Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bild: Fritz Bergen

1. Mile Baldinger kommt an.

In Wermsdorf, einer Station der Frankfurt-Kassler-Bahn, befand sich die große Maschinenfabrik von August Baldinger.

Die sich nach allen Seiten mehr und mehr ausbreitenden Werke nahmen fast den Umfang einer kleinen Stadt ein. Den Mittelpunkt bildeten mächtig große Gebäude mit geschwärzten Backsteinmauern, dazwischen Dampfessen wie riesige Ausrufungszeichen. Aus ihrem hohlen Schlunde stiegen stetig schwarze Rauchsäulen auf, manchmal kerzengerade, manchmal vom Sturm seitlich gejagt. Bei schwerer Luft und Windstille aber lagerte der Qualm wie eine düstere Wolke über der Gegend; selten war der Himmel in reiner Bläue zu sehen. Am Abend wirbelten mit dem Rauch oft ganze Garben von Feuerfunken heraus, und auf den grauen Wolken malte sich ein fahlrötlicher Schein, ein Widerglanz der Glut in den Hochöfen.

Der Lärm und das Getöse der nie ruhenden Getriebe waren für den, der nicht daran gewöhnt war, betäubend. Ein unaufhörliches Dröhnen, Pochen, Stampfen; ein ganz unheimliches Brausen und Zischen.

Ein Heer von Arbeitern fand hier in den Werkstätten nicht nur lohnenden Verdienst, sehr viele wohnten auch mit ihren Familien am Ort in kleinen Backsteinhäusern, die der Schöpfer dieser großartigen Werke, August Baldinger, für seine Leute gebaut hatte. Denn der Mann, dessen Wille Tausende von Menschen regierte, hatte auch ein Herz und sorgte väterlich für seine Arbeiter.

Baldinger hatte sich vom einfachen Schlosser zum Großindustriellen heraufgearbeitet.

Als junger Geselle wanderte er einst aus Liegnitz in Schlesien aus, um, wie viele andre, sein Glück zu suchen. Sein Beutel war leer, sein Ränzel schlecht gefüllt, und doch war er vom lieben Gott besser ausgerüstet, den Kampf des Lebens aufzunehmen, als mancher Sohn eines Millionärs. Denn er hatte ein unerschütterliches Gottvertrauen, einen festen Willen, klaren Verstand und guten Humor, gepaart mit unverwüstlicher Gesundheit.

Der junge Geselle machte, wie die Leute sagen, »sein Glück«. Ich aber möchte lieber sagen, daß sein rechtschaffenes, unermüdliches Streben gesegnet wurde.

Doch gerade als er glaubte, den sichern Hafen erreicht zu haben, und sich eine treue Lebensgefährtin gewann, traf ihn ein schwerer Schlag. Er verlor seine liebe Frau, nachdem sie ihm ein Töchterchen geschenkt hatte.

Baldinger war trotz seines Reichtums ein einfacher Mann geblieben und bewohnte ein bescheidenes, etwas abseits gelegenes Landhaus, das rings von einem Garten umgeben war.

In der Veranda saß er jetzt mit seinem Freunde und Kompagnon, Eduard Steinbach, bei einem Glase Wein.

Steinbach hatte sich im Interesse des Geschäfts ein halbes Jahr in Amerika aufgehalten, von wo er eben erst zurückgekehrt war, und Baldinger berichtete ihm von dem schweren Schicksalsschlage, der ihn betroffen hatte.

»Gott sei Dank, daß Ihnen das Kind erhalten worden ist,« tröstete Steinbach.

Baldinger seufzte. »Aber was fange ich mit einem Mädel an! Ich wollte, es wäre ein Junge! Ein halbes Dutzend Jungen wären mir nicht zu viel.«

»Na, erlauben Sie mal, alter Freund! Wenn dort in dem Wagen, worin ich das kleine Fräulein vermute, ein Bübchen läge, wäre es gerade so hilflos wie das Mädchen und müßte ebenfalls gepflegt und großgezogen werden.«

»Darin haben Sie schon recht. Mir ist eben der Humor abhanden gekommen. Mir fehlt meine Frau. Alles erscheint mir grau und trübe. Ich habe deshalb an meine Schwester Mile geschrieben, sie solle herkommen und bei mir bleiben.«

»Hat sie angenommen?« fragte Steinbach.

