Charitas Bischoff
Bilder aus meinem Leben
Charitas Bischoff

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Johanna

Abends mußte ich vorlesen, hauptsächlich Reisebeschreibungen. Da erinnere ich besonders die merkwürdigen Erlebnisse der Ida Pfeifer. Manche Reiseberichte waren aber trockene Aufzählungen, ich konnte nicht folgen, las schlecht, kämpfte mit dem Schlaf, bis mich eine scharfe Mahnung des Vaters wieder wach machte. Ich las aber auch Jugendschriften von Gustav Nieritz und von Franz Hoffmann. Einmal las ich ein Buch: »Johanna,« für die Jugend bearbeitet von Henriette Stief. Dabei schlief ich nicht, ich weinte so, daß mir die Mutter das Buch fortnahm und so lange selbst las, bis ich mich beruhigt hatte. Mit welcher Anteilnahme verfolgte ich den Lebensgang dieser Heldin! O, wie litt ich mit ihr! Die Eltern waren tot, sie kam zu fremden Verwandten, die sie hart behandelten. Das konnte ich ihr doch alles so nachfühlen! Die Verwandten schickten sie später in eine Anstalt, da mußte sie viel lernen. Hier verlor sie ihre beste Freundin durch den Tod. Nach langen Jahren stillen Ringens und Kämpfens wurde sie Gouvernante, und zum Schluß heiratete sie einen Pastor, der hieß John und war so gut, daß ich vor Rührung wieder viele Tränen vergoß. Ich lebte lange Zeit nur in dieser Geschichte, und da der Anfang mir Ähnlichkeiten mit meinem eignen Leben zu haben schien, so redete ich mir fest ein, dieses ganze Leben, so wie Johanna es gelebt hatte, würde auch ich durchleben, und ich fragte mich oft bang, ob ich es wohl aushalten könnte, das alles durchzumachen, was die arme Johanna zu leiden gehabt hatte. Wenn man es nur aushielte, zuletzt wurde alles gut. Ich lebte so in der Geschichte, daß sie mir bis auf alle Äußerlichkeiten ein Vorbild wurde. Ja, natürlich, ich wollte auch so ein schlichtes, schwarzes Kleid haben mit einem schmalen, weißen Streifen um Hals und Handgelenke. Wenn nur all das Schwere erst überstanden wäre, was natürlich auch für mich noch kommen würde, und wenn ich nur klug genug war, das alles zu lernen, was Johanna gekonnt hatte. Das Schwerste war doch wohl Französisch! Wenn ich doch bald damit anfangen könnte, damit es nicht zu spät würde! Als ich einmal mit der Mutter botanisieren ging, bat ich sie eindringlich, mich doch bald recht viel lernen zu lassen, besonders Französisch. Die Mutter Hütte mich ruhig an und sagte: »Wenn es uns nur besser ginge, würden wir dich nach Herrnhut schicken, aber das kostet viel Geld, und du weißt, noch haben wir das nicht. Aber ich habe ein altes französisches Buch, das habe ich, als ich noch in der Niederstadt bei den Eltern war, einmal für einige Pfennige auf einer Auktion gekauft. Ich wollte damals auch gern Französisch lernen. Ich hab's auch versucht, aber – es ging doch nicht. Sieh mal zu, ob du besser damit fertig wirst, ich fürchte nur, es hat keine Art, wenn man nicht jemanden hat, der einem hilft.«

Und ich machte mich über den »Kleinen Ahn« her, ich lernte Vokabeln mit deutscher Aussprache, dann verlor ich aber bald den Mut und gab traurigen Herzens dieses Studium auf, nicht aber meine Zukunftspläne. Wie sehnlich erhoffte und wünschte ich, daß wir bald soviel Geld hätten, daß ich nach Herrnhut könnte.

Ich lebte so in der Geschichte und in meinen Zukunftsplänen, daß ich mich durchaus darüber aussprechen mußte. Ich mußte die Geschichte meinen Gefährtinnen erzählen. Wo es laut und roh herging, mochte ich nicht dabei sein. Ich mied alle lauten Spiele, aber manchmal versammelten sich einige, die sowohl selbst gern erzählten oder gern zuhörten, wenn erzählt wurde. Wie schön konnte Pastors Hermine erzählen. Sie hatte zuletzt »Die Löwenritter« erzählt, da waren wir im Geiste klopfenden Herzens mit nach Palästina gezogen und hatten die Sarazenen bekämpft. – Nun war ich wieder an der Reihe. Auf den Stufen eines aufgetreppten Hauses am Marktplatz saßen wir und leiteten die künftige Geschichte durch einen Trunk Lakritzenwasser ein, was die eine oder andere in solchen Dämmerstunden spendierte. Ich konnte kaum erwarten, bis alle ruhig waren, daß ich erzählen konnte. Aber nur ich war bewegt von Johannas Schicksalen. Die andern wurden ungeduldig, und als ich das fühlte, eilte ich zum Schluß.

