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9. Am Geburtstage.

Nein, wie doch die Zeit vergeht!« ruft Baldinger aus und blickt auf Hildchen, die soeben mit dem frischesten, fröhlichsten Gesichtchen in seine Stube tritt.

Es erfolgt eine stürmische Umarmung.

»Mache mich nur nicht gleich tot!« sagt der beglückte Papa und wehrt sich lachend gegen die Zärtlichkeit seiner Einzigen. »Wie soll ich dir denn zum Geburtstage gratulieren, wenn ich jetzt erstickt werde?«

»Na, dann fange ich mit dem Gratulieren an,« meint Tante Mile. Sie hat sich zu diesem Zwecke früher als sonst in den Parterreräumen eingefunden. Aber auch Miles Glückwunsch scheitert an einer Umarmung des übermütigen Backfischchens. Ach, wie gern sich das alternde Geschwisterpaar diese Liebkosungen gefallen läßt!

»Nun ist's aber genug, Hilde! Einmal mußt du doch vernünftig werden,« mahnt Mile und trocknet sich die Augen; sie ist zur Rührung sehr geneigt.

»Mädel, du wirst ja heute schon fünfzehn Jahre!« ruft Baldinger, als würde er von dieser Thatsache überrascht.

»Als ich so alt war wie du, Hilde, mußte ich mir schon mein Brot verdienen,« versetzt Mile.

»Armes Tantchen, wie magst du dabei gehungert haben!«

»I, wo werd' ich denn gehungert haben! Satt bin ich noch allemal geworden.«

»Aber ich könnte mir nur ganz kleine Stückchen Brot verdienen und müßte natürlich schrecklich hungern, das weiß ich. Wie gut ist's, daß Papa das Brot verdient, da kann ich doch Kuchen essen! Gelt, Papachen? Heute giebt's schon zum Frühstück gefüllte Hörnchen. Fräulein Fanny sagt, wir sollen sie kosten. Eigentlich sind sie für meine Gesellschaft bestimmt, aber heute nachmittag giebt's noch andre Dinge; wunderbaren Kuchen und eine Torte giebt's, die so was Besonderes ist, daß ich den Namen schon wieder vergessen habe. Und dazu kommt Ananasbowle.«

»Ananasbowle?« ruft Mile entrüstet. »Nein, das ist übertrieben; für solche Kinder paßt keine Ananasbowle. – Was sagst denn du dazu, August?«

»Na, weißt du, bei so 'ner Geburtstagsfeier kann wohl 'ne Ausnahme gelten.«

»Hörst du, was der liebe Papa sagt, Tantchen? Ich will ja das ganze übrige Jahr keine Bowle trinken, denn ich mache mir nichts daraus. Aber an meinem Geburtstage soll sie nicht fehlen; es sieht dann so großartig aus, und das macht mir Spaß. – Ich habe auch noch eine Bitte auf dem Herzen, Papachen.«

»Na, was wird's denn sein! Wohl gar Champagner?«

»Da hast du's, August! Ja, das kommt bei der Verwöhnung heraus! Jetzt verlangt das Kind gar Champagner! Hab' ich's nicht immer prophezeit?«

Hilde muß so herzlich lachen, daß sie nicht gleich Worte findet, sich zu verteidigen. »Aber Tantchen! – Aber Tantchen! Ich verlange ja keinen Champagner!«

»Nun, da möcht' ich doch fragen, wozu du erst die vielen Umstände machst.«

»Ich will Papa nur bitten, daß er Walter zum Mittagessen einladet, denn in die Mädchengesellschaft paßt er nicht, und wenn wir ihn gar nicht einladen, würde es ihn kränken. – Also nicht wahr, Papachen, du bringst ihn gleich aus der Fabrik mit?«

Diese Bitte wird so bereitwillig zugestanden, als habe Hildchen damit den eignen Wunsch des Vaters ausgesprochen. Baldinger schmunzelt, klopft das Töchterchen auf die Wange und nickt ein halbes Dutzendmal.

