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5. Ein Gastmahl mit Hindernissen.

Baldinger liebte es nicht, seinen Geburtstag großartig gefeiert zu sehen. Zwei Einladungen zum Mittagessen aber waren unvermeidlich: Pastor Horner mit seiner Frau und Eduard Steinbach mit seiner Mutter, der Frau Konsul.

In diesem Jahre nun war Walter Roland, nachdem er drei Jahre am Polytechnikum studiert hatte, zurückgekehrt und arbeitete wieder in der Fabrik – vorderhand in der technischen Abteilung.

»Du darfst nicht vergessen, Walter zu deinem Geburtstag einzuladen, Papa,« hatte Hildchen gesagt.

Und wenn Hildchen einen Wunsch aussprach … Nun, man kennt ja diese schwachen Väter! Außerdem stimmten in Bezug Walters Vater und Tochter überein: Hildchen hatte ihren Jugendfreund trotz der Jahre der Trennung nicht vergessen, und Baldingers Ueberzeugung von der ungewöhnlichen Begabung Walters hatte sich immer mehr befestigt.

Walter wurde deshalb gleichfalls eingeladen.

»Also fünf Gäste,« sagte Tante Mile und seufzte.

Ein Diner war Tante Mile ein Schreckgespenst. Befand sich unter den Gästen aber eine so vornehme, anspruchsvolle Dame, wie Frau Konsul Steinbach, dann geriet sie in die Versuchung, sich krank zu melden, um all der Aufregung zu entgehen. An des Bruders Geburtstag aber war eine improvisierte Krankheit natürlich ausgeschlossen.

Baldinger war für häusliche Vorschläge niemals zugänglich; also blieben zu den Beratungen nur Fräulein Schönchen und die Köchin.

Leider war auch mit Fräulein Schönchen nicht viel anzufangen; sie war durch Anfertigung künstlicher Blumen zu sehr in Anspruch genommen, und dann schlug sie immer nur ihre Lieblingsgerichte vor.

»Wenn ich nur an mich dächte, Fräulein Schönchen, würde ich auch nur schlesisches Himmelreich oder Schweinefleisch mit Hirse kochen,« meinte Mile schon etwas verstimmt.

Schließlich einigte sie sich mit den Vorschlägen der Köchin. »Bis auf weiteres,« wie sie bemerkte.

Die Köchin kannte dieses »Bis auf weiteres«. Und alles kam, wie sie es erwartet hatte: Mile fand immer wieder etwas Neues.

Ein heftiger Auftritt folgte dann. Siegte Tante Mile, so zog die Köchin, die Thüre zublitzend, beleidigt ab. Siegte die Köchin, so blieb Tante Mile grollend auf ihrem Zimmer und beschloß, der Köchin zu kündigen.

Das waren so die kleinen Wölkchen, die für den Festtag Sturm verkündigten.

In der Nacht, die dem gefürchteten Diner vorausging, hatte Mile kein Auge zugethan und fühlte sich wie zerschlagen, aber sie durfte nicht krank sein. Was sollte denn aus dem großen Mahle werden, wenn sie zu Bett lag? Aus Liebe zum Bruder stand sie sogar zeitiger noch als sonst auf. Sie lebte ja der Ueberzeugung, gewissermaßen die Vorsehung des ganzen Haushalts zu sein.

Natürlich hatte sie nicht nutzlos wachgelegen, sondern an Tischdecken und eine neue Speiseordnung, an Hildchens Anzug und eine andre Kaffeebereitung, wirklich an »alles« gedacht.

Aber da die arme Mile vergeßlich war, konnte sie sich am nächsten Morgen nicht mehr auf diese »zweckmäßigen« Aenderungen besinnen, und kam die Erinnerung, so kam sie gewissermaßen stoßweise. Gerade als sie dem Bruder den so innig gemeinten Glückwunsch aussprach, traf sie ein solcher Erinnerungsstoß. »Eis!« rief sie plötzlich und stürzte hinaus.

Baldinger sah sein Hildchen fragend an.

