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13. Tante Mile kommt zu Ehren.

Steinbachs Besuch hatte veranlaßt, daß die Fahrt nach Kiesberg verschoben wurde. Da nun inzwischen Fräulein Schönchens Cousine wieder abgereist war, hätte die Erzieherin Hildchen begleiten können, aber zu ihrem Erstaunen sagte diese zu Mile: »Nein, Tantchen, du mußt mit mir fahren; es wird dir ganz gut thun, einmal hinauszukommen. Das nächste Mal begleitet mich dann Fräulein Schönchen.« – Und sich an diese wendend bat sie: »Aber nicht wahr, Sie putzen mir Tantchen ein bißchen heraus? Wir müssen doch Staat mit ihr machen.«

Tante Mile sah ungemein geschmeichelt und Fräulein Schönchen ungemein verwundert aus.

Da muß ich mich allerdings getäuscht haben, dachte die Erzieherin, Hildchen ist ja liebevoller und aufmerksamer gegen die Tante als früher; überhaupt kommt sie mir wieder frischer und fröhlicher vor, wahrscheinlich war sie in letzter Zeit nicht so recht wohl. Nun, Gott sei Dank, daß der Zustand vorüber ist.

Der Wagen stand vor dem Hause und Hildchen war schon eingestiegen; aber Tante Mile war natürlich nicht fertig. Einmal erschien sie in der Thür, dann verschwand sie wieder, und als sie endlich im Wagen saß, fehlten richtig die Pfefferminzkügelchen, ohne die sie nie eine Ausfahrt unternahm. Kaum hatte Röse das Büchschen gebracht, so bemerkte Mile, daß sich die Glacéhandschuhe nicht in ihrem Strickbeutel befanden; denn aus Sparsamkeit trug sie während der Fahrt nur baumwollene Handschuhe, und als Röse atemlos mit den Glacéhandschuhen erschien, war Mile indes durstig geworden und verlangte nach einem Glas Wasser.

Hildchen hatte sich vorgenommen, alle Vergeßlichkeiten der Tante zu ertragen, und ließ kein Zeichen der Ungeduld merken. Das rührte Mile.

»Da siehst du, Hildchen, wie ich bin. In Gesellschaften und zu großartigen Besuchen tauge ich nun mal nicht.« – Dann rief sie: »Jetzt bin ich endlich fertig, Kutscher, nun kann's losgehen.«

Die Fahrt fand übrigens Miles Beifall. Sie interessierte sich für Landwirtschaft und freute sich am guten Stande der Feldfrüchte; dabei verwechselte sie freilich stets Roggen, Weizen und Hafer, und da Hildchen nicht ganz sicher schien, mußte der Kutscher belehren.

Hildchen war auch sehr munter und gesprächig; ein ganz neuer Reiz lag über dem lieben Gesichtchen: etwas so Sonnigwarmes, Frühlingsfrisches.

Ein Tausendsasa ist das Mädel, dachte Mile. Gebe nur der Himmel, daß sie mal den richtigen Mann kriegt, damit der Baldingersche Starrkopf nicht erst aufkommen kann! Sie wollte mir in der letzten Zeit gar nicht gefallen. Möchte wohl wissen, was mit einmal in die Hilde gefahren war?

Von den Ursachen dieser übeln Laune sollte aber Tante Mile ihr Leben lang nichts erfahren.

»Kinder, kommt, die Baldingers fahren vor, Hilde und die komische Alte!« ruft Paula und guckt hinter dem schweren Vorhange hinaus.

»Nein, ist's möglich?« fragt Marietta und schnellt auf. »Die wunderliche Person kommt wirklich mit?«

»Nun wirst du sehen, Mama, daß wir nicht übertrieben haben,« – Paula wendet sich einer stattlichen Dame zu, die ihren bequemen Platz an der offenen Balkonthür behauptet hat. Frau Loritz würde es unter ihrer Würde halten, Neugierde zu zeigen oder sich durch irgend ein Ereignis das Gleichgewicht stören zu lassen.

