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8. Hildchens erste Reise.

Mariechen machte am Tage von Hildchens Ankunft das Unmögliche möglich. Wie zeitig sie aufgestanden war, erfuhr niemand, denn es geschah so leise, daß selbst die Mutter nicht geweckt wurde. Das Aufräumen ging noch schneller als sonst von statten; jede Minute war eingeteilt, und noch vor dem Frühstücke kehrte sie mit der Aufwartefrau, »schwer mit des Marktes Schätzen beladen«, wieder nach Haus.

Sie wurde mit Ungeduld erwartet, denn Fe war zu der Tochter des Landrats von Horwitz nach Jeltsch eingeladen. »Wo bleibst du nur so lange?« rief Fe, lieblich schmollend. »Ich habe schon zehnmal nach dir hinausgeguckt; du weißt doch, daß der Landrat den Wagen schon um acht Uhr schicken will? Ich kann ihn nicht warten lassen, das wäre zu unhöflich; und wenn mich Mama anzieht, sehe ich niemals so gut aus, als wenn du es thust.«

Mariechen sagte nicht, wie sehr sie der Hunger quälte, sondern war gleich bereit, Fe beim Ankleiden zu helfen. Das ging aber nicht sehr schnell, denn Fe war schon ein etwas anspruchsvolles kleines Fräulein.

Doch Mariechen fühlte sich belohnt, als Fe reizend und frisch wie ein Rosenknöspchen vor ihr stand und ihr mit einer Umarmung für ihre Mühe dankte.

»Die gute kleine Fe, wie dankbar sie ist!« rief die Mama, als sie dem Töchterchen noch aus dem Fenster bewundernd nachblickte.

Bild: Fritz Bergen

Fräulein Schönchen stieg zuerst aus, dahinter Hildchen …

»Es wäre geradezu grausam gewesen, hätte man diese Einladung Hildchens wegen abgeschlagen,« sagte die Mutter dann wie entschuldigend zu Mariechen, während sie ihr die im Feenhäuschen überall umhergestreuten Sachen forträumen half.

»Hoffentlich nimmt es Hildchen nicht übel. Fe steht ihr von uns doch am nächsten; die Kinder müssen ungefähr im gleichen Alter sein.«

»Nun, heute abend kommt sie ja wieder; es handelt sich nur um wenige Stunden,« beruhigte die Mutter.

Mariechen fand zum Widerlegen heute keine Zeit. In der als Gastzimmer eingerichteten guten Stube, im Wohnzimmer, ja selbst im Garten mußte sie noch eine verschönernde Hand anlegen und Blumen, die sie vom Markte geholt hatte, in die Vasen füllen; denn Mariechen konnte sich nicht entschließen, die im Garten selbstgezogenen Blumen abzupflücken.

Dann aber galt es sich in der Küche zu tummeln, um die lieben Gäste mit einem guten Mahle zu empfangen. Während darauf die Mutter in der Laube den Tisch deckte, wechselte Mariechen mit wunderbarer Schnelligkeit das Hauskleid, und als der Zug um ein Uhr schnaubend in den Bahnhof fuhr, stand sie in ihrem hellen Cambrickleide, auf dem kurzgeschnittenen dunkeln Haare ein Matrosenhütchen, da und blickte eifrig nach den sich öffnenden Coupéthüren.

Fräulein Schönchen in grauem Staubmantel und Hut mit roten Blumen – selbstgefertigten – stieg zuerst aus; dahinter Hildchen, eine Plaidtasche in der Hand.

»Hildchen!« rief eine herzliche Stimme, und ehe sie sich's versah, wurde ihr die Plaidtasche abgenommen und sie von der neuen Cousine mit einem schwesterlichen Kusse begrüßt. Es schien, daß sich beide Mädchen schon bei der ersten Begrüßung liebgewannen. Fräulein Schönchen war deshalb um so mehr erstaunt, als Hildchen ihr, sobald sie sich in der Gaststube allein überlassen waren, plötzlich mit Thränen um den Hals fiel und erklärte, daß sie es hier nicht aushalten könne.

»Aber was soll das heißen?« rief Fräulein Schönchen erschreckt. »Frau Amtsrat und Mariechen sind höchst sympathische Damen; was kann dir denn hier nicht gefallen?«

»Ach, es ist alles so eng, so klein, so niedrig! Ich kann hier nicht atmen! Ich will hinaus ins Freie!«

»Um Gottes willen, laß dir das nicht merken, Hildchen! Ich sehe es an der beschränkten Wohnung deiner Tante, daß sie nicht reich ist, ja, daß sie vielleicht ein großes Opfer bringt, indem sie dich aufnimmt.«

Hildchen sah sehr erschrocken aus. »Fräulein Schönchen, davon habe ich ja gar nichts gewußt! Da müssen wir gleich an Papa schreiben, er soll viel, viel Geld schicken.«

»Was fällt dir ein, Herzenskind! Damit würde Papa die Tante wahrscheinlich tief beleidigen: sie sieht nicht aus, als könne man ihr Geld anbieten.«

»O Fräulein Schönchen, das ist aber schrecklich; da kann ich mich ja niemals satt essen. Ich werde bei jedem Butterbrote ein böses Gewissen haben.«

»Unsinn! Iß dich satt und denke jetzt nur daran, ein bescheidener, höflicher Gast zu sein. Mir kommt schon ein Gedanke, wie sich die Sache einrichten läßt.«

»Darf ich zum Essen bitten?« kam vom Fenster her Mariechens freundliche Stimme.