»Scheint so,« entgegnete Baldinger. »Man wird aber aus Miles Briefen nie ganz klug. Sie bildet sich immer ein, daß man schon wisse, was sie sagen möchte, und da findet sie dann, daß das Niederschreiben nicht notwendig sei.«

»Ein bißchen konfus, wie?«

»Ist nicht ihre Schuld; sie ist geschlagen worden, und noch dazu meinetwegen.«

Steinbach fuhr auf. »Die Aermste! Wie ist das denn zugegangen?«

»In unserm Hause wohnte ein Schuster, der oft betrunken war. Na, und wie Kinder sind, höhnte ich einmal den Menschen. Er sprang auf, ergriff seinen kleinen Schemel und rannte damit auf mich zu. Ich riß aus, kam aber zu Falle, und kann sein, der Wüterich hätte mich totgeschlagen. Da warf sich Mile über mich und deckte mich mit ihrem Leibe. Sie war's, die den Schlag mit ihrem armen Kopfe auffing. Seit der Zeit leidet sie an Gedächtnisschwäche. Sie ist deshalb viel gescholten worden – wer hat sich denn erinnert, weshalb sie so vergeßlich war. Doch Gott sei Dank, ihren Verstand hat sie behalten.«

»Eine brave Person. Eine Person, die zu großen Opfern fähig ist,« bemerkte Steinbach nachdenklich. »Aber – hm – sollte – hm – eine so einfache Frau geeignet sein, Ihrem Haushalt vorzustehen, lieber Freund?«

Baldinger hatte sich die Cigarre, die ihm ausgegangen war, wieder angebrannt. »Ich verstehe; ich verstehe ganz gut, was Sie damit sagen wollen. Sie denken, der Mile fehle die Bildung und die guten Manieren. Nicht wahr, das sind Ihre Gedanken?«

»Ungefähr – ja, mein Verehrter. Das sind so ungefähr meine Gedanken über Ihre Schwester.« –

Steinbach, ein großer, schlanker Herr von fünfunddreißig Jahren, stand vor dem nicht großen und etwas wohlbeleibten Baldinger, der vielleicht zehn Jahre älter sein mochte. Steinbach stammte aus einem alten, reichen Kaufmannshause; er hatte sich mehrere Jahre in England aufgehalten und in seinem Aeußern etwas von einem englischen Gentleman angenommen. Ein ungepflegtes Aeußere, unruhige Bewegungen und unfeine Manieren verletzten ihn. Er schätzte seinen Freund Baldinger sehr hoch; aber dessen derbe, rauhe Art, das laute Sprechen berührten ihn oft peinlich. Er hatte sich gefreut, daß die verstorbene Frau einen guten Einfluß ausgeübt hatte. Baldinger war ruhiger geworden und kehrte in seinem Benehmen nicht mehr den Arbeiter heraus.

Eine Weile paffte Baldinger schweigend. Steinbach ging auf und ab. Beide dachten über dieselbe Sache nach.

»Ich habe die Wirtschaft im Hause satt,« fing Baldinger an. »Die Leute sehen alle nur auf ihren Vorteil. Mir zulieb rührt niemand die Hand. Die Mile aber liebt mich. Die hat meinetwegen viel ausgestanden, und gerade deshalb hält sie auf mich. Ich habe ja auch, Gott sei Dank, ihr und der Mutter später ein gutes Leben verschaffen können. Von dem Leben einer Arbeitersfrau haben Sie keine Vorstellung, Steinbach: Sie sehen auf das gemeine Volk herunter. Ja, das thun Sie; Sie denken wohl, unsereiner merkte das nicht?«

»So was sollten Sie mir nicht vorwerfen, Baldinger. Ich dächte, ich hätte Ihnen bewiesen, daß ich für unsre Arbeiter ein Herz habe.«

»Na, das meine ich ja gar nicht; daß Sie ein Herz haben, bezweifle ich nicht. Aber Sie können sich nicht so recht vorstellen, daß so 'ne ungebildete Arbeitersfrau auch ein Herz hat.«

»Nun, Ihre Schwester hat es doch bewiesen, Baldinger.«

»Ja, das sagen Sie sich mit dem Verstande. Erst müssen Sie Ihrem Vorurteil gegen schmutzige grobe Hände und schlechte Manieren 'nen kleinen Stoß geben; dann erkennen Sie die Wahrheit. Aber erst, wenn man in diesen einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist, kann man sie verstehen, kann man mit dem Volke fühlen. Ich wollte, Steinbach, Sie hätten meine Mutter gekannt. Gelesen hat sie außer ihrer Bibel und dem Gesangbuch nicht viel. Aber was für ein gesundes Urteil hatte die Frau! Und bis in die Fingerspitzen ehrenhaft. Und ein Herz! Ich sage Ihnen, einer solchen Frau gegenüber sind wir alle klein. Manchmal, wenn ihr Bild vor mich tritt, ist mir's, als hätte man die Lebensweisheit dieser armen, ungebildeten Arbeitersfrau in Gold fassen sollen. Und die Mile ist die Tochter dieser Mutter. Freilich, die Mile ist 'n bißchen vergeßlich, und daraus entstehen Konfusionen. Und weil sie in kleinen Verhältnissen gelebt hat, wird sie sich schwer in die Leitung meines Hauses finden. Sie ist schon fünfzig Jahr.«

