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Zweiundsiebzigstes Kapitel.
Leben um Leben

Als Esther sich allein befand, als sie mit Pet's Hülfe den sie erwartenden Wagen bestiegen hatte und sich in die Polster desselben zurückwarf, da brach sie zusammen, die übernatürliche Anstrengung ihrer moralischen Kraft, die leidenschaftliche Erregung, die Angst um Emmy, das Alles hatte ihre Kraft bis zum Punkt der äußersten Aufregung getrieben, jetzt war sie erschöpft. Vernichtet, verzweifelnd ließ Esther ihre Hände und ihr schönes Haupt sinken. Sie befand sich in einem Zustande dumpfer Gefühllosigkeit. Erst nach und nach schien sie ihre Erinnerungen wieder zu sammeln, Personen traten vor ihr geistiges Auge, Scenen, Worte wiederholten sich ihr. Anfangs Alles bunt und wirr durcheinander, wie in einem wilden Traum, dann wurden die Bilder klarer. Da trat auch Jim auf. Sie hörte ihn – ein Schrei! Doch unter all den Bildern, welche sich ihre Phantasie ausmalte, trat mit entsetzlicher Klarheit eines in den Vordergrund – Frederik verblutend, sterbend in der Einsamkeit der Wildniß! – –

Obgleich die edlen Rosse über das Pflaster dahinpflogen, daß die Funken sprühten, trieb sie den Kutscher doch zu größerer Eile an. – Jede Minute, jeder Moment, den sie verlor, schien ihr eine Ewigkeit.

»Was ist Dir?« rief Emmy, als die Schwester zitternd und verstört, das Auge wild rollend und unstät zu ihr eintrat. »Mein Himmel, wo warst Du? Was ist Dir widerfahren?«

»Ich war bei Deinem Vormunde,« versetzte Esther kaum hörbar. »Ich bat für Dich, es war vergebens. Aber ich habe noch ein anderes, letztes Mittel.«

»Schwester, Du beunruhigst mich. Was hast Du vor? – Komm her, ruhe Dich, erhole Dich. Ich sah Dich nie so aufgeregt.«

»Nein laß mich, Emmy. Ich muß fort, augenblicklich fort.«

»Schon wieder? Bist Du verfolgt?«

»Nein, im Gegentheil, ich bin hier sicherer, als irgend wo anders, aber ich muß fort; diese Minute noch. Ein Sterbender bedarf meiner Hülfe oder ein Todter einer Hand, die ihn bestattet. Adieu, Emmy.«

»Schwester, bleib! – Ich bin in Todesangst um Dich, wohin willst Du?«

»Das sage ich Dir, wenn ich wiederkehre. Jetzt darf ich keine Zeit verlieren. Ich komme wieder, Emmy, rechne darauf, daß ich wiederkomme, ob ich aber Tage oder Wochen ausbleibe, das weiß ich nicht. Ich bringe dann Gewißheit über das Glück meines und Deines Lebens. Adieu!«

Sie preßte die Freundin in ihre Arme und drückte auf ihre bleichen Lippen einen heißen Kuß, dann war sie hinaus.

Der Wagen wartete.

»Yorktown-Street zur Villa Berckley!« befahl sie dem Kutscher.

Der Wagen sauste dahin. Nicht einen Blick warf Esther nach dem Balcon zurück, auf welchem Emmy stand und ihr unter Thränen ein Lebewohl zuwinkte. – –

Vor dem bezeichneten Palais hielt der Wagen. Der Portier öffnete den Schlag. Mit einer Hast und Aufregung sprang Esther aus dem Wagen und eilte hin durch den Vorsaal, daß ihr Benehmen selbst dem Diener auffiel.