Diese Bereitwilligkeit war Mile befremdlich. Dahinter muß doch was stecken, dachte sie. Aber um die Ursache herauszubringen, hätte Mile lange nachdenken müssen, und ehe Baldinger nach dem Kontor ging, sollte beschert werden.

Fräulein Schönchen baute die Geschenke zierlich zwischen künstlichen Blumen auf. Mile fuhr aber immer dazwischen, verrückte die Gegenstände und warf den Aufstellungsplan über den Haufen. Die angerichtete Unordnung schien sie nicht einmal zu bemerken, und endlich kam's fast gegen ihren Willen über ihre Lippen: »Mir ist heute an dir was aufgefallen, August.«

Anstatt Mile zu antworten, wandte sich Baldinger zu Fräulein Schönchen und sagte: »Auch mir ist was aufgefallen. Hilde trägt die Kleider noch sehr kurz; meinen Sie nicht, Fräulein Schönchen, daß man ihre Röckchen um einige Centimeter verlängern könnte?«

»Ach, Herr Baldinger, warum wollen wir unser Hildchen jetzt schon in lange Kleider stecken? Sie ist ja, Gott sei Dank, noch ein richtiges Kind.«

Während Fräulein Schönchen so sprach, war sie bemüht, um die »namenlose« Torte einen Kranz von Rosen zu legen, aus dem sich die fünfzehn Lichtchen erhoben.

»Jede Sache hat zwei Seiten, Fräulein Schönchen,« erwiderte Baldinger. »Hildchen wird wahrscheinlich, wie jedes junge Mädchen, Ansprüche ans Leben machen. Kann man ihr auch nicht verdenken. Doch ich bin der Meinung, sie beizeiten zu verheiraten, denn ich mag diese wichtige Angelegenheit nicht dem Zufall und dem Unverstande eines unerfahrenen Kindes überlassen, und da bleibt für die Mädchenjahre nicht viel Zeit übrig.«

Fräulein Schönchen sah ganz entsetzt aus. »Ach, Herr Baldinger, Sie werden doch Ihr einziges Kind nicht zwingen, einen Mann zu heiraten, den es nicht liebt?«

»Ich muß auch gestehen, August, der Altersunterschied zwischen Steinbach und unserm Hildchen …«

»Fällt mir doch nicht im Traume ein, zu verlangen, daß sie meinen Kompagnon heiratet!«

»Dann muß ich dich freilich ganz falsch verstanden haben, aber du hast doch von einem Manne in gesetzten Jahren gesprochen. Nicht wahr, Fräulein Schönchen, er sagte, daß nur ein älterer Herr …?«

»Um Himmels willen, Mile, gleich wirst du Hildchens künftigen Gemahl zum altersschwachen Greise gemacht haben. – Wenn ich übrigens hernach klingle, mußt du dich auf einen Stuhl setzen, Mile, sonst rennt dich das Mädel um. Hilde hat Temperament, das habe ich heute früh gemerkt.«

»Und auch einen sehr bestimmten Willen, Herr Baldinger. Ich habe jetzt öfter Gelegenheit zu bemerken, daß Hildchen, wenn sie sich etwas vornimmt, es auch durchführt. Man spürt schon das Baldingersche Blut. Es könnte leicht gefährlich werden, wenn Sie darauf bestehen wollten …«

»Bitte die Sache nicht mehr zu berühren, Fräulein Schönchen – gegen niemand; Sie verstehen mich.« – Auf Baldingers Stirn bildete sich zwischen den Brauen eine Falte; sie pflegte, wie eine dunkle Wolke dem Gewitter, seinem Zorne vorauszugehen. »Wo steckt denn jetzt aber Hilde? Man muß das wissen, ehe man die Lichter anzündet.«

Hilde kam jetzt »in Sicht«. Sie wandelte an Walters Seite durch den Garten.

Fräulein Schönchen konnte nicht umhin, auf Baldinger einen vielsagenden Blick zu werfen. Sie wünschte auszudrücken, daß, wenn er über Hildchens Hand schon verfügt habe, er doch lieber diesem Jugendfreunde nicht zu viel Rechte einräumen sollte.

