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Bild: Fritz Bergen

Als sich auf dem Rigi die Hotelgesellschaft einfand …

20. In der Pension.

Auf der Schweizerreise mit dem Papa waren bei Hildchen anfangs noch kleine Schwermutsanfälle eingetreten; sie wurde still, blickte mit feuchten Augen in die Ferne, und bei allem, was Baldinger sagte, fragte sie zerstreut: »Wie, Papa? Was sagst du, Papa?«

Doch dieser gütige Papa behandelte das unaufmerksame Töchterchen mit auffallender Nachsicht. Er entwickelte eine Geduld, über die er selbst erstaunte, und übte eine zarte Rücksicht, die auch an Hildchens jetzt etwas träumerischem Gemüt nicht unbemerkt vorüberging.

Aber als sich einmal auf dem Rigi die ganze internationale Hotelgesellschaft in den wunderlichsten Kostümen in der kalten Morgenluft einfand, um den Sonnenaufgang zu bewundern, brach Hildchens Jugendlust wieder in herzerfrischendem Lachen hervor.

In Genf war der Abschied von dem geliebten Vater nicht leicht; aber sie blieb ja nicht allein unter fremden Menschen zurück: Mariechen stand an ihrer Seite, als sie ihm die letzten Grüße zuwinkte.

Freilich folgten dann in der Pension einige recht ungemütliche Tage. Zum erstenmal sah sich Hildchen unter lauter fremden Gesichtern, neugierige Augen waren auf sie gerichtet, und jede Unterhaltung spann sich in Fragen und Antworten ab.

Doch wieder einige Tage später erwachte Hildchen mit dem Bewußtsein, daß sie zu einem Kreise liebenswürdiger, heiterer und wohlerzogener Mädchen gehöre, mit denen sie schon in trautem Verkehr stand.

Manchmal überfielen sie freilich noch Stunden, wo sie sich auf Mariechens Stube flüchtete – denn sie selbst hatte kein eignes Zimmer – und sich, weil sie nicht gleich nach der Heimat fliegen konnte, wie ein gefangener Vogel vorkam. Wenn der Mond sein Bild in den Wellen des Sees badete – Hildchen sah von den Fenstern nach dem Wasser –, dann war sie sogar geneigt, ihrer Sehnsucht in Versen Ausdruck zu geben.

Die Verse deuteten immer nur auf etwas Unbestimmtes, Unaussprechliches hin, wonach ihre Seele verlangte, und so konnte wohl weder der kleine Kommerzienrat noch die gute Tante Mile oder Fräulein Schönchen damit gemeint sein. Hildchens Sehnsucht war aber auf gar nichts Unbestimmtes, Unaussprechliches gerichtet, sondern galt einer ganz bestimmten Person, mit dem nicht unaussprechbaren Namen Walter Roland. Doch selbst ihrem Mariechen, dem sie alle Gedanken offenbarte, konnte sie dieses Herzensgeheimnis nicht enthüllen; sie hätte den Namen, der ihr früher so geläufig war, nicht über ihre Lippen gebracht. Sogar in ihren Briefen schien es ihr nicht möglich, unbefangen nach ihm zu fragen, so sehnlich sie auch nach einer Nachricht über ihn verlangte.

Baldinger, der mit jungen Mädchenherzen nicht gerade Bescheid wußte, wollte das nicht gefallen. »Warum nur die Hilde nicht einmal nach dem Walter fragt?« brummte er.

»Wetterfahnen und Mädchenherzen drehen sich bei jedem Winde,« erklärte die in Herzensangelegenheiten auch nicht viel klügere Mile.

Steinbach aber fand in Hildchens Schweigen das deutliche Zeichen einer tiefern Neigung.

»Nun bin ich aber doch neugierig, wie sich die Geschichte abspielen wird!« meinte Baldinger sehr beruhigt.

Zu Hildchens großer Freude war ihr endlich erlaubt worden, eine Stube mit Mariechen zu teilen, und so fanden die beiden Mädchen allabendlich ein Stündchen, wo sie ihre Gedanken austauschen konnten.