Mr. Berckley empfing sie in seinem Empfangszimmer. Er erwartete sie bereits, denn er redete sie sofort mit den Worten an:

»Ihr Besuch würde mich zu jeder andern Zeit überrascht haben, Miß Brown; diesmal aber war ich darauf vorbereitet.«

»Sie rechneten also darauf, daß ich an Sie dieselbe Bitte richten würde, welche mir vor zwei Stunden Mr. Breckenridge abschlug?«

»Ja, Miß Brown, ich vermuthete das.«

»So haben Sie sich getäuscht, Sir. Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, daß des Ministers teuflischer Charakter von dem Ihren noch vielfach übertroffen wird. Ich würde mich nie dazu verstehen, Sie um etwas zu bitten; doch aber läßt mich Ihr mir bekannter Egoismus und Ihre verächtliche Leidenschaft hier bessern Erfolg hoffen als ich dort hatte.«

»Sie sind für eine Bittende ziemlich unhöflich, Miß.«

»Wer sagt Ihnen daß ich eine Bittende bin, Sir?«

»Kommen Sie denn nicht in der Angelegenheit Ihrer Schwester?«

»Ja, Sir, deswegen komme ich, und zwar, um von Ihnen das Mittel zu erfahren, welches, wie Sie andeuteten, existirt, um den Revers zurück zu erhalten.«

»Also doch! Nun so lassen Sie uns in aller Ruhe darüber plaudern, wir sind ja ein paar alte Freunde.«

Er setzte sich mit diesen Worten auf das Sopha und lud Esther mit einer halb höflichen, halb gebieterischen Handbewegung ein, neben ihm Platz zu nehmen.

Er lächelte, als Esther zögernd seinem Winke Folge leistete. Es kitzelte ihn das Bewußtsein, diesem stolzen Weibe gegenüber Herr der Situation zu sein.

»Ich brauche Sie wohl nicht erst mit den Thatsachen bekannt zu machen,« begann er. »Sehen Sie hier, dies Papier ist der Revers, welchen die Lady, Ihre Schwester, unterschrieben hat« – er zog mit diesen Worten ein Papier aus seiner Brieftasche und entfaltete es vor ihr. – »Wenn irgend ein Freund dies Blatt in Ihre Hände legte, so könnte keine Macht der Welt Ihre Schwester zwingen, mich zu heirathen. Sie wäre frei, könnte einen andern Mann heirathen, über ihr Vermögen verfügen und sogar, wenn es ihr beliebte, ihren Wohnsitz nach dem Norden verlegen. Es giebt nun in der That einen guten Freund, welcher bereit wäre, Ihnen diesen Dienst zu leisten.«

»Und was wäre der Preis, den dieser – gute Freund fordert?« fragte Esther mit dumpfer Stimme.

Mr. Berckley blickte sie ein wenig überrascht an.

»Sie stellen die Frage auch gleich, verzweifelt, praktisch,« sagte er mit einem heiseren Lachen, »vermuthlich deshalb, weil sie ganz gut im Stande sind, sich dieselbe selbst zu beantworten. Im Kriege, holde Esther, gelten alle Vortheile; wir sind im Kriege, Sie und ich, und der Vortheil ist unzweifelhaft aus meiner Seite. Ein so ausnehmend praktisches Mädchen wie Sie, wird es mir unmöglich verdenken können, wenn ich meinen Vortheil geltend mache.«

Ein Schauder flog über Esthers ganzen Körper.

»Mißverstehen Sie mich nicht,« fuhr Mr. Berckley fort. »Ich bin kein girrender Schäfer. Ich will Alles oder Nichts, und will es noch in dieser Woche; denn wie Sie wissen, muß ich binnen acht Tagen zu einem Resultat gekommen sein, ich habe daraus dem Orden mein Wort gegeben. Wollen Sie also für dieses Dokument den Preis zahlen, den ich fordere, so entscheiden Sie sich schnell.«

Er erhob sich und stand vor ihr, ihre Antwort erwartend.

Esther kämpfte einen furchtbaren Kampf.