Hilde, jetzt ein allerliebstes Mädchen von zwölf Jahren, erklärte verständig: »Tante hat heut an so viele Dinge zu denken, da muß sie, wenn ihr was einfällt, es gleich den Leuten sagen.«

Sobald Mile wieder etwas eingefallen war, schickte sie Röse mit der veränderten Weisung nach der Küche. Die Stimmung in der Küche kann man sich danach ungefähr vorstellen.

Röse war in diesen Räumen ohnehin nicht beliebt. Es ging die Rede, daß sie Mile alles, was hier geschah oder nicht geschah, berichtete; sie hatte sich den Namen »Klatsche« erworben und gehörte – vom Standpunkte der Dienerschaft aus – zur Gegenpartei.

War Röse, nachdem sie ihre Ausrichtung gemacht hatte, wieder abgeschoben – man konnte ihr Gehen nur als »Schieben« bezeichnen – so erfolgte die »Küchenkritik«.

Alle Köchinnen im Hause Baldinger wurden Hanne, alle Hausmädchen Sophie und alle Diener Fritz genannt. Tante Mile konnte sich bei dem häufigen Wechsel des Personals die verschiedenen Namen nicht merken und hatte bei den drei Hauptvertretern der Dienerschaft diese Namen für »ewige« Zeiten bestimmt.

Noch ehe sich Hanne, Sophie und Fritz über die neue Anordnung Miles genügend ausgesprochen hatten, schob Röse schon wieder mit dem Gegenbefehl herein.

Endlich wurde es der Köchin zu arg. Sie stemmte die Arme ein und erklärte: »Das können Sie Ihrem Fräulein sagen, wenn sie selber nicht wüßte, was sie wollte – na, dann wüßten wir's auch nicht, und wenn sie jetzt das und hernach wieder was andres befehlen wolle, könnte kein Mensch ein Diner kochen. – Ich wenigstens kann's nicht,« schloß Hanne.

Röse brachte diese Botschaft, ein wenig gemildert, nach dem Fräuleinzimmer. Darob große Verzweiflung. Was sollte werden, wenn die Köchin streikte!

»Ach, Fräulein, reißen Sie sich nur nicht gleich den Kopf 'runter,« ermahnte Röse, die sich nach zehnjährigem Zusammenleben einen unzerstörbaren Gleichmut angeschafft hatte. »Schicken Sie 's Fräulein Hildchen 'nunter, die bringt die Leute schon wieder zur Raison.«

Der Ausweg – ein andrer blieb nicht übrig – wurde gewählt. Hildchen verstärkte ihr Ansehen noch durch Fräulein Schönchen. Aber wer hätte dem lieblichen Kinde widerstehen können?

Die Köchin erklärte, sie wolle sich von jetzt an auch keinen Pfifferling um Fräulein Baldingers Befehle und Gegenbefehle kümmern, und machte sich daran, Feuer im Kochherd anzuzünden. Das gute Beispiel wirkte, Sophie und Fritz begaben sich gleichfalls an die Arbeit.

Da schoß – diesmal konnte man es nicht mit Schieben bezeichnen – Röse abermals in die Küche, »'s Fräulein kann den Weinkellerschlüssel nich finden.« – Und dann mit einem etwas mißtrauischen Blick nach Fritz: »Wer is denn zuletzt im Keller gewesen?«

»Allemal ich,« entgegnete Fritz mit unerschütterlicher Ruhe.

»Dann müssen Sie auch wissen, wo der Schlüssel liegt.«

»Stimmt nicht. Wenn ich Wein heraufgeholt habe, fordert Ihr Fräulein den Schlüssel. Nehmen Sie ihn also nur weg, wo sie ihn hingelegt hat.«

»Ja, wenn einer das wüßte!« platzte Röse heraus.

Verlorene Gegenstände zu suchen, war Röses Hauptbeschäftigung. Deshalb hatte sie sich, so widersprechend das auch klingt, das Suchen abgewöhnt. Sie wußte aus Erfahrung, daß sich noch niemals ein von ihrem Fräulein verlegter Gegenstand da, wo man ihn vernünftigerweise vermuten konnte, gefunden hatte. Fand er sich wieder, so war's ein Wunder. Auf Wunder aber kann man nicht rechnen.

Die Jagd nach dem Schlüssel begann.