Ihre älteste Tochter, Frau Ada von Holborn, eine sehr elegante junge Frau, ist nahe daran, den Schwestern ans Fenster zu folgen; aber neben Mamas schöner Gelassenheit will sie sich nicht so »kindisch wie die Mädchen« benehmen.

»Aber macht Hildchen mit ihrer Tante Umstände!« meint Marietta. »Ich bitte euch! Nein, das hätte ich nicht gedacht, daß sie mit der komischen Person so viel hermachen würde.«

»Was thut sie denn?« Die junge Frau ist beinahe von ihrem Stuhle aufgesprungen; doch überlegt sie, daß der Besuch jetzt schon ins Haus getreten sein müsse, und bewahrt ihre Ruhe.

»Die alte Person wird in ihrer Jugend wohl nicht oft in einer Equipage gefahren sein, darum fällt ihr das Aussteigen wahrscheinlich schwer,« bemerkt Marietta.

»Wünschest du die Baldingers hier zu empfangen, Mama?«

»Warum nicht?« – Frau Loritz gehört nicht zu den Frauen, die unnütze Worte machen.

»Sind das die Baldingers von den großen Maschinenwerken in Wermsdorf?« erkundigt sich Frau Ada.

»Ja, die sind's. Wir waren neulich zu Hilde Baldingers Geburtstag eingeladen.«

»Mein Mann sagte mir, Baldinger sei eine Weltfirma,« bemerkt Frau Ada.

Die Mutter nickt nur mit dem Kopfe.

»Aber Mama, dann würde ich die Damen doch lieber im Salon empfangen.«

»Ich mache reichen Leuten nicht den Hof.« – Und Frau Loritz nimmt ein feines Taschentuch, an dem sie einen Hohlsaum ausführt, wieder auf.

Der Diener tritt ein und meldet, daß Frau und Fräulein Baldinger ihre Aufwartung zu machen wünschen. Der Diener ist sich über die Verwandtschaft der Damen nicht ganz klar, denn Tante Mile findet es eine Verschwendung, bei der Anmeldung ihre Visitenkarte abzugeben.

Frau Loritz neigt ein wenig ihr weißes Haupt. Doch das Haar ist nicht durch Alter, sondern durch Chlor gebleicht; aber bei den lebhaften, blühenden Farben erhöht es die Schönheit ihrer etwas kalten, regelmäßigen Züge.

»Warum nennt ihr Frau Baldinger eine komische Person?« erkundigt sich die älteste Schwester.

Beide junge Mädchen brechen in Lachen aus.

»Es ist ja keine Frau, sondern eine alte Jungfer, und wie komisch sie ist, wirst du gleich selber sehen.«

»Hilde ist auch ein Gänschen,« fällt Paula ein; »furchtbar schüchtern und simpel; sie thut den Mund nicht auf und weiß nicht, wovon sie reden soll.«

»Sie sind auch ganz altmodisch und ungebildet eingerichtet,« fügt Marietta hinzu; »von ihrem Reichtum lassen sie nichts merken.«

»Da bin ich wirklich neugierig,« meint Frau Ada.

Als Hildchen, die Tante noch am Arme, von einem Diener die breite, mit rotem Teppiche belegte Marmortreppe hinaufgeführt wird, fühlt sie doch eine kleine Anwandlung von Verlegenheit, obgleich sie sich vorgenommen hat, daß ihr Leute, die über ihre Tante und ihren Freund so lieblos geurteilt haben, nicht importieren sollen.

Das Gefühl der Beklemmung verstärkt sich noch, als der Diener die Damen ersucht, im Salon Platz zu nehmen und dort einen Augenblick zu verziehen, bis er sich erkundigt habe, ob die gnädige Frau anwesend sei. Die Pracht der italienischen Möbel – Ebenholzschränke mit eingelegtem Elfenbein und Mosaiktischplatten – die schweren damastenen Vorhänge, die großen Oelgemälde wie die überall aufgestellten Kunstwerke, alles trägt dazu bei, die in einfachen Zimmern aufgewachsene Hilde noch mehr einzuschüchtern.