Tante Mile faßte die Sache kräftiger an und sagte: »Wenn sich das Kind in den Roland verliebt – na, mir kannst du keine Vorwürfe machen, August, ich habe ihn nicht ins Haus gezogen.«

»Ich mache dir auch keine Vorwürfe,« versetzte Baldinger, öffnete die Thür, die auf die Veranda führte, und trat mit behaglichem Lächeln in den mit dem ersten Frühlingsgrün geschmückten Garten hinaus.

Hildchen hielt einen Strauß von Schneeglöckchen und Veilchen in der Hand, den sie von Zeit zu Zeit an ihr Näschen führte. Dabei horchte sie eifrig auf das, was Walter zu ihr sprach.

Walter war, nachdem er sein Examen mit ganz besonderer Auszeichnung bestanden hatte, mit einem sehr mäßigen Gehalte auf den Werken angestellt worden, denn seine Chefs waren übereingekommen, daß es vorteilhafter für den jungen Mann wäre, erst mit einem bescheidenen Einkommen hauszuhalten. Für seine eignen Bedürfnisse war der Gehalt reichlich bemessen; wollte er aber für seine Familie sorgen, so mußte er sich der größten Sparsamkeit befleißigen. Walter mußte jetzt nach des Vaters Tod für Mutter und Geschwister sorgen. Schwester Lene konnte wegen des Hüftleidens keine Stellung annehmen und auch nur wenige Stunden an der Nähmaschine arbeiten. Die Brüder aber sollten etwas Ordentliches lernen. Die Sorgen traten schon früh an Walter heran. Trotzdem hatte er ein Extrahonorar von einigen hundert Mark, das ihm die Herren für eine Verbesserung am Getriebe einer Maschine ausgezahlt hatten, zurückgelegt.

»Nun habe ich schon Geld auf der Sparkasse,« hat er Hildchen soeben mit Stolz erzählt. »Ich habe auch große Pläne: Wenn ich noch ein paar Jahre so arbeite und mir vielleicht was extra verdiene, will ich für meine Mutter in Friedrichsroda ein Häuschen kaufen. Man braucht's nicht gleich voll zu bezahlen, eine mäßige Anzahlung genügt.«

»Ich helfe dir sparen,« erklärt Hildchen.

»Nein, Hildchen, ich danke deinem Vater ohnedies sehr viel – meine ganze Existenz, kann ich wohl sagen, aber Geld nehme ich nicht an.«

»Das ist gar nicht hübsch von dir. Du kränkst mich. Merkst du das nicht?«

»Aber ich habe doch genug Geld, es langt ja zu, man muß nur nicht gleich alles haben wollen. Die Einrichtung wird nur ganz einfach gemacht, Mutter vermietet dann an Badegäste für geringe Miete; es muß doch auch Wohnungen für unbemittelte Leute geben. Alle Jahre aber kann eine Stube besser eingerichtet werden, und mit der Zeit werden Mutter und Lene ein ganz hübsches Einkommen und eine sorgenfreie Existenz aus dem Häuschen gewinnen.«

»Warum darf ich nicht auch etwas für deine Mutter und Schwester thun? Du kränkst mich, Walter. Du hast wohl ganz vergessen, daß heute mein Geburtstag ist, wo du mich nicht kränken darfst.«

Anstatt zu antworten, guckt er nach der andern Seite auf ein großes Tulpenbeet, das in aller Farbenpracht rot, gelb und weiß blüht. Hildchen bleibt stehen. »So antworte doch wenigstens. Es ist gar nicht zu ertragen, wenn du so – so muckscht – Fräulein Schönchen würde sagen, muckschen sei kein feines Wort, aber ich nenn's nun einmal muckschen, wenn jemand neben mir her geht und nicht redet.«