Zuerst schoß Röse wie eine aufgescheuchte Fledermaus im Zickzack durch das Fräuleinzimmer und kehrte das Unterste zu oberst.

Dann begann sich Mile an diesem unfruchtbaren Geschäft zu beteiligen.

Unglücklicherweise ließ sich das Hausmädchen blicken. Sofort wurde es zum Suchen eingefangen.

Mile verlegte jetzt den Schauplatz des Suchens nach dem Salon. Natürlich wurden Hildchen und Fräulein Schönchen in Mitleidenschaft gezogen.

Da sich Fritz, der den Tisch deckte, noch nicht beteiligt hatte, und Röse das Herumrasen satt bekam, ließ sie eine Bemerkung fallen: der Schlüssel wäre vielleicht gar nicht verlegt, sondern versteckt worden.

Was man sich bei dem Verstecken des Weinkellerschlüssels zu denken hatte, blieb jedem überlassen. Tante Mile hatte, ihrer Vergeßlichkeit wegen, ein etwas mißtrauisches Gemüt, und so wurde Fritz das Opfer eines schwarzen Verdachtes.

Je länger Mile an Gardinen schüttelte – kein Mensch hatte bis jetzt erlebt, daß sich Weinkellerschlüssel hinter Vorhänge verstecken! – und zwischen die Rücklehnen der Polstermöbel griff, auf Stühle steigend die Schränke untersuchte und unter die Teppiche schaute – wie gesagt, je länger sie sich mit steigender Aufregung abhetzte, je verdächtiger erschien ihr Fritz.

Hildchen wünschte der armen Tante gar so gern zu helfen, aber auch sie wußte, daß Suchen vergebliche Mühe war.

»Wir wollen doch erst einmal nachdenken, Tantchen. Vielleicht fällt dir ein, wo du den Schlüssel hingelegt hast.«

Bild: Fritz Bergen

Tante Mile warf sich auf einen Stuhl …

Tante Mile warf sich erhitzt, mit losgebundenen Haubenbändern auf einen Stuhl. »Nachdenken?« keuchte sie. »Der Schlüssel ist ja gar nicht verlegt. Ich will niemand nennen, aber« – Fritz ging gerade durchs Zimmer – »darüber bin ich mir ebenso klar wie Röse, daß der Schlüssel versteckt worden ist.«

Baldinger kam von den Werken nach Hause, und da ihm irgend ein dienstbarer Geist die aufregende Thatsache mitgeteilt hatte, ließ er einen Schlosser rufen, der das Schloß des Weinkellers öffnete, als Mile noch immer nach dem Schlüssel herumfuhr.

Gott sei Dank, an Wein würde es nun nicht fehlen. Aber wie viel Zeit war versäumt worden! In einer Viertelstunde kam schon der Frankfurter Zug an!

»Schönchen! Schönchen! Sind Sie denn noch nicht fertig?« rief die Tante. »Sie müssen das Kind anziehen helfen. Ich kann mich um nichts mehr bekümmern!«

Pastor Horner mit seiner lieben Frau und Walter saßen in Baldingers Zimmer neben dem Salon, Baldinger bot ihnen Cigarren an. Eine schlechte Angewohnheit vor dem Essen! Aber die Cigarren waren so vorzüglich, daß der Pastor trotz der mahnenden Blicke seiner Frau schwach wurde. Walter wagte nicht, dem Chef abzulehnen. Alle drei hüllten sich in wahre Rauchwolken, und die Thüre nach dem Salon stand geöffnet!

Niemand achtete darauf, daß der Rauch eine besondere Neigung verriet, sich im Salon auszubreiten und festzusetzen, denn da Frau Pastor eine Ahnung hatte, daß in diesem Hause niemals etwas pünktlich fertig sein könnte, war sie jetzt auf Tante Miles Stube mit Röse bemüht, aus den durchwühlten Kommoden die notwendige Toilette für Tante Mile zusammenzusuchen. Diese aber hatte man auf das Sofa gesetzt und ihr Baldriantropfen eingegeben.

»Und wenn ich nur eine Ahnung hätte, was wir heut zu essen bekommen werden,« sagte Mile und seufzte.

