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3. Kinderfreundschaft.

Die Erziehung des jetzt siebenjährigen Hildchens war in guten Händen. Auf den Rat Steinbachs war ein Fräulein Schönchen ins Haus genommen worden, das die Kleine verständnisvoll leitete.

Die Erzieherin mußte aber mit dem kleinen Wildfange viel Nachsicht haben. Es war gerade, als hätte Hildchen, wie man zu sagen pflegt, Quecksilber im Blute. Man sah sie immer in Bewegung mit Ball, Reifen oder Sprungseil, und schon von weitem hörte man sie lachen und jauchzen. Mußte sie dann doch einmal ein Weilchen stillsitzen, so drehte sie wenigstens das Köpfchen hin und her, horchte auf jedes Geräusch und schien nur auf den Augenblick zu warten, wo Fräulein Schönchen den Unterricht für beendet erklärte. Dann flog Hildchen wie ein losgedrückter Pfeil über die gelben Kieswege, und der große Hund, Nero, mit Gekläff hinterdrein. Die Kinder und Frauen aus der Fabrik blieben manchmal am Garten stehen und schauten zu, wenn Hildchen so fröhlich mit Nero herumjagte. Sie waren ordentlich stolz auf »unser Kind«, wie sie die Kleine nannten.

»Onkel Edi« – so hieß Steinbach bei Hildchen – nannte sie »das Sonnenkind«. – Der stolze Papa aber dachte: »Ja, ein Sonnenkind ist auch unser Hildchen.«

Tante Mile verglich jetzt manchmal Hildchens glückliche Kindheit mit der eignen, entbehrungsvollen Jugend. Dann besuchte sie wohl die Frau Pastor und machte ihrem Herzen Luft.

»Unsre Hilde wird ja mal 'ne feine, gebildete junge Dame werden, denn warum nicht? Mein Bruder kann an seine Tochter alles wenden. Ich bin auch nicht so gar dumm gewesen, Frau Pastorn. Aber, du lieber Gott, in der Schule zu meiner Zeit konnte man nicht viel Bildung kriegen. Und wenn man dann als Dienstbote unter die Leute kommt, und wird hin und her geschubst, und ist todmüde, wenn man endlich in sein Bett kriecht – na, da ist mit Lernen auch nichts mehr los. Und jetzt, sehen Sie, Frau Pastorn, jetzt könnte ich ja ganze Bibliotheken ausstudieren, aber klüger würde ich doch nicht mehr. Das ist nu vorbei. Nu muß ich 'ne einfältige alte Person bleiben. Und sehen Sie, Frau Pastorn, wenn unsre Hilde erst so 'n feines gebildetes Fräulein geworden ist, dann wird sie auf die alte Tante herunterblicken. Ne, sagen Sie nichts dawider – die kann ja mal keinen Respekt vor mir haben.«

Die Pastorin tröstete die betrübte Mile, und wenn ihr dann, sobald sie heimkehrte, das Kind um den Hals fiel, war auch der Kummer für eine Weile vergessen. Aber die Gedanken daran kamen doch immer wieder.

Hildchen war gewohnt, sobald in der Fabrik die Mittagsglocke ertönte, geschwind ans Gartenthor zu rennen, um dort ihren guten Freund Walter zu erwarten.

Vier Jahre war er auf der Gewerbeschule gewesen: doch als er wiederkam, hatte sie ihn gleich erkannt und jubelnd begrüßt. Sein Bild hatte sich in jenem furchtbaren Augenblick tief in ihre Seele eingeprägt.

Am Gitter stand sie auch jetzt, kletterte daran empor und guckte eifrig nach der Seite, von der Walter kommen mußte. Nero stand neben ihr und steckte die Schnauze durch das Drahtgeflecht. Fräulein Schönchen war gleichfalls in der Nähe, eifrig mit einer Häkelarbeit beschäftigt. Sobald sie nicht unterrichtete oder künstliche Blumen fertigte, häkelte sie stets.

Den vorübergehenden Arbeitern nickte Hildchen zu. Alle die Leute waren ihr wohlbekannt, und auch sie nickten dem Kinde zu, sprachen mitunter auch ein paar Worte mit ihm.

»Roland ist vom Maschinenmeister aufgehalten worden,« berichtete der eine. Sie wußten ja alle, daß Hildchen nur seinetwegen hier wartete.

Endlich zeigte er sich. »Er kommt!« rief Hildchen der Erzieherin zu.

Walter hatte sich während dieser vier Jahre sehr verändert. Aus dem hochaufgeschossenen Jungen war ein schlanker, breitschultriger Jüngling geworden. Seine Haltung war nicht mehr vorgebeugt und sein Gang nicht mehr schlottrig. In strammer, aufrechter Haltung kam er mit großen Schritten daher. Auch sein Gesicht hatte sich verändert, die Farbe war gebräunt, doch kräftig. Ueber den Lippen ein blondes Bärtchen. Aber der träumerische, man möchte sagen, der nach innen gekehrte Blick gab ihm ein über seine Jahre ernstes Aussehen.

Bild: Fritz Bergen

»Pfui, was du für schwarze Hände hast …«

Hildchen jubelte ihm entgegen, und sogleich ging es wie ein Leuchten über seine Züge, und er beschleunigte seinen Gang. Es ist etwas Angenehmes, jeden Tag so freudig begrüßt zu werden.