Tante Mile scheint es nicht besser zu gehen.

»Laß mich um Gottes willen nicht los, sonst glitsche ich aus!« bittet sie und klammert sich krampfhaft an Hildchens Arm. »Hier ist's ja so glatt wie auf einer Eisbahn. Nein, wie kann sich nur 'n vernünftiger Mensch die Stuben so wichsen lassen! Da ist man ja jeden Augenblick in Lebensgefahr. Wenn du nicht auf mich acht giebst, Hilde, liegen wir beide auf der Nase. Umsehen kann ich mich gar nicht, sonst verliere ich die Balance; scheint mir aber, daß die Stuben großartig aufgetakelt sind.« – Dann fährt sie etwas leiser fort: »Aber weißt du, imponieren thun mir die Loritzens wegen der Takelage noch lange nicht. So schön könnten wir auch wohnen. Aber Gott sei Dank, dein Vater kann den Aufwand nicht leiden, und ich auch nicht. Mit so 'ner Flunkerei um mich könnte ich mich nicht wohl fühlen.«

In dem Augenblick, wo Hildchen an den Reichtum des Vaters erinnert wird – bis heute ist er ihr eigentlich ganz gleichgültig gewesen – fühlt sie sich plötzlich von aller Beklemmung befreit und völlig sicher.

Mit etwas hoffärtiger Miene die prachtvolle Umgebung musternd, entgegnet sie: »Ach weißt du, Tantchen, so eine elegante Einrichtung ist doch nur im Anfang unbequem; ich glaube, man kann sich sehr bald daran gewöhnen.«

Hochmut ist doch ein schwer zu vertreibender Eindringling; kaum hat ihn Onkel Edi aus der einen Thür hinausgejagt, läßt ihn die sonst so vorsichtige Tante Mile zu einer andern Thür von Hildchens Herzen wieder ein. Doch umsonst hat Onkel Edi nicht gepredigt, wie sich gleich zeigen wird.

Bild: Fritz Bergen

»Laß mich um Gottes willen nicht los, sonst glitsche ich aus!«

Es ist ein reizender Anblick, der sich bietet, als der Diener, die Thür des Wohnzimmers öffnend, beide Damen einzutreten bittet.

Durch eine rot und weiß gestreifte Markise wird das blendende Sonnenlicht, worin sich draußen im Park die alten Bäume baden, gedämpft; und doch fällt noch genügende Beleuchtung auf den Kreis der Damen, die um einen Tisch mit schwerer Gobelindecke an der geöffneten Balkonthür sitzen. Die schöne Mutter, wie die drei hübschen Töchter, alle in hellen Sommerkleidern, sind mit leichten Handarbeiten beschäftigt.

So prächtig wie in diesem Hause sieht's bei uns freilich nicht aus, denkt Hildchen und findet, Marietta und Paula seien zu entschuldigen, daß sie sich über die Einrichtung bei ihnen aufgehalten haben.

Etwas herzlicher als in Wermsdorf kommen die jungen Mädchen Hildchen entgegen, und Marietta stellt den Besuch ihrer Mama, die ältere Schwester dem Besuche vor.

Unbehilflich macht Mile ihr schönstes Kompliment und nimmt dann Platz, oder vielmehr, sie versucht Platz zu nehmen; aber der Lehnsessel, auf den sie sich niederlassen will, besitzt so bewegliche Rollen, daß er gleich ein Stückchen rückwärts schiebt und sie ihm zuvor noch einen mißtrauischen Blick zuwirft. Kaum aber sitzt sie, so fällt ihr ein, daß ihr gutes seidenes Kleid Falten bekommen würde, weil sie vergessen hat, es glatt zu ziehen; deshalb erhebt sie sich lieber noch einmal, zieht es rechts vor und zieht es links vor; dann sieht sie sich um, ob der heimtückische Sessel nicht etwa ausgerückt ist, und endlich läßt sie sich zu Hildchens großer Erleichterung dauernd nieder.