Das Essen, in der Laube angerichtet, schmeckte so vorzüglich, daß Hildchen alle Rücksichten vergaß; jedenfalls stand sie nicht hungrig davon auf.

Sie war sehr neugierig, Fe kennen zu lernen; denn wenn es auch nicht gerade ausgesprochen wurde, konnte man doch aus den Reden von Mutter und Schwester merken, daß Fe eine Art Wunder von Schönheit, Liebenswürdigkeit und Talent sei. Während sie alle, nachdem der Mond schon aufgegangen war, vor der Laube saßen und plauderten, bildete Fe noch immer den Mittelpunkt des Gesprächs.

Mariechen erschien dieses stille Plätzchen als der Inbegriff alles dessen, was man sich nur wünschen könnte; Hildchen aber blickte beklommen auf die Garten- und Hausmauern. Weil sie nicht darüber hinausschauen konnte, war's ihr jedesmal, als stieße sie mit den Blicken an, und als fehlte es ihr an Luft zum Atmen.

»Ich merke erst jetzt, daß ich ein bißchen verwöhnt bin,« vertraute sie flüsternd Fräulein Schönchen an.

Diese fühlte sich in Gesellschaft so gebildeter Damen ausnehmend wohl, und Mariechen erschien ihr in ihrer ruhigen Sicherheit und liebevollen Rücksicht als eines der anziehendsten Mädchen, das sie je kennen gelernt hatte.

Es wurde später und später, und noch immer hielt kein Wagen, der Fe nach Hause brachte. Frau Amtsrat wurde sehr ängstlich.

»Beruhige dich nur, Mütterchen, und versuche so gut wie möglich zu schlafen. Es ist nicht das erste Mal, daß uns Fe im Stiche läßt,« tröstete Mariechen; doch sie wußte, daß ihre Mutter kein Auge schließen würde.

Am andern Morgen kam von der kleinen Ungetreuen ein Briefchen. »Ach das herzige Kind!« rief Frau Amtsrat ganz beglückt und las das Briefchen vor.

»Liebe Mama, es ist hier geradezu himmlisch, und sie lassen mich gar nicht fort. Uebermorgen, wenn der Herr Landrat in die Stadt fährt, wird er mich mitnehmen. Bitte, entschuldige mich bei Hildchen. Mariechen soll nicht mit mir zanken, wenn ich ein bißchen anspruchsvoll zurückkehre. Sie verwöhnen mich hier rasend, ich werde geradezu wie eine Prinzessin behandelt. Ach, es ist doch ein entzückendes Leben auf einem so schönen Schlosse!«

Frau Amtsrat schien sich über die Verwöhnung ihres Töchterchens ausnehmend zu freuen und war auf das Briefchen stolz. Mariechen dagegen, deren Blick auf Fräulein Schönchen gefallen war, kam es vor, als habe sich Fe damit in keinem günstigen Lichte gezeigt.

Ich fürchte, Fe ist keine gute Fee, dachte Fräulein Schönchen; doch sie mußte abreisen, ehe sie Fe kennen gelernt hatte.

Hildchens erster Brief an Fräulein Schönchen lautete aber sehr bewundernd: »Fe ist entzückend, bezaubernd, ich habe schon Freundschaft mit ihr geschlossen. Papa muß mir Fe einmal einladen, sie ist meine beste Freundin. Papa und Tante, alle werden von ihr entzückt sein; Ihnen wird natürlich Mariechen besser gefallen, weil sie so tugendhaft ist, aber mit Fe ist sie natürlich nicht zu vergleichen.«

Da bin ich doch neugierig, ob im zweiten Briefe auf dieses überschwängliche Lob nicht eine Ernüchterung folgen wird, dachte die kluge Erzieherin.

Indes war der Plan, den Fräulein Schönchen in der ersten Stunde ihres Aufenthaltes in Bromberg gefaßt hatte, unter Mitwirkung von Herrn Baldinger ausgeführt worden. Er hatte den Wunsch, daß seine Tochter von den Verwandten ins Seebad begleitet werden möchte, wie das Anerbieten, die Kosten eines solchen Aufenthaltes zu tragen, in so feiner Weise ausgesprochen, daß selbst Frau Amtsrat fühlte, sie könne in diesem Falle, ohne ihre Ehre zu verletzen, dem Wunsche ihres Schwagers nachkommen.