Der junge Arbeiter und das kleine Mädchen waren schon recht vertraut miteinander.

»Guten Morgen, Walter,« – Hildchen streckte ihm die Hand entgegen, zog sie aber lachend gleich wieder zurück. »Pfui, was du für schwarze Hände hast! Ich mag dir heut keine Hand geben; du färbst ja ab.«

»Kann wohl sein,« rief er gutmütig lachend. »Ich bin heute so eilig davongelaufen, weil mich der Maschinenmeister aufgehalten hat. Am Montag komme ich mit gewaschenen Händen vorüber.«

Hildchen war nicht ganz sicher, ob sie ihn mit dem Zurückweisen seiner Hand nicht beleidigt habe. Sie wollte niemand kränken, am wenigsten den Freund. »Ich gebe dir sehr gern die Hand, Walter, wenn du nicht so schwarze Hände haben wirst,« meinte sie ein bißchen verlegen. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. »Kannst du nicht heute abend kommen, Walter, und den Rettigbirnbaum schütteln? Ach bitte, komm! Du darfst auch so viele Birnen essen als du nur willst, und ich stecke dir noch die Taschen voll.«

Aber Walter schüttelte den Kopf. »Heute abend kann nichts aus dem Vergnügen werden, Hildchen; ich habe Nachtdienst.«

»O, ich will Papa bitten, daß er ihn dir erläßt. Papa thut alles, um was ich ihn bitte. – Nicht wahr, Fräulein Schönchen? Papa ist sehr gut.«

Walter lachte über die Zuversicht des kleinen Mädchens, entgegnete aber doch: »Nein, das wäre ja gegen die Ordnung, und Ordnung muß sein, Hildchen. Doch morgen ist Sonntag, da will ich vor der Kirche kommen, wenn Herr Baldinger nichts dawider hat, und will dir den Birnbaum schütteln.«

Hildchen klatschte in die Hände. »Ach, das wird lustig werden! Du kannst auch noch ein paar Kinder mitbringen; die stellst du an die Hofthür, weißt du, und dann teilen wir Birnen aus. Nein, ich weiß es besser: wir werfen die Birnen hinaus, dann giebt's eine lustige Balgerei.«

»Hildchen,« mahnte Fräulein Schönchen, »wie kann man von einer Balgerei sagen, daß sie lustig sei!«

Das kleine Mädchen guckte sich mit einem Schelmengesichtchen nach der Erzieherin um. »Finden Sie eine Balgerei nicht lustig, Fräulein Schönchen?«

Die Erzieherin lachte. »Sie darf nur nicht ausarten; dafür kann aber der Fritz sorgen.« – Fritz war der Diener.

»Und wenn das Birnenschütteln vorüber ist, stecken wir uns die Taschen voll und ziehen in den Wald, und dann erzählst du mir schöne Geschichten, und« – Hildchen wendete sich wieder zur Erzieherin, schlang einen Arm um sie und lächelte sie liebenswürdig an – »wenn Fräulein Schönchen artig ist, darf sie auch mit uns in den Wald gehen. – Aber wirst du auch dein Wort halten, Walter? Gieb mir die Hand darauf.«

»Die ist ja schwarz, Hildchen.«

»Du hast mir neulich auch versprochen, mit in den Wald zu gehen – aber du böser alter Riese hast mich im Stich gelassen.«

»Schwester Lene war damals krank geworden, und da mußte ich bei den Eltern bleiben.«

»Die arme Lene!« Hildchens Mitgefühl war sofort erwacht. »Geht es ihr wieder besser?«

»Der Anfall ist, Gott sei Dank, vorübergegangen; aber sie ist ja immer leidend, schon seit ihrer Kindheit.«

»Warte mal, Walter, warte mal einen Augenblick.« Hildchen schoß ins Haus und kam mit einem Päckchen wieder. »Ich habe Tante Mile um ein bißchen Kuchen gebeten; den sollst du der Lene bringen.«

»Nun, der wird aber schön altbacken werden, wenn Walter erst am Sonntagabend nach Kiesberg geht,« bemerkte die Erzieherin.

Hildchen sah sehr betroffen aus. »Was fangen wir da an? Ich möchte der armen Lene gern etwas schicken!«

»O, so feiner Kuchen schmeckt auch altbacken gut,« beruhigte Walter und schob das Paket in seine Tasche.

»Und morgen nimmst du der Lene noch Birnen mit!« rief das Kind, sichtlich erleichtert.

Walter zog seine Mütze und entfernte sich; aber er ging nur langsam, als erwarte er, noch einmal zurückgerufen zu werden. Er hatte auch noch nicht das Ende des Gartens erreicht, als ein silberhelles Stimmchen rief: »Walter, komm noch einmal her, Walter; ich will dir auch eine Hand geben.«

Gleich kehrte er um, und Hildchen streckte ihm schon von weitem ihre Hand entgegen, während Nero vor Freude heulte.

Fräulein Schönchen, die auffallende Vergleiche liebte, machte die Bemerkung, ihre kleine weiße Hand läge in seiner breiten schwarzen Hand gerade wie ein weißes Ei in einer schwarzen Kasserolle.

»Du hast nicht abgefärbt, Riese,« sagte Hildchen und guckte Walter lachend an. »Aber wenn ich deine Hand so recht, recht sehr gedrückt hätte, wären meine Hände doch schwarz geworden.«


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