Fräulein Schönchen hastete die Treppe hinunter mit einem Korbe, gefüllt mit künstlichen Blumen. Das Anfertigen solcher Blumen war bei ihr zur Leidenschaft geworden, und in einer Familie, die ihren Geschmack nicht geteilt hätte, wäre sie ihrer größten Freude beraubt gewesen.

Die Baldingers schätzten alle ihre vorzüglichen Eigenschaften, daß sie aber so schöne Blumen anfertigen konnte, wurde ihr ganz besonders hoch angerechnet. Baldinger selbst hatte große Vorliebe für alles Bunte, Aufgeputzte, und zog die künstlichen Blumen den natürlichen vor, weil sie sich länger frisch erhielten. Mile aber bevorzugte alles, was irgendwie befestigt war und seinen Platz nicht veränderte, folglich auch nicht verloren gehen konnte. Dazu gehörten nun die Schneeballen und Apfelblütenzweige, womit die Schönchen die blauen Glasvasen auf ihrem Schreibsekretär gefüllt hatte.

Der Geburtstag des von ihr hochverehrten Herrn Baldinger hatte nun Fräulein Schönchen, fast möchte man sagen, zu einer Ueberproduktion veranlaßt, denn sie hatte eine solche Fülle von Blumen angefertigt, daß sie selbst vor dem Reichtum, der gar nicht unterzubringen war, erschrak.

Sie füllte – das liebe Hildchen stand ihr dabei hilfreich zur Seite – alle Vasen, die vorhanden waren. Sie zog Schlinggewächse um die Arme der Kronleuchter. Der Reichtum verminderte sich, aber aufgebraucht war er doch nicht.

Sie steckte Blumenzweige in Gardinenhalter, Blumen nickten hinter den Wandleuchtern hervor. Ach, noch immer kein Ende!

Da kam ihr ein famoser Gedanke: sie legte Blumen, und zwar mit zarten Anspielungen, zwischen die sorgsam gefalteten Servietten. Herr Baldinger bekam eine dicke Päonie, Frau Konsul eine Tulpe, Hilde ein Rosenknöspchen, und für sich selbst, die bescheidene Künstlerin – waren schlichte Veilchen bestimmt.

»Aber Fräulein, es sind ja noch immer Blumen da,« klagte Hildchen.

Doch Fräulein Schönchen, die jetzt den Boden des Korbes schaute, ergriff mutig die letzten Blüten ihres Fleißes und wand sie um die Hälse der auf der Tafel aufgestellten Weinflaschen.

Noch ein Blick auf den so geschmückten Tisch, und mit einem befriedigten Lächeln eilte sie, gefolgt von Hildchen, auf ihr Zimmer.

Selbstverständlich wurden die Frankfurter Gäste durch Herrn Baldingers Equipage an der Station abgeholt.

Das Räderrollen des vorfahrenden Wagens verursachte in den verschiedenen Räumen des Hauses großen Schreck, und der Ruf: Frau Konsul ist da! klang fast ebenso furchtbar, als: der Löwe ist los! Von der Küche bis zum Fräuleinzimmer war niemand bereit, die Gäste zu empfangen.

Bild: Fritz Bergen

Baldinger stürzte hinaus, um der alten Dame die Hand zu küssen …

Fritz riß die Leinwandschürze herunter und stürzte hinaus. Ja, da stand Frau Konsul schon im Hofe und maß ihn mit vorwurfsvollen Blicken.

Sophie flog, sich dabei die weiße Schürze bindend, die Treppe hinunter. Frau Konsul aber hatte ihres Sohnes Hilfe beim Ablegen angenommen und ordnete setzt vor dem Spiegel die grauen Locken.

Selbst Baldinger wurde aus der gewohnten Ruhe aufgeschreckt. Er warf die qualmende Cigarre in den Aschenbecher und stürzte hinaus, um der alten Dame die Hand zu küssen. Keine andre Frau durfte sich dieser Höflichkeit des guten Mannes rühmen.

Doch der Cigarrenduft war mit ihm gezogen; er hing unsichtbar an seinem Haar und steckte heimtückisch in jeder Rockfalte. Frau Konsul rümpfte die Nase. Sie konnte Tabaksgeruch nicht vertragen, und ihrem Sohne war im Hause der Mutter, mit der er zusammenwohnte, Nichtrauchen ein Gesetz.