»Das ist es, Baldinger, das ist es. Sie wird das Beste wollen, aber ihre Kräfte sind den Anforderungen nicht gewachsen.«

»Sie sprechen aus, was ich selber fürchte. Aber ich fühle mich so grenzenlos vereinsamt seit dem Tode meiner lieben Frau. Mir fehlt Liebe; ich brauche Miles Liebe, Steinbach.« – Er sprach bewegt.

In diesem Augenblick hörten sie das Rollen eines Wagens, der vor dem Hofthor hielt.

Baldinger sprang auf. Beide Männer hatten den gleichen Gedanken. Das mußte Mile sein.

»Woher sie nur den Wagen bekommen hat?« fragte Baldinger, indem er nach dem Hofe schritt.

Steinbach lachte. »Ach, den hatte ich mir telegraphisch bestellt, weil ein Wetter am Himmel stand. Als ich aber ankam, war der Wagen nicht da. Wahrscheinlich irgend eine Verwechslung. Nun ist der Kutscher zum nächsten Zuge gekommen.«

Baldinger schien kaum auf diese Erklärung zu achten. Er eilte schnell voraus, blieb aber ein wenig verblüfft stehen.

Auf dem Tritt des Mietwagens stand eine Frau, die den Kopf in den Wagen steckte. Trotzdem war ihre laute Stimme deutlich zu vernehmen.

»Wie soll ich denn ohne Portemonnaie den Kutscher bezahlen? Ich habe dich doch geheißen, auf meine Sachen zu achten, Röse!« Dann wendete sie sich zum Kutscher. »Und das sage ich Ihnen, eine Mark kriegen Sie nicht. Fünfzig Pfennige sind genug für den Weg. Es hätte sich gehört, daß Sie's mir sagten …«

Hier wurde sie von Baldinger unterbrochen: »Das alles kommt davon, Mile, wenn man seine Ankunft nicht meldet.« – Er half ihr vom Tritt herunter und gab ihr die Hand. Umarmung und Kuß schien nicht gebräuchlich zwischen Bruder und Schwester. »Na, aber ich freue mich, Mile, daß du gekommen bist.« – Und sein ehrliches Gesicht leuchtete unverhohlen vor Freude.

Mile aber guckte den Bruder vorwurfsvoll an. »Ich hätte dir nicht geschrieben, Bruder? – Röse, du hast den Brief selbst fortgetragen. Direktement auf die Post, August.«

»Geschrieben hast du auch, Mile, aber …« Er konnte den Satz nicht vollenden.

»Und ich kann ja den Kutscher nicht bezahlen! Was wirst du denn von mir denken, Bruder? Du mußt ja denken, daß ich zu power wäre … Aber 'ne Mark bekommt er nicht, 'ne Mark is zu viel für so 'nen kurzen Weg. Wenn ich das gewußt hätte, würde ich den Wagen gar nicht genommen haben.«

Baldinger winkte dem Diener, der das etwas eigentümliche Gepäck ablud, den Kutscher zu bezahlen, während er die aufgeregte Schwester zu beruhigen versuchte.

Einige Dienstboten guckten neugierig zu. In der Hausthür stand breit, mit unterschlagenen Armen die Wirtschafterin und lächelte höhnisch; ja sie wagte es sogar, Steinbach verständnisvoll zuzublinzeln.

Ein ernster, strafender Blick wies sie in ihre Schranken, und sie zog sich zurück.

Miles Anzug war freilich etwas sonderbar; er gab ihr eine unverkennbare Aehnlichkeit mit einem alten Hospitalweibe. Ein glatter, brauner Lüsterrock wurde, nach Miles Geschmack, durch einen violetten Gürtel und ebensolche Aermelaufschläge verschönt. Um den Hals hatte sie ein gestricktes weißes Tuch geknüpft, und um die Schultern trug sie eine altmodische schwarze Taffetmantille. Der Hut vollends sah aus, als wäre er schon vor einem Jahrzehnt nicht mehr Mode gewesen.