»Du,« sagten sie, »die Geschichte ist langweilig! Die letzte, die du neulich erzähltest, die war viel hübscher. O, wie war die schön! Schon der Name, Antoinetta Czerna, die Tochter der Wildnis! Das klingt doch ganz anders als nur so ebenweg: ›Johanna‹. Und wie es einen gruselt, wenn sie auf den Hirsch gebunden wird, und der nun mit ihr durch die Wälder jagt!«

Ich fühlte mich getäuscht und bedrückt und nahm mir vor, gar nicht wieder auf den Markt zu kommen, nie wieder eine Geschichte zu erzählen. Allein wollte ich von nun an sein. Aber das konnte ich ja gerade nicht. War ich zu Hause, hatte ich mit den Pflanzen zu tun, und doch wollte ich so gern das bißchen freie Zeit ganz für mich haben. Wenn ich so traurig war, wie eben jetzt, dann wollte ich so gern mich ausweinen, aber das durfte niemand sehen. Da bat ich die Mutter vom Himmel zur Erde, sie möge mir doch ein kleines Plätzchen geben, wo ich mir meine »Stube« einrichten konnte. Sie sagte: »Du verlangst etwas Unmögliches. Wo soll ich denn den Platz zu einer Stube für dich hernehmen? Alle Kammern sind voll Sammlungen. Platz ist leider höchstens in der Holzkammer, weil wir immer knapp mit Feuerung sind.«

Die Holzkammer! O, wenn ich die nur haben durfte! Sofort erbat ich mir den Schlüssel, schleppte Holz und Reisigbündel ganz unters Dach, schob die große, grüne Truhe unter das kleine, hoch im Dach angebrachte Fensterchen, stellte einen Stuhl auf die Truhe, nagelte an die bräunliche Lehmwand eine Kiste mit einem Schiebedeckel, und das war mein Schrank. Ich wußte mich vor Glück über mein Stübchen gar nicht zu lassen. Eifrig packte ich meine Schätze in meinen Schrank. Ich bettelte mir ein Tintenfaß, Feder, Bleistift und Papier, das kam in den Schrank und außerdem ein schönes rotes Glas und ein Kahn aus Wachs. Kein König konnte sich reicher fühlen. Wie lebhaft redete ich auf die Mutter ein und zeigte ihr begeistert alle Vorteile und Schönheiten meines kleinen Reiches.

»Hier willst du schreiben?« fragte die Mutter, »du hast ja aber keinen Tisch?«

Ich zeigte triumphierend auf die kleine Fensterbank, die nur spärliches Licht durch die runden, bleigefaßten Scheiben erhielt.

»Aber was willst du denn schreiben?« fragte die Mutter, »Französisch?«

Ich schüttelte traurig den Kopf und sagt«: »Das kann ich nicht.«

»Nein,« meinte die Mutter, »aber was kannst du denn?«

»Ich dichte,« sagte ich mit bescheidenem Stolz.

»Du – dich – test?!«

»Ja, die Wenzel-Liddi hat ein Gedicht auf ihren Großvater bestellt, das hab' ich angefangen.«

»Da bin ich doch neugierig! Zeig' mal her!«

Ich sträubte mich, endlich aber gab ich der Mutter ein Stück Papier, das ich in der Kleidertasche mit mir herumtrug.

»Der Großvater der Wenzel Liddi,« sagte die Mutter nachdenklich, »das ist doch der alte Schuster aus der Niederstadt.«

»Ja, ja, der. Kennst du ihn?«

»Freilich, den alten Schuster Reimann kenne ich doch. Auf den willst du ein Gedicht machen? Das wird wohl nicht leicht. Na, nun laß mich's doch mal lesen.«

Ich drückte mich verlegen an die Wand, während die Mutter sich möglichst nahe unters Fenster stellte. Sie las halblaut:

»Dein Großpapa, ein Greis,
Er ist vor Alter weiß.
Doch rüstig geht er immerdar
Und freut sich seiner Enkel Schar.
Der Großpapa wird's so noch lange treiben
Und viele Jahre noch in Eurer Mitte bleiben.
Bis endlich ihm ein schönres Leben winkt,
Er ruhmgekrönt in Grabesnacht versinkt.«

Die Mutter gab mir lachend, kopfschüttelnd den Zettel zurück und sagte: »Das ist schon wahr, du kannst den Leuten was andichten, auf eine Handvoll Ruhm kommt's dir nicht an.«

Kurze Zeit danach kam ich von einer Besorgung zurück. Auf meinem Arbeitstisch stand ein großer Kuchen. Ich wunderte mich, die Mutter war nicht da, sonst hätte ich die gefragt, da drehte sich der Vater zu mir und sagte streng: »Was ist denn das mit diesem Kuchen? Wie kommst du denn dazu?«

»Ich?« stotterte ich verlegen, »ist denn der Kuchen für mich?«

»Ja, aber wie hängt denn das zusammen? Ich hab' keinen Sinn hineinbringen können. Ein Mädchen in deinem Alter war hier, die brachte ihn und sagte: sie solle grüßen von den Eltern und vom Großvater, und hier wäre ein Kuchen für das schöne Gedicht. Was bedeutet das?« Mir schwindelte, die Stube drehte sich mit mir. Also das Gedicht hatte gefallen, ich hatte sogar etwas sehr Schönes dafür bekommen. O, und nun hatte ich eine Stube für mich, wenn ich doch recht viel dichten könnte, darüber würden sich die Leute freuen, und sie würden mich dafür lieb haben, und das müßte herrlich sein. Der Vater aber setzte einen Dämpfer auf meine Ruhmesträume und sagte: »Daß du solche Sachen nicht wieder tust! Eingebildeter, kleiner Narr! Ich muß wohl dafür sorgen, daß du nicht soviel freie Zeit hast, damit du nicht auf so dumme Gedanken kommst.«

Da war ich aus allen Himmeln gerissen, und als ich später in die Holzkammer schlich, da machte ich alle Qualen einer verkannten Dichterseele durch.


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