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10. Der erste Mißton.

Herr Baldinger hatte sich nicht entschließen können, sein Töchterchen in zartem Kindesalter schon einem Pensionate anzuvertrauen. Lieber nahm er eine Erzieherin ins Haus, und Fräulein Schönchen rechtfertigte seine Erwartungen. Als Hildchen älter wurde, erschienen in Wermsdorf etlichemal in der Woche ein Sprach-, ein Zeichen- und ein Musiklehrer. Freilich würde es Baldinger lieber gesehen haben, wenn Hildchen den Unterricht mit einigen gleichaltrigen Mädchen hätte teilen dürfen. Zufällig aber befanden sich weder unter den Beamten in Wermsdorf, noch in der nächsten Umgebung Familien mit Töchtern.

Bei dieser nicht ganz normalen Erziehung war Hildchen nun zwar nach mancher Richtung hin weiter ausgebildet, auch verständiger geworden, als andre Mädchen ihres Alters. Dafür fehlte ihr wieder das, was ihr nur der Verkehr mit jungen Mädchen geben konnte. In mancher Beziehung war sie altklug, andrerseits blieb ihr vieles fremd, wofür sich Mädchen sonst lebhaft interessieren. Romane waren, dank Fräulein Schönchens Vorsicht, noch nicht in Hildchens Hände gelangt, und selbst die Freuden der Tanzstunden sollten ihr vorderhand noch verschlossen bleiben, denn Tanzstunden kann ein junges Mädchen nicht allein nehmen. Darum wurde es von Baldinger und Fräulein Schönchen mit Freuden begrüßt, als sie erfuhren, daß sich ein Herr Loritz, der in Kiesberg eine große Spinnerei eingerichtet hatte, mit seiner Familie, zu der zwei junge Töchter gehörten, dort niedergelassen habe. Baldinger selbst hatte es gegen diesen Herrn ausgesprochen, wie sehr es ihn freuen würde, wenn Hildchen an seinen Töchtern einen passenden Umgang fände.

An ihrem Geburtstag waren Marietta und Paula Loritz zum erstenmal eingeladen worden, und Hildchen brannte vor Verlangen, sie kennen zu lernen. Ihre Phantasie malte ihr schon die reizendsten Backfischchen aus.

Seit einigen Wochen lebte auch im Hause des Pastors Horner eine Nichte, »das Klärchen«, wie das junge Mädchen genannt wurde.

Klärchen war das einzige Kind einer schon alternden Mutter, die mit drei noch viel ältern unverheirateten Schwestern in Aschersleben wohnte. Daß das Kind bei diesem Zusammenleben ein bißchen altmodisch geraten war, schien kein Wunder.

Bei einer Gelegenheit hatte Klärchen, nicht zum besondern Vergnügen der Tanten, das Alter der vier Damen zusammengezählt, und wenn sie einmal rebellisch wurde, spielte sie die Ziffer aus. »Mutter und Tanten zusammen zählen 235 Jahre. Es ist wirklich kaum zu glauben, wie alt sie sind.« Das erzählte sie aber mit einer ganz unschuldigen Miene.

Vielleicht war es auch kein Wunder, daß Klärchen manchmal rebellisch und sogar ein bißchen boshaft werden konnte. Die übergroße Liebe und Verzärtelung einer Mutter und dreier Tanten waren erdrückend, oft unerträglich. Doch sich offen zu empören, wagte Klärchen nicht; dazu war sie zu gut dressiert.