Leider findet sie es nun für notwendig, sich zu entschuldigen, daß sie ihre Nichte begleitet habe.

Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo Onkel Edis mahnende Stimme an Hildchens Ohr tönt. Es ist ihr, als raunte er ihr zu: »Nun, Hildchen, jetzt mußt du etwas für diese arme, unbeholfene, schüchterne Frau sagen.«

Hildchen fällt es nicht etwa leicht, der Aufforderung Folge zu leisten. Um die eigne Schüchternheit zu überwinden, muß sie sich ordentlich einen Ruck geben. Sie wird sogar einen Schein blässer, und ihre Stimme ist nicht ganz sicher; aber wie sie sich jetzt vorneigt und sich mit einem lieblichen Lächeln an die Frau des Hauses wendet, sieht sie so anmutig aus, daß Frau Ada denkt: Was für ein reizendes Kind!

»Ich bin allein daran schuld, daß mich meine liebe Tante begleitet hat,« sagt Hildchen. »Und ich habe sie sogar recht bitten müssen, denn Tantchen ist ein bißchen Haus-Unke; aber nicht wahr, gnädige Frau, Sie werden es, wie mein Papa, nur recht finden, daß sich Tantchen nicht von allem Umgange abschließt?«

»Ich gebe Ihnen recht und freue mich, Fräulein Baldinger in meinem Hause zu begrüßen,« erwidert Frau Loritz und verneigt sich gegen Mile. Von ihrer Seite sind diese Worte der Beweis eines ungewöhnlichen Entgegenkommens.

Mile lächelt in sichtlich gehobener Stimmung. Die Sache scheint besser abzulaufen, als ich erwartet habe, denkt sie und wirft Hildchen einen dankbaren Blick zu.

Die Unterhaltung würde vielleicht trotz der gelungenen Einleitung nicht sehr interessant verlaufen, wenn nicht Frau Ada das Wort ergriffe. Sie ist gewandt, liebenswürdig und versteht die ganze Gesellschaft zu beleben. Hildchen ist von der neuen Bekanntschaft geradezu entzückt, und Mile hat sich den Verkehr mit Damen der großen Welt nicht so leicht gedacht.

Frau Ada aber ist bei Hildchens Anblick und ihrem lieblichen Wesen ein Gedanke durch den Kopf gefahren. Was für eine reizende kleine Frau müßte dieses junge Mädchen für Bruder Artur geben! Und der Gedanke will sie nicht mehr verlassen.

Artur steht nicht in der Gunst des Hauses. Papa ist sehr erzürnt und Mama tief gekränkt, weil Artur im Offiziersexamen durchgefallen ist. Die jüngern Schwestern machen sich ohnehin nicht viel aus ihm, denn er ist nicht sehr galant, Frau Ada ist seine einzige Gönnerin. Er ist freilich auch kein Bruder, mit dem man Staat machen kann: sein Verstand ist schwerfällig und nur mit viel Nachhilfe hat man ihn durchs Gymnasium geschleppt. Während der ältere Bruder in die Fabrik eingetreten ist, soll der jüngere Offizier werden; er ist ein hübscher, strammer Bursche, und die Schwestern, die gern mit Offizieren tanzen, waren von dem Plane entzückt. Nun hat aber der arme Artur durch sein mißglücktes Examen die ganze Familie enttäuscht und ist völlig in Ungnade gefallen. Da fühlt Frau Ada um so mehr die Notwendigkeit, sich seiner anzunehmen.

»Wo nur Artur bleibt?« fragt sie plötzlich ganz harmlos. »Er hatte doch versprochen, uns zu einer Gondelpartie abzuholen.«

Die Schwestern blicken die junge Frau fragend an: keine weiß etwas von diesem Versprechen.

»Artur vergnügt sich immer am liebsten allein,« bemerkt Frau Loritz streng.