Warnte Baldinger eine innere Stimme, Frau Konsul in den Salon zu führen, oder hatte ihn eine äußere Stimme davor gewarnt? Kurz, er geleitete die Dame in ein etwas unscheinbares Eckzimmer, wo Hildchen unterrichtet wurde.

Aus dem Salon ließen sich indessen eigentümliche, nicht zu benennende, ganz wunderbare Geräusche vernehmen. Baldinger hatte eine Ahnung, was sie bedeuteten; Onkel Edi aber hatte keine Ahnung. Er öffnete die Thür, und es wurde ihm ein unbeschreiblicher Anblick.

Tante Mile, Frau Pastor, Fräulein Schönchen und Hilde – die weibliche Garde; Herr Pastor und Walter – die Vertreter des männlichen Geschlechts, alle bewaffnet mit Taschentüchern oder was sie sonst erwischen konnten, vertrieben mit Springen und mit den wunderlichsten Armbewegungen beim Wedeln mit den Tüchern die hier angesammelten Rauchwolken durch die offenen Fenster, während Fritz auf einem Räucherapparat Wohlgerüche ausgoß.

Der Anblick war so überwältigend komisch, daß Onkel Edi in Lachen ausbrach, worauf sich Hildchen aus der Reihe löste und ihm um den Hals fiel.

Der Kampf wurde unterbrochen, die Fenster geschlossen, die Taschentücher eingesteckt und Frau Konsul in den von übeln Gerüchen gereinigten Salon geführt. Sie schnüffelte noch ein wenig; einmal weil ihr das Parfüm widerstand, und dann, weil sich noch irgendwo Rauchwölkchen versteckt hatten. Dann aber nahm sie neben Frau Pastor Platz und versicherte ihr im Vertrauen, daß sie hoffe, es würde bald angerichtet; sie habe es nämlich versäumt, ein zweites Frühstück zu sich zu nehmen, und sei ganz schwach vor Hunger.

Hunger war nicht das Wort, das Frau Konsul bei dieser Gelegenheit brauchte; sie verstand es, dieses ordinäre Gefühl zart zu umschreiben.

Frau Pastor beruhigte die Dame scheinbar, warf aber einen verzweifelten Blick nach der Uhr: der Zeiger hatte längst die Zwei überschritten und rückte energisch auf die Drei zu.

Wenn es etwas gab, was Frau Konsul in diesem, ohnehin ganz ungewohnten Zustand ihres Magens, noch reizbarer machte, so war es Miles laute Stimme, sowie ihr schlesischer Dialekt. Frau Konsul war Hannoveranerin: sie sprach ein s nicht Sch aus, und niemals, nein, unter keinen Umständen hätte sie, wie die gute Mile, gesagt: »Frau Konsul, 's wird wohl noch ein bissel dauern, ehe 's soweit ist; es ist nämlich 'n Unglück passiert.«

Frau Konsul nickte herablassend und verbarg ihr Gähnen – eine Folge des leeren Magens – hinter dem Taschentuch.

Baldinger gähnte ganz offen, denn er war gewohnt, um ein Uhr zu speisen. Er konnte nur noch nach der Thür blicken, und hoffte Fritz mit der erlösenden Verkündigung eintreten zu sehen.

Hildchen, schon ganz verblaßt vor Hunger, hatte sich zwischen Tante Mile und Frau Konsul, deren Liebling sie war, gedrängt, um ihr die Hand zu küssen, während der Pastor und seine Frau krampfhaft die fortwährend einschlummernde Unterhaltung neu zu beleben versuchten. Onkel Edi und Walter hatten sich vor Schwäche in eine Fensternische zurückgezogen und sprachen von einer neuen Maschine.

Die Lage wurde von Minute zu Minute peinlicher.

Die Uhr schlug halb. Baldinger zog den eignen Chronometer und verglich ihn mit der Stubenuhr, dann erklärte er mit unheimlicher Betonung: »Die Uhr geht falsch. Es ist zehn Minuten später, und wenn wir nicht bald was zu essen bekommen, so …«

»Es ist angerichtet,« verkündete eintretend Fritz.