Kein rauhes Lüftchen sollte das Kind berühren, und auf jedes offene Fenster stürzten sich Mutter und Tanten wie die Aare, um es zu schließen. Klärchen schlief mit ihrer Mutter in einem luft- und lichtlosen Alkoven, unter dicken Federbetten. Sie wurde nur mit warmem Wasser gewaschen und durfte nur überschlagenes Wasser trinken. Ging die Familie an schönen Sommertagen einmal spazieren, so saß sie gewiß nach Sonnenuntergang schon wieder daheim hinter geschlossenen Fenstern. Aber im Winter ausgehen, hielten alle für das größte Wagnis. Die beiden ältesten Tanten verließen nach dem ersten Schnee nie mehr das Haus, die übrigen trafen vor einem Ausgange lange Vorbereitungen und fanden bei der Rückkehr schon gewärmte Strümpfe, Schuhe und heißen Rotwein vor, um der eingeatmeten »schlechten« Luft zu begegnen.

Ebenso wie Klärchen körperlich verzärtelt wurde, mußte auch ihr Geist unter dem steten Altersdruck ihrer Umgebung verkümmern. Niemals hatte das arme Kind gesungen, gelacht oder war herumgesprungen wie andre Kinder. Wie sollte es bei so falscher Behandlung gedeihen?

Da erschien der gute Pastor Horner als Retter in der Not. Er war der einzige Bruder der vier alten Schwestern und zugleich Klärchens Vormund. Das verschaffte ihm das Recht, einmal ein Machtwort zu sprechen und sein Mündel nach Wermsdorf mitzunehmen.

Als der Pastor seiner Frau die zarte Nichte brachte, sagte er: »Du mußt aus diesem verhutzelten alten Weibchen ein junges frisches Mädchen zu machen versuchen.«

Die gute Frau Pastor besaß den besten Willen, diese Verjüngung ins Werk zu setzen, aber die Umwandlung vollzog sich nicht so schnell, wie ihr Mann hoffte. Klärchen bekam zwar bald ein frischeres Aussehen, auch wurden ihre Bewegungen etwas lebhafter, doch weit schwerer schien, ihre geistige Gesundheit herzustellen; denn ihre Seele wohnte gleichsam in einem zu engen Häuschen, und die Fenster in diesem Seelenhäuschen waren nicht einmal klar und hell. Betrachtete nun Klärchen durch diese trüben Fensterchen die schöne Welt, so sah die ganz häßlich und verschroben aus. Ein solches Seelenhäuschen aber, das im Laufe vieler Jahre auf- und ausgebaut worden ist, kann nicht gleich verändert oder eingerissen werden.

Dabei war Klärchen auch, wie alle Menschen, die in beschränktem Kreise leben und nur ein ganz kleines Winkelchen Erde übersehen, sehr hochmütig. Sie saß auf ihrem Thrönchen und bildete sich ein, daß sie ein wichtiges Persönchen wäre. Natürlich wollte sie auch ihre Weisheit gern leuchten lassen, besonders Hildchen gegenüber.

Da mußte Hildchen manchmal ganz herzhaft lachen und rief: »Aber du bist komisch!«

Doch weil Hildchen durch Umgang nicht verwöhnt war, schien sie ganz vergnügt, in Klärchen eine Gefährtin gefunden zu haben. –

Walter hatte an Hildchens Geburtstag die Einladung seines Chefs zum Mittagessen unter einem Vorwande abgelehnt, und Hildchen that nicht, als vermisse sie ihn. Im Gegenteil, es war ihr ganz recht, an die peinlichen, am Morgen durchlebten Augenblicke nicht durch seine Gegenwart erinnert zu werden. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken und sich durch sein Benehmen die Freude an ihrer ersten Mädchengesellschaft nicht trüben lassen.

Pünktlich um drei Uhr stellte sich Klärchen ein.

Wie alle jungen Mädchen, die sich gern zeigen wollen, schwänzelte sie ein wenig und machte sehr kleine Schrittchen. Das Altmodische und Altkluge in ihrem Wesen kam selbst in der Kleidung zum Ausdruck. Es sah aus, als wäre das schmale Figürchen auch noch so eng geschnürt, daß es gar nicht Luft schnappen könnte. Zum Glück war Klärchen der Meinung, sie sei sehr apart und ganz modern angezogen, doch darf man nicht glauben, daß Klärchen nicht auf ihr Aeußeres gehalten hätte. Ganz im Gegenteil. Eine halbe Stunde hatte sie damit zugebracht, die paar aschblonden Härchen aufzupuffen und das rote Schleifchen so anzustecken, daß es gut gesehen wurde.