»O ich bin überzeugt, daß er sich einfinden würde, wenn er wüßte, daß wir so liebenswürdigen Besuch haben,« versetzt die kluge Schwester.

Hildchen fühlt sich ein wenig geschmeichelt.

»Ich möchte den Damen einen Vorschlag machen,« fährt Frau Ada fort. »Wie wäre es, wenn wir einen Spaziergang durch den Park unternähmen? Sicherlich treffen wir Artur dort, und es wird ihm ein großes Vergnügen sein, Fräulein Hildchen auf dem Teiche herumzurudern. – Sie brauchen Ihrer Nichte wegen nicht besorgt zu sein, Fräulein Baldinger; Artur ist ein ganz vorzüglicher Ruderer. Er hat bei der letzten Regatta sogar ein silbernes Ruder gewonnen!«

Bei der Regatte ist er natürlich nicht durchgefallen wie im Examen, denkt Frau Loritz, denn das Rudern ist amüsanter als das Lernen. – Aber laut will sie den eignen Sohn doch nicht tadeln; darum sagt sie nur: »Wenn Sie uns den Abend schenken wollen, Fräulein Baldinger, werde ich mich sehr freuen, und wir haben auch Zeit, vor dem Souper einen Spaziergang zu unternehmen.«

Mile fühlt sich ausnehmend geschmeichelt; die Einladung übertrifft ja ihre kühnsten Erwartungen. Da fällt ihr Blick auf Hildchen, und in den Augen des Kindes ist etwas – Tante Mile kann sich dieses Etwas nicht deuten.

Hildchen aber, die sehr gern die Gastfreundschaft der schönen Frau des Hauses angenommen hätte, hört schon wieder Onkel Edis Stimme: »Vergiß nicht, daß du auch deinem Jugendfreunde eine Genugthuung schuldig bist.« – Die Stimme des Onkels wirkt auf Hildchen wie die Stimme des Gewissens.

Sie wendet sich Mile zu. »Ich weiß nicht, Tantchen, ob du den Besuch bei Rolands aufgeben willst?« – Mile sieht ungeheuer erstaunt aus. »Du weißt, daß wir uns schon lange vorgenommen haben, Frau Roland einmal zu besuchen?«

Das war keine Unwahrheit; aber es ist vielleicht schon über ein Jahr her, daß Tante Mile von diesem Besuche gesprochen hat.

»Es ist wirklich arg mit meiner Vergeßlichkeit,« entschuldigt sie sich. »Daß wir heute Rolands besuchen wollten, habe ich richtig wieder vergessen.«

Frau Loritzens Haltung wird um einen Grad steifer. »Sie meinen die Witwe des verstorbenen Schulmeisters?« fragt sie, während sich ihr Blick auf ein ihr gegenüberhängendes Gemälde richtet, als wolle sie es kritisch untersuchen.

Auch die jüngern Töchter werfen sich Blicke zu. Ein kalter Lufthauch scheint das Zimmer zu durchstreifen.

Wenige Tage zuvor wäre Hildchen durch den Umschlag der Stimmung in Verlegenheit geraten, ja sie hätte niemals den Mut gefunden, vor Frau Loritz von der geschmähten Familie ihres Freundes nur zu reden; heute muß sie sich Mühe geben, ein Lächeln zu unterdrücken. Onkel Edis Macht über Hildchen ist sehr groß.

Die ahnungslose Mile bleibt unbefangen. »Ja, es ist die Schulmeisterswitwe, die wir besuchen wollen,« erwidert sie. »Ihr Sohn ist ein Genie, sagt mein Bruder.« – Und wenn Mile von ihrem Bruder spricht, würde sie sich dem Kaiser gegenüber nicht verlegen fühlen. – »Und ein braver Mensch ist der Walter Roland auch, das haben wir erfahren. Es wäre längst meine Pflicht gewesen, die Mutter einmal aufzusuchen, und 's war auch meine Absicht; aber wenn Hilde nicht daran erinnert hätte, hätte ich's richtig wieder vergessen. Ich leide eben sehr an Gedächtnisschwäche.«

»Wahrscheinlich sind Sie in der Kindheit zu schlecht ernährt worden,« bemerkt Frau Loritz herablassend mit einem Scheine des Mitleids.