Durch das rein menschliche Empfinden eines wütenden Hungers wurden alle Regeln des Anstandes umgeworfen. Die stets durch ihre ruhige Haltung imponierende Frau Konsul sagte allen hörbar: »Gott sei Dank,« und erhob sich mit einer bei ihr ganz unnormalen Geschwindigkeit.

Dann schritt Baldinger mit Frau Konsul am Arm so eilig, als ob etwas versäumt werden könnte, dem Speisezinnner zu. Die andern folgten paarweise in dem gleichen Tempo, und Hildchen, für die niemand mehr übrig blieb, hing sich an Walter, der Fräulein Schönchen führte.

Unten in der Küche aber war man erstaunt, daß trotz der verschiedenen Befehle und Gegenbefehle überhaupt ein Mahl zustande gekommen war.

Der armen Tante Mile lag jetzt das schwierige Amt der Wirtin ob, und aus Angst, wie sie dabei bestehen würde, war ihr aller Appetit vergangen.

Den ersten Teller füllte sie zum Ueberfließen mit Suppe. Dann erinnerte sie sich einer Bemerkung Steinbachs und die nächste Portion fiel zu knapp aus. In ihrer Aufregung zeigte sie sich im ungünstigsten Lichte, ja ihre Unruhe war so sichtbar, daß sie eine ganze Gesellschaft nervös machen konnte.

Bald winkte sie Fritz herbei, dann winkte sie ihm wieder ab. Jetzt zischelte sie ihm halblaut ins Ohr, er solle die Teller abnehmen; im nächsten Augenblicke gewahrte sie auf des Bruders Teller ein Restchen, und sofort winkte sie Fritz mit Hand und Augen einen Gegenbefehl zu. Dann aber bemerkte sie, daß Baldinger Messer und Gabel doch nicht mehr berührte, und da Fritz nicht im Zimmer anwesend war, ließ sie mit Macht die Klingel ertönen. Fritz stürzte herein. Sie empfing ihn mit vorwurfsvoller Miene, zeigte nach dem Teller und kommandierte mit der Stimme eines Unteroffiziers: »Abräumen!«

Zum Glück hatte Tante Mile keine Ahnung, wie sehr sie allen Gästen das Essen verleidete; im Gegenteil, da es bei dem Mahle ohne zerbrochene Flaschen und Teller, ohne verschüttete Saucen und überfließenden Wein abging, gratulierte sie sich, daß alles so gnädig abgelaufen sei. Als ihr Steinbach einen kleinen Wink gab, die Tafel endlich aufzuheben – Tante Mile vergaß regelmäßig das Aufstehen –, nickte sie ihm ganz befriedigt zu.

Nichts war dem feingebildeten Geschmacke Steinbachs störender als ungeschickte Nachbildung der Natur, aber er hatte ein so wohlwollendes Gemüt, daß er den Tadel verschwieg und irgend etwas heraussuchte, dem er, ohne die Wahrheit zu verletzen, Lob spenden konnte.

Fräulein Schönchen errötete vor Vergnügen, als er ihr eine Artigkeit über ihre Geschicklichkeit und ihren großen Fleiß sagte.

Baldinger fiel mit Begeisterung in das Lob ein und klatschte Fräulein Schönchen laut Beifall; seinen Geschmack hatte sie wenigstens getroffen.

Fräulein Schönchen fühlte sich sehr geschmeichelt, und aus Freude zierte sie sich ein wenig. »Ich habe nur beweisen wollen, daß die Kunst höher steht als die Natur,« sagte sie. »Die Natur bringt für jede Jahreszeit nur eine bestimmte Art von Blumen hervor; die Kunst aber vereinigt den Reichtum des ganzen Jahres in einer Schale.«

Hildchen strahlte vor Freude über das Lob, das ihrem lieben Fräulein Schönchen zu teil geworden war. Nur Frau Konsul rümpfte ein bißchen ihre große Nase und sagte: »Aber diesen künstlichen Blumen fehlt doch eigentlich alles, was uns die natürlichen so angenehm macht – der Wohlgeruch.«

»Dem wäre abzuhelfen,« meinte Baldinger; »Fräulein Schönchen kann sie ja das nächste Mal parfümieren, dann haben wir auch den Wohlgeruch.«


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