»Vor der Hilde ist mir's ganz egal, wie ich aussehe,« bemerkte Klärchen beim Fortgehen zur Frau Pastor, »aber die reichen Fabrikantentöchter sehen darauf, ob man nach der Mode ist.« – Und fest davon überzeugt, daß sie »nach der Mode« sei, hob Klärchen das kurze Röckchen – nicht aus Eitelkeit, Gott behüte, obgleich sie recht niedliche Füßchen hatte – nein, sie wollte nur mit dem Kleidersaume, der handbreit absteht, die feuchte Erde nicht streifen, vielleicht auch die hübschen weißen, selbstgestrickten Strümpfchen zeigen. Klärchen war nämlich von ihrer Tante Selma belehrt, daß nur weiße Strümpfe »proper« seien; bei schwarzen könne man nie wissen, wie lange sie schon getragen wären.

Die Loritzens ließen aber lange auf sich warten, und es war kein Wunder, wenn sich Klärchen mit Hildchen langweilte. Hildchen lief alle Augenblicke ans Fenster, um hinauszuschauen, dann guckte Klärchen auch durch die Scheiben und sagte: »Die wollen gewiß recht vornehm thun.« Darauf setzten sich die beiden wieder hin. – Das ging so eine Stunde lang fort – ans Fenster und wieder zurück an den Kaffeetisch. Aber die Stunde währte für sie gut zwei Stunden und noch darüber. Klärchen wurde es schon ganz schwach, denn in der Aussicht auf die Geburtstagstraktamente hatte sie sich zu Mittag nicht satt gegessen.

Endlich! Um die Ecke bog ein niedlicher Ponywagen und darin saßen zwei junge Damen in den reizendsten Frühjahrsanzügen, von denen die eine kutschierte. Hinten saß mit untergeschlagenen Armen ein kleiner Bedienter.

»Gewiß kutschiert Marietta,« meinte Hildchen.

»Nein, das muß Paula sein,« meinte Klärchen. Ihr hungriger Magen zwang sie zum Widersprechen.

»Der Ponywagen ist doch entzückend!« sagte Hildchen.

»Ach, weißt du, ich finde, es sieht so aus, als wollten die sich zeigen,« – meinte das widerhaarige Klärchen, rümpfte ihr Näschen und setzte sich wieder aufs Sofa, mit dem festen Entschlusse, diesen Ehrenplatz unter keiner Bedingung zu räumen.

Hildchen hatte sich in ihrem dummen Köpfchen eingebildet, daß sie die »Zukunftsfreundinnen« gleich mit einer Umarmung empfangen würde. Als jetzt aber die eleganten jungen Damen, jede mit einem großen Bouquet seltener Treibhausblumen, eintraten, machte sie nur ein ganz steifes, ungeschicktes Knickschen und nahm ihre Gaben mit verlegenem Lächeln in Empfang.

Bild: Fritz Bergen

Um die Ecke bog ein niedlicher Ponywagen …

Ich würde mich doch ganz anders benehmen, dachte Klärchen auf dem Sofasitze.

Tante Mile, die Hände auf die Kniee gestützt – ihre Lieblingsstellung – sah dem Besuche gleichfalls neugierig entgegen, und Fräulein Schönchen, die vor den aufgestellten Tassen saß, um die Schokolade einzuschenken, verglich die Eintretenden unwillkürlich mit ihrem Zögling.