Mariechen schien nicht glücklich, und doch beklagte sie sich niemals; mit gleichmäßiger Freundlichkeit erfüllte sie ihre Pflichten, ja sie scherzte und lachte sogar mit den Zöglingen.

Sobald sie sich aber unbeachtet glaubte, veränderte sich ihr Ausdruck, und einmal wurde sie von Hildchen in Thränen überrascht. Da kam endlich die Wahrheit zu Tage.

»Ach, Hildchen, ich fürchte, Mutter und ich haben eine große Schuld auf unser Gewissen geladen; durch unsre blinde Liebe haben wir Fe nur geschadet. Gerade bei ihren Anlagen zur Eitelkeit und Gefallsucht mußten wir sie zu einem einfachen, arbeitsamen Leben erziehen. Vielleicht hätten wir nichts erreicht, denn ihr ganzes Wesen drängt nach Glanz und Bewunderung, und ihre Schönheit scheint sie zu einem solchen Leben auch zu berechtigen; aber wir hätten uns dann doch keine Vorwürfe machen müssen. Mir sind wohl schon früher Bedenken aufgestiegen, allein Fes süßes Wesen – du kennst sie ja – hat alle Gedanken an ihre Selbstsucht wieder verscheucht. Erst hier, fern von dem lieblichen Geschöpfe, habe ich die Wahrheit erkannt. Mutter aber steht jetzt ganz allein unter Fes Einfluß; sie schreibt nur von Fes Triumphen, und ich glaube, sie würde die Wahrheit gar nicht ertragen können. Dennoch frage ich mich, ob es nicht meine Pflicht sei, ihr die Augen zu öffnen, denn ich sehe Fe in großer Gefahr. Mutter war stets von peinlicher Gewissenhaftigkeit und kaufte nie etwas, als was sie auch bar bezahlen konnte; jetzt aber entnehme ich einigen Andeutungen, daß sie Rechnungen für Fes Garderobe nicht mehr sofort berichtigt. Mein Gehalt reicht für die Ansprüche einer jungen Salondame nicht aus, wenn sie anfangen, Schulden zu machen! O, mein Gott, wohin soll das führen.«

Im nächsten Augenblicke lag Hildchens Taschengeld in Mariechens Schoß.

»O, wie glücklich bin ich, wenn das deine einzigen Sorgen sind, Mariechen!« rief sie. »Ich kann dir ja helfen, und Papa wird nicht leiden, daß deine Mutter Schulden macht. Wir sind Verwandte, von uns dürft ihr alles annehmen, und es ist gewiß kein Unrecht, wenn wir euch helfen.«

»Von euch ist es Güte, aber von mir, die ich Fes Charakter erkannt habe, wäre es ein Unrecht, Hildchen.«

»Sage doch das nicht! Verdirb mir nicht die Freude! Ich bin ja so selig, etwas für dich thun zu dürfen!«

»Mein liebes Herz, es kann sein, daß eine Stunde kommt, wo ich dich um Geld bitte – aber jetzt die Schulden bezahlen, wäre der falscheste Schritt, den wir thun könnten. Wenn Fe erst erfährt, daß es eine Goldquelle giebt, an der sie ihren Eitelkeitsdurst löschen kann, wird sie unersättlich werden. Im Gegenteil, sie muß die Not fühlen, sie muß der Mutter Angst teilen, damit sie ihre Ansprüche mäßigen lernt.«

Hildchen konnte nicht widersprechen, doch fühlte sie sich enttäuscht. Helfen zu dürfen ist ein großes Glück, nun mußte sie Mariechens Sorgen teilen, ohne ihr beistehen zu können; das machte sie ernster und nachdenklicher. Im Verkehr mit den Pensionärinnen trat dieser Ernst freilich nicht hervor, Hildchen war in ihrem Kreise heiter, ja fast übermütig. Diese tiefere Seite ihres Charakters entfaltete sie nur vor Mariechen.


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