Wie alle Frauen, die schwer gearbeitet haben, sah auch Mile älter aus, als sie war. Man sah es diesen etwas harten Zügen, wie der magern, starkknochigen Figur an, daß andauernde Arbeit ihre Muskeln gestählt hatte; aber körperliche Pflege mangelte, und deshalb war die braune Haut so runzlig, das Haar farblos und spröde geworden, und auf der sehnigen, harten Hand traten die Adern hervor.

»Wo ist das Kind? Die Amme soll das Kind bringen,« gebot Baldinger.

Sobald Mile hörte, wie der Bruder nach dem Kinde fragte, ging es wie eine Verklärung über das runzlige Gesicht. Alles Unschöne, Altmodische der alten Frau schien plötzlich zu verschwinden, wie Nebel vor der Sonne schwindet, und Steinbach, der beobachtend beiseite stand, kam es vor, als könne er in ein großes, liebendes Menschenherz schauen. Da hielt er sich nicht länger zurück.

»Bekomme ich nicht auch eine Hand, Fräulein Baldinger?« bat er und verbeugte sich in unwillkürlicher Hochachtung tief vor dem komischen alten Fräulein.

»Wer sind Sie denn?« fragte Mile und richtete einen scharfen, forschenden Blick auf ihn. In diesem Augenblicke sah sie dem Bruder merkwürdig ähnlich.

»Das ist ja Eduard Steinbach, mein Kompagnon und verehrter Freund,« erklärte Baldinger und nickte diesem dankbar zu, denn er fühlte sich von dessen respektvollem Benehmen sehr befriedigt.

Mile schüttelte mit ihrer in baumwollene Handschuhe gekleideten Rechten Steinbachs Hand, und jetzt fiel aus den grauen Augen auch ein leuchtender Blick auf ihn. Sie hatte eine hohe Meinung von dem Freunde ihres Bruders.

Jetzt erschien die Amme mit dem aus dem Schlafe geweckten Kindchen. Es greinte und fuhr sich mit den kleinen rosigen Händen über das Gesichtchen. Auf einen Wink Baldingers legte die Amme es Mile in den Arm.

Sie empfing das Kind, wie es Steinbach vorkam, mit stolzem Entzücken. Aber sie küßte es nicht, wie er erwartete, sondern blickte es aufmerksam an, was es sich mit müde blinzelnden Aeuglein auch gefallen ließ. Miles Miene wurde dabei ernster und kälter, dann reichte sie es ohne ein Wort des Lobes der tief beleidigten Amme.

»Nun, was sagst du zu meiner Tochter?« fragte Baldinger.

»Sie hat ein feines Gesichtchen; aber wie eine Baldinger sieht sie nicht aus.«

Baldinger lachte: »Wenn man uns beide ansieht, Mile, scheint mir das eher ein Vorteil.«

»Mir nicht,« entgegnete Mile kurz; doch fand sie es nicht höflich, sich weiter über diesen Punkt auszusprechen.

»Hier, Fräulein, ist das Portemonnaie!« rief Röse, das schlesische Dienstmädchen, und stieg triumphierend aus dem Wagen. Sie hatte es endlich unter den Resten des Eßvorrats gefunden.

Mile, sichtlich erleichtert, bestand darauf, den Bruder zu bezahlen, denn es gehörte zu ihren Anstandsregeln, sich nicht »power« zu zeigen; dann bat sie um die Erlaubnis, sich auf ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen.

»Wahrscheinlich habe ich mich auf der Reise erkältet,« erklärte sie den beiden Herren im breitesten schlesischen Dialekt. »Bei der Hitze ist ein ewiger Zug, weil die Leute die Fenster offen lassen« – Mile war aus gewohnter Sparsamkeit in der dritten Klasse gefahren –, »und da ist's schon besser, ich lege mich lieber gleich ins Bett und trinke eine Tasse Lindenblüte.«

»Ein großes Herz mag wohl unter dieser unscheinbaren Hülle schlagen,« dachte Steinbach; »doch eine wunderliche Person bleibt diese gute Tante Mile, das ist nicht zu leugnen. – Nun, man muß sehen, wie sie sich einrichtet. Solange das Kind noch keiner Erzieherin bedarf, wird's vielleicht gehen.«

Baldinger aber schien im ersten Augenblick von Miles Erscheinung und Wesen selbst ein wenig überrascht; doch das hatte er schon überwunden, und indem er sich vergnügt die Hände rieb, sagte er: »Sie werden schon sehen, alter Freund, nun kommt alles in die richtige Ordnung; auf meine Mile kann ich mich verlassen.«

»Ich wünsche es von ganzem Herzen,« meinte Steinbach und entfernte sich, um dem technischen Direktor der Werke einen Besuch zu machen.


 << zurück weiter >>