Klärchen erhob sich nicht, weil sie sich vorgenommen hatte, sich von den »Fabrikantentöchtern« nicht imponieren zu lassen, und wären sie auch in Samt und Seide aufgetakelt. Ihr Vater war königlich preußischer Beamter gewesen – in ihren Augen die erste Stellung, die ein Mann einnehmen konnte, und je eleganter die Fräulein Loritz aussahen, um so krampfhafter klammerte sich Klärchen an des Vaters Rang, obwohl es in diesem Zimmer kein Mensch, außer ihr selbst, wußte, daß jemals ein Kanzleirat Buller gelebt hatte.

Die jungen Damen wußten aber, was sich schickte. Sie marschierten stracks auf die verblüffte Mile los; dann machte ihr Marietta eine tiefe Verbeugung, und dann machte Paula eine tiefe Verbeugung. Vor Tante Mile hatte sich ihr Lebtag noch niemand so tief verbeugt; dadurch wurde sie natürlich verlegen.

»Ach, wozu denn? Ach, machen sie doch keine Umstände!« wehrte sie, nicht bloß mit Worten, sogar mit der Hand; dann hielt sie es, da Hildchen über die Blumen nichts gesagt hatte, für ihre Pflicht, sich darüber bewundernd auszulassen, und schließlich erklärte sie: »Es wird heute auch Schokolade setzen. Es ist ja Geburtstagsfeier; denn im allgemeinen bin ich sehr dagegen, daß die jungen Mädchen verwöhnt werden. – Und nun bitte ich, gefälligst Platz zu nehmen und sich's schmecken zu lassen; die gefüllten Hörnchen sind gut, die haben wir heute morgen schon probiert.«

Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Hildchen von der breiten und lauten Sprache der Tante peinlich berührt. Selbst das, was sie sprach, schien ihr nicht recht passend, obgleich sie sich nicht klar war, worin das Unpassende läge. Sie warf einen scheuen Blick auf die fremden Gäste. Es kam ihr so vor, als habe Marietta einen Blick mit Paula gewechselt, wobei ein Lächeln ihre Lippen streifte. Aber sie hatte sich doch wohl nur getäuscht; wenigstens wünschte sie sich getäuscht zu haben.

Die jungen Mädchen begaben sich nach Tante Miles Aufforderung an den Kaffeetisch. Klärchen schnellte unwillkürlich vom Sofa auf.

Weil Hildchen nun Platz zu nehmen bat, mahnte Marietta halblaut: »Wollen Sie uns nicht Ihrer Freundin vorstellen?«

Fräulein Schönchen schienen die jungen Damen gar nicht zu bemerken; die Erzieherin aber hatte nun den Maßstab für die Gäste gefunden. Unhöflichkeit gegen eine Erzieherin zeugte nicht von Bildung.

Klärchen fühlte sich durch Mariettas Aufmerksamkeit gegen ihren Willen geschmeichelt. Hildchen aber stellte Fräulein Schönchen zuerst vor, als ihre liebe Erzieherin.

Die jungen Damen warfen einen flüchtigen Blick auf Fräulein Schönchen und nickten herablassend.

Darüber wurde Hildchen ganz verwirrt; sie vergaß, wie Klärchen eigentlich hieß, und stellte sie nach einem etwas verlegenen Stottern als »Klara Brüller« vor.

Tiefbeleidigt über diese Namensverstümmelung nahm Klärchen wieder Platz. Nachdem sie flüsternd – denn es geschah ja eigentlich gegen ihre Absicht – Paula den Sofaplatz angeboten hatte, benutzte sie die erste Gelegenheit, ihrer Nachbarin zu erklären, daß sie nicht etwa Brüller heiße, sondern Buller, Klärchen Buller. Paula wunderte sich über die unnötige Erklärung, die das »altmodische Ding« mit solcher Wichtigkeit gab.

Marietta und Paula warfen sich öfter Blicke zu und bedauerten nur, daß sie noch warten mußten, ehe sie sich über die Baldingers aussprechen durften. Ihre Enttäuschung war groß. Sie hatten nach dem Rufe von Baldingers Reichtum erwartet, in eine vornehme, mit dem größten Luxus eingerichtete Villa zu treten. Zwar sah es hier nicht gerade wie bei armen, aber jedenfalls wie bei nicht sehr feinen Leuten aus.

