Mondnacht in uns aus! Alles ist groß! Das Schweigen, die Einsamkeit, die unermeßliche Weite! Und der Verkehr mit den fremdartigen Menschen, den Eskimos, die wir nicht mehr verstehen, unter denen wir aber doch die Erfahrung machen, daß sie menschliche Empfindungen haben, wie wir auch. Ha, bald geht's wieder los! Sobald ich nach Kopenhagen komme, rüste ich zu einer neuen Reise. Hei, wenn wir erst wieder mit unsern Hunden über die Eisfelder sausen! Da kann uns nichts hemmen, vorwärts ist unsere Losung!«

Er nahm das Buch, schrieb eine Widmung hinein und reichte mir zum Abschied die Hand.

»Wenn mich das ewige Eis nicht behält,« sagte er ernst, »dann sehen wir einander hoffentlich wieder!«

Wir haben einander nicht wiedergesehen.

Ihn deckt der Schnee mit dem Totenkleid.
Verschollen, – verweht in der Einsamkeit!


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