Bild: Fritz Bergen

»Du bist jetzt schon ein großes Mädchen …«

»Ich habe schon lange was auf dem Herzen,« fängt Walter an und schaut dabei unverwandt auf die andre Seite – an dem Tulpenbeete sind sie schon vorüber. »Du bist jetzt schon ein großes Mädchen, es paßt sich nicht mehr, daß ich dich Du nenne. Früher war's ja was andres, aber nun paßt sich's nicht mehr.«

»Ach, thue doch nicht so großartig, Walter. Ich werde ja erst nächstes Jahr konfirmiert. Fräulein Schönchen hat gesagt, von da an wolle sie mich Sie nennen, aber früher fange sie nicht an. Und ich leid's auch dann nicht. Du bist übrigens heute so feierlich, als wäre ich schon eine Konfirmandin. Ich weiß gar nicht, was in dich gefahren ist. Wenn wir nicht einmal gute Freunde bleiben sollen, da weiß ich wirklich nicht … Ach, da kommt Papa!«

Sie fliegt dem Vater entgegen. »Sieh nur den hübschen Strauß, den hat mir Walter selbst gepflückt. Aber er gefällt mir heute gar nicht; ich meine nicht den Strauß – Walter gefällt mir nicht.«

»Na, was hast du denn an ihm auszusetzen?«

»Denke nur, er will mich nicht mehr Du nennen, und wir sind doch so alte Freunde. Ich habe schon lange gemerkt, daß er das Du nicht braucht, wenn er's irgend umgehen kann. Wahrscheinlich hat ihn Fräulein Schönchen über den Anstand belehrt. Er macht auch manchmal so komische Anspielungen. Unser Verhältnis müßte mit der Zeit ein andres werden, er sei nur ein Untergebener – ja, Papa, so hat er gesagt, und wenn du's nicht glauben willst, kann er's ja vor dir wiederholen.«

»Guten Morgen, Roland! Sie haben ja meine Kleine tief beleidigt; wird freilich nicht mehr lange die Kleine bleiben.«

»Sie werden mir gewiß zustimmen, Herr Baldinger. Ich muß nur um Entschuldigung bitten, daß ich den freundschaftlichen Verkehr so lange unterhalten und nicht an die weite Kluft gedacht habe, die das Fräulein …«

Hildchen räuspert sich vernehmlich. »Nun wird's aber arg; Sie haben wohl ganz vergessen, daß Sie mir einmal das Leben gerettet haben, mein Herr? Nein, wenn Sie so unliebenswürdig sind, soll Papa Sie auch nicht zum Essen einladen.«

Damit springt Hildchen fort. Sie ist von Walters Wesen mehr beunruhigt, ja geängstigt, als sie dem Vater und Walter selbst zeigen will; sie fühlt, daß die beiden erkennen, was sie nicht zu erkennen vermag. Es ist ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß in ihrer Freundschaft mit Walter eine Wandlung möglich wäre; aber als sie sich jetzt die letzten Monate zurückruft – ja, da sieht sie ein, daß sich Walter verändert hat. Sein Benehmen ist steifer und förmlicher geworden, er lacht nicht wie sonst unbefangen mit ihr, und manchmal glaubt sie ihn beleidigt zu haben. Heute nun hat er sich deutlicher ausgesprochen; doch so recht versteht sie ihn auch heute nicht, und das bedrückt sie.

Sie denkt darüber nach, während sie schnell nach ihrem Stübchen läuft, ohne doch zu wissen, was sie hier will. Sie wirft sich auf einen Sessel und springt wieder auf. Es muß gleich geklingelt werden.

Richtig, da klingelt es auch schon.

Vor einer Stunde hätte sie nur an die Bescherung gedacht und würde die Treppe hinuntergeflogen sein. Das Lebensrätsel aber, das ihr Walter soeben aufgegeben hat, nimmt ihr Denken mehr in Anspruch als die Neugierde, und doch konnte sie wissen, daß ihrer im Salon reizende Ueberraschungen harrten. Das Köpfchen gesenkt, steigt sie bedachtsam Schritt für Schritt hinunter, während das Klingeln immer stürmischer wird, denn die fünfzehn Lichtchen drohen vor ihrem Eintritt schon abzubrennen.


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