Mahagonimöbel! Gott, wie altmodisch! dachte Marietta.

An der Wand Stühle, Tische, Schränke, Stück für Stück aufgereiht! dachte Paula.

Die Oeldruckbilder an den Wänden waren stets ein Gegenstand des Streites zwischen Steinbach und Baldinger. Dieser behauptete, zwischen einem gedruckten und einem gemalten Porträt bestehe allein der Unterschied des Preises, denn beide zeigten dieselben bunten Farben und steckten in demselben breiten Goldrahmen, der doch die Hauptsache bei einem Bilde wäre. Nach seinem Geschmacke hatte Baldinger deshalb die Wände mit Landschaften wie Porträts in Oeldruck verunziert und schaute sie trotzdem mit Befriedigung an. Steinbach aber gruselte es ordentlich, wenn er aus Versehen einen Blick darauf warf. Der Geschmack ist eben verschieden.

Mariettas und Paulas Geschmack war zwar nicht so fein entwickelt wie das ästhetische Empfinden Steinbachs; es gruselte ihnen nicht; aber sie dachten: Oeldruckbilder! wie grenzenlos ordinär!

Bei diesen Betrachtungen konnte eine Unterhaltung nicht gut aufkommen. Hildchen fehlte es doch sonst nicht an Stoff zum Schwatzen, aber heute war sie wie auf den Mund gefallen. Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sich Marietta und Paula über alles, was sie in ihres Vaters Hause sahen, aufhielten, auch über die Menschen. Dieses Gefühl war durchaus nicht angenehm.

Klärchen fand gleichfalls Ursache sich zu beschweren.

Wenn Tante Mile die Wirtin machte, was heute nicht der Fall war, ließ sie es am Nötigen nicht fehlen, und Klärchen durfte sich zieren und sich doch dabei vollstopfen. Heute aber konnte sie sich nicht einmal sättigen! Es schien unglaublich! Daran aber war die Schönchen schuld, die »keine blasse Ahnung von wirklich feiner Bildung hatte«. Klärchen natürlich wußte, was der Anstand verlangte.

»Noch ein Täßchen, liebes Klärchen?« fragte die Erzieherin, die Kanne in der Hand.

Klärchen mußte ihre Bildung zeigen und dankte höflich.

»Nicht noch ein halbes Täßchen?«

Klärchen fand diese Zumutung geradezu empörend! Wenn man die Absicht hat, drei Tassen Schokolade zu trinken, und es wird einem eine halbe Tasse angeboten!

»Ich trinke nie mehr als eine Tasse Schokolade,« erwiderte Klärchen mit einer Betonung, als sei diese Mäßigkeit etwas Wunderbares, und sie legte den Löffel quer über die Tasse.

In ihrem Herzen aber hoffte sie, daß vielleicht Hildchen nötigen würde. Klärchen wollte ja nur genötigt werden. Sie hätte sich ja so gern erbitten lassen! aber nein, nichts geschah!

Fräulein Schönchen glaubte, daß sie sich dann in frühern Fällen, wo sich's Klärchen recht gut hatte schmecken lassen, getäuscht haben müsse, und wendete sich mit der gleichen Frage an Paula.

›Ach, wenn ich nur nicht so gebildet wäre!‹ dachte das beleidigte Klärchen.

Eine Erzieherin aber sollte doch wissen, was sich gehört, und wie man eine junge Dame, die nur aus Anstand ablehnt, behandeln müsse!