Hildchen war von dem Gedanken, in ein Seebad zu gehen, ganz berauscht. Selbst Mariechen schien wie umgewandelt, und man hörte sie bei der Arbeit immer singen. Vier Wochen sollte sie nicht wie ein geplagtes Dienstmädchen arbeiten, sondern einmal als Dame leben!

»Alle werden dich in Heringsdorf für unsre Erzieherin halten, Mariechen,« sagte Fe, als die Gesellschaft auf der Eisenbahn die Reise angetreten hatte. »Wir könnten dich eigentlich gleich für unsre Erzieherin ausgeben. Ja, das wollen wir auch thun; nicht wahr, Mama? – Wir sprechen französisch oder englisch, und das sieht dann so vornehm aus.«

»Das ist wahrhaftig kein übler Gedanke von unserm Engelskinde,« rief Frau Amtsrat erfreut. »Die Kinder sind dann gewissermaßen unter deinen Schutz gestellt, Mariechen, und die kleine Sprachübung wäre auch nicht zu verachten. Fe nimmt niemals ein englisches oder französisches Buch zur Hand; es wäre recht notwendig, daß sie sich etwas übte.«

In Mariechen stieg wieder einmal ein bitteres Gefühl gegen »das Engelskind« auf. Sie hatte gehofft, die Mutter werde erklären, daß Mariechen vor allem auch einmal der Ferien bedürfe. Jetzt sollte sie Erzieherin spielen und mit den Kindern fremde Sprachen üben!

Zum erstenmal ärgerte sich Hildchen über ihre neue Freundin. Fe fühlte selbst, daß sie Mariechen beleidigt habe, und setzte sich neben sie, während sie ihren Arm schmeichlerisch um die Schwester legte. »Bist du mir böse? Ach bitte, schilt nicht mit mir. Ich kann's gar nicht leiden, wenn die Menschen gleich alles übelnehmen. Ich meine es doch nur gut, Mieze. Du siehst nun einmal nicht wie eine elegante Dame aus. Findest du nicht auch, Hildchen, daß Mariechen recht gut eine Erzieherin vorstellen könnte?«

»Ich weiß nicht, warum eine Erzieherin nicht wie eine Dame aussehen soll,« sagte Hildchen. »Ist es denn eine Schande, als Erzieherin sein Brot zu verdienen? Papa denkt das nicht, er verehrt Fräulein Schönchen sehr. Wir alle lieben und verehren sie. Mariechen aber ist nicht unsre Erzieherin, und darum will ich sie auch nicht dafür ausgeben.«

»Alle Leute werden doch glauben, daß Mariechen unsre Erzieherin wäre,« versetzte Fe geärgert.

»Ja aber, Herzchen, wenn Mariechen nicht Lust hat, Konversation mit euch zu machen, darfst du nicht darauf bestehen,« sagte die Mutter. »Sie soll sich auch einmal ein bißchen erholen und vergnügen.«

»Ach, sie hat ja keine Bekannte, ich aber kenne die ganze Gesellschaft.« – Und Fe zählte alle die Namen ihrer Freundinnen auf, die sie in Heringsdorf wiederzusehen erwartete.

Der zweite Brief Hildchens an Fräulein Schönchen klang wirklich ein bißchen kühler: »Fe schwimmt im Meere wie eine Nixe. Es ist ein reizender Anblick, wenn ihr langes Haar von den Wellen gleichsam getragen wird. Die Damen sind ganz entzückt von ihr und stehen immer am Strande, um ihr zuzusehen. – Mariechen aber lehrt mich schwimmen und bleibt deshalb immer an meiner Seite. Ich mache gute Fortschritte. Es ist ein herrliches Vergnügen, im Meere zu baden, besonders wenn es einmal Wellen giebt. Mariechen ist sehr gut mit mir.«

Der dritte Brief klang noch kritischer: »Ich bin hier mit Fe gar nicht so viel zusammen, wie ich gehofft hatte. Sie hat sehr viele Freundinnen; die schwatzen und lachen untereinander und reden immer von Leuten, die mir fremd sind. Sie machen auch Witze, über die ich nicht lachen kann, weil ich sie gar nicht verstehe. Da halte ich mich mehr zu Mariechen. Aber Fe ist allgemein beliebt und der Tante wird viel Schönes über sie gesagt; das macht Tante sehr glücklich und sehr stolz. Ich finde aber doch, daß Fe ein bißchen zuviel von sich selber denkt, das gefällt mir nicht an ihr. Sie hält sich für etwas viel Besseres als ihre Schwester, und das gefällt mir auch nicht. Mariechen aber habe ich schrecklich lieb. Ich hoffe, daß Papa sie einmal einladet. Natürlich Tante und Fe soll er auch einladen. Mariechen aber werde ich, wie ich glaube, immer lieb behalten; sie ist meine beste Freundin!«

Also endlich ist mein Hildchen doch klug geworden, dachte Fräulein Schönchen.


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