Jetzt mengt sich Hildchen voll Eifer ein: »O nein, meine liebe Tante hat ihr Gedächtnis verloren, weil sie sich für Papa aufgeopfert hat!«

»Ach Hilde, wie kommst du denn auf die alten Geschichten?« wehrt Mile und steht auf.

Aber Hildchen läßt sich nicht abbringen. »Die Geschichte sollten alle Leute erfahren, Tantchen, und es ist ganz unrecht, daß bei uns niemand davon redet. Mir hat sie nicht Papa, sondern Onkel Edi erzählt.« – Und sie wendet sich vertraulich zu Frau Ada. »Ja, denken Sie nur, als mein Papa noch ein kleiner Junge war, wollte ihn ein böser betrunkener Mann schlagen. Aber Tante Mile fing die Schläge auf, und dabei hat sie ihr Gedächtnis eingebüßt; doch dem Papa hat sie das Leben gerettet, und darum« – hier legt Hildchen den Arm um die Tante und sieht zärtlich zu ihr auf – »haben wir sie auch alle so besonders lieb und halten so große Stücke auf sie.«

Mile treten die Thränen in die Augen; doch trotz der Rührung wehrt sie sich eifrig gegen Hildchens Lob und ihre Liebeserklärung. »Ach mache doch nicht so viel Aufhebens von den alten Geschichten; kein Mensch denkt mehr daran.«

»O, da muß ich doch Fräulein Hildchen recht geben,« ruft Frau Ada lebhaft. »Es ist ein Glück, wenn man eine Tante besitzt, von der man so etwas erzählen kann.«

»Auch ich danke Fräulein Hildchen für die Geschichte. Wir alle müssen großen Respekt vor Ihnen fühlen, Fräulein Baldinger.« Frau Loritz spricht mit ungewohnter Wärme.

So verlegen und zugleich so tief bewegt und glückselig hat sich Mile nur in seltenen Augenblicken ihres Lebens gefühlt; aber noch immer wehrt sie sich tapfer. »So was, Frau Loritz, würde jede Schwester für ihren Bruder thun; da ist mal nicht was Großes dabei.« – Und Mile in ihrer gehobenen Stimmung läßt, als sie sich verabschiedet, auch den unbekannten Herrn Gemahl und den jungen Herrn Artur grüßen.

In wärmern Worten als vorher bedauert Frau Loritz, daß die Damen ihre Einladung abgelehnt hätten, und bittet, daß sie den Besuch recht bald wiederholen möchten.

Nachdem sich aber Tante Mile und Hildchen entfernt haben, trifft Marietta und Paula ein mißbilligender Blick der Mutter. »Mit eurer Menschenkenntnis ist es noch nicht weit her,« sagt sie. »Die kleine Baldinger habt ihr mir als ein stilles, schüchternes Kind geschildert, und die Tante war nach euerm Bericht nur eine lächerliche Figur.«

»Ja, Mama,« mengt sich Frau Ada ein, »jetzt thust du aber den Mädchen unrecht. Tante Mile sah wirklich etwas komisch aus; und wenn wir jetzt besser von ihr denken, ist nur das junge Mädchen daran schuld. Es war zu rührend, wie sie die Tante in ein schönes Licht zu stellen suchte. Wenn Artur eine solche Frau bekäme, wäre ich selig.«

Paula fängt an zu lachen. »Du denkst aber zeitig daran, für Hildchen einen Mann zu suchen; sie ist ja erst fünfzehn Jahre geworden.«

»Ich finde nicht, daß Artur eine solche Frau verdient,« versetzt Marietta abweisend.

»Der arme Artur! Er versteht nicht, für sich selbst zu sorgen, darum müssen wir für ihn sorgen,« meint Frau Ada, und sie träumt in dieser Nacht einen schönen Zukunftstraum.


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