Und selbst der Kuchen wurde Klärchen nicht noch einmal angeboten! Es war, als ob man sich unter Barbaren befände! dachte das immer hungrigere Klärchen. Unwillkürlich wanderte ihr Blick von der leeren Tasse nach dem gefüllten Kruge und den gehäuften Kuchenschüsseln. Immer sehnsüchtiger wurde dieser Blick; aber ach, niemand versuchte, ihn zu deuten. Klärchen blieb hungrig und mußte sehen, wie Fritz mit triumphierendem Lächeln das Geschirr abräumte.

Da die Unterhaltung keine Fortschritte machte, schlug Fräulein Schönchen einen Spaziergang im Garten vor.

Klärchen fühlte sich – freilich wieder ganz gegen ihren Willen – sehr geehrt, daß ihr die elegante Paula den Arm bot.

Wovon soll ich nur reden? dachte Hildchen, die mit Marietta vorausging.

Marietta war völlig sicher in ihrem Benehmen: Hildchen kam sich ihr gegenüber scheu, linkisch, ja ganz unbedeutend vor, und je mehr Marietta sprach, je mehr imponierte sie ihr.

Gott im Himmel, dachte Hildchen, da merke ich erst, daß ich doch gar nichts weiß und auch gar nichts gesehen habe, obwohl ich zweimal in Heringsdorf gewesen bin! Könnte ich doch auch wie Marietta sagen: unsre Loge im Theater, unser jour fixe, unser Onkel, der Geheimrat X–, unsre Tante, Frau Generalin Z–, ja, das klänge freilich schön! Ich kann doch auch gar nichts erzählen! Ich habe doch auch gar nichts erlebt!

Unerwartet aber bot sich die Gelegenheit, daß auch Hildchen ein Erlebnis berichten konnte. Während des Spaziergangs im Garten waren die Mädchen an einem Steine vorübergegangen, unter dem der treue Nero begraben lag. Dabei kamen sie auf Hunde zu sprechen, ein auch für Marietta sehr interessantes Thema, und Hildchen erzählte, wie Walter Roland sie vor dem Bisse eines tollen Hundes errettet hatte.

Sie erwartete, daß Marietta den Jugendfreund bewundern werde. Diese aber sagte in einem Tone, als spräche sie von Nachbars Pudel: »Das ist wohl der Schulmeisterssohn aus unserm Dorfe? – Mama schickt der Schwester manchmal Wäsche zum Ausbessern hin; der eine Sohn soll Musikant sein und in den Wirtshäusern zum Tanze aufspielen.«

Ein heißes, zitterndes Weh stieg in Hildchen auf. Ihre Kehle schnürte ein Gefühl grenzenloser Beschämung zu. Sie wünschte ihren Freund zu verteidigen, aber leider war sie zu feig dazu und redete sich deshalb vor, Marietta habe ja nur die Wahrheit gesprochen. War denn Walter nicht ein Schullehrerssohn? Verdiente sich die kränkliche Lene nicht mit Ausbessern ihr Brot? Nur von dem Musikantenbruder hatte ihr Walter nie etwas erzählt. Trotzdem fühlte sie, daß sie etwas zu Gunsten des Freundes sagen müsse. Nicht die Thatsachen, wohl aber der Ton, in dem Marietta von der Familie sprach, hatten etwas Verletzendes.

Endlich ermannte sich Hildchen und sagte: »Papa und Onkel Edi halten sehr viel auf Walter Roland, und wenn er seiner Mutter erst in Friedrichsroda ein Haus gekauft haben wird, braucht die arme Lene auch nicht mehr für andre Leute zu nähen.«

»Ach so! Sie sind mit den Leuten näher bekannt?« bemerkte Marietta gedehnt, und ihr Ton war um einige Grade verächtlicher.

Hildchen dachte, wenn nur Papa heute abend Walter nicht mitbrächte. Die Sorge, daß sie dann genötigt wäre, ihn Marietta vorzustellen, bereitete ihr ordentliche Qual.

Sie war am Abend stiller als sonst, und die Geburtstagsfeier kam ihr verfehlt vor; sie konnte das Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei, nicht los werden.


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