»Wie?« dachte sie, »wird nicht alle Welt das Mädchen verachten, welches ihre Ehre preisgeben konnte, um Leben und Glück einer geliebten Schwester und eines geliebten Mannes zu retten? – Wird nicht selbst Emmy mich verachten und wird nicht auch Frederic ...«? Ha! selbst meine Schande hat etwas Trostendes für mich. Mein Gewissen wird mich ihm gegenüber stets meine Unwürdigkeit erkennen lassen. Bin ich mit Schande bedeckt, so werde ich nie, nie mehr in die Versuchung kommen, meine Augen zu ihm zu erheben, ich werde es leichter ertragen, ihn im Arme Emmy's zu sehen. Ich selbst muß meiner Leidenschaft einen Riegel vorschieben, damit sie mich nicht übermannt.«

Sie hatte einen Augenblicke vergessen, daß Frederic aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben sei. Schon wollte sie die Lippen öffnen, um ihre Entscheidung kund zu thun, da fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß, wenn der Mann, zu dessen Gunsten dies Opfer gebracht wurde, nicht mehr am Leben sei, sie vergebens sich opfern würde.«

»Sie können sich nicht entscheiden?« fragte Berckley, als Esther mit der Antwort zögerte. »Ich will Ihnen bis heute Abend Bedenkzeit geben. Ein Brief von Ihnen, wenn er bis heute Abend neun Uhr in meiner Wohnung abgegeben wird, trifft mich sicher an.« –

»Nein!« rief Esther, »ich brauche keine Bedenkzeit, ich habe mich bereits entschieden.«

»Zu meinen Gunsten?«

»Zu Ihren Gunsten unter einer Bedingung.«

»Welches ist die Bedingung, lassen Sie hören?«

»Daß Sie mir Zeit lassen, daß Sie auf meine Entscheidung warten, bis ich zurückkehre. Ich reise noch in dieser Stunde ab und kehre in einigen Tagen oder spätestens in einigen Wochen zurück. Schieben Sie die Heirath einen Monat auf, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich innerhalb dieser Frist zurückkehre und Ihnen meine Entscheidung mittheile.«

»Sie verlangen zu viel, Miß. Innerhalb acht Tagen muß die Verlobung proklamirt sein.«

»Sie würde nach Ihren eigenen Worten gar nicht proklamirt werden, wenn ich schon heute den Revers einlöste, also wird es wohl in Ihrer Macht stehen, die Proklamation auf einen Monat hinauszuschieben. Ich stelle Ihnen anheim auf meine Bedingung einzugehen. Ich zahle vor meiner Rückkehr von der Reise, die ich in diesem Augenblicke anzutreten im Begriff bin, nicht.«

Sie erhob sich, ließ den Schleier herab und wandte sich zum Gehen.

Berckley's gierige Blicke waren auf sie gerichtet. Sein Auge funkelte lüstern, während zugleich seine Stirn sich in finstere Falten zog.

Seine Sinnlichkeit siegte über seinen Mißmuth, und als Esther bereits die Thüre in der Hand hielt, rief er ihr noch zu:

»Ich willige ein, Miß, doch keinen Tag länger als heute über einen Monat schiebe ich den Termin hinaus.« –

Esther verließ mit Abscheu und Schauder erfüllt das Haus.

»Nach dem Weldon-Bahnhofe!« befahl sie, und vorwärts gings wieder, daß die Rosse schäumten.

Ein Billet nach Spottsolvania – Wie langsam doch die Eisenbahn fährt, selbst die amerikanische Eisenbahn, für denjenigen dessen Brust von der Folter der Angst eingeschnürt ist. Minuten wurden zu Stunden, jede Stunde ist eine Welt voll Qual. Warum konnte Esther nicht mit der Schnelle des Gedankens hinausfliegen auf jene blutgedüngte Ebene hin, wo sie unter den modernden Soldaten den Körper des geliebten Mannes zu suchen gedachte? – Ihr Körper war der irdischen Bedürfnisse nicht benöthigt. – Fünf, sechs Stunden vergingen, ihre Angst und brennende Ungeduld wuchs, aber kein Hunger stellte sich ein. Die Finsterniß der Nacht hüllte das Coupée in behagliches Dunkel, die elastischen weichen Polster luden zur Ruhe ein, aber Esther's Auge floh der Schlaf. Sie hatte nur ein Bedürfniß: schnell vorwärts; – nur einen Wunsch: ihn lebend oder todt in ihre Arme zu schließen; – nur einen Gedanken: ihn zu retten. –

Noch graute der Morgen nicht, als der Zug Spottsylvania erreichte. Esther suchte einen Wagen, der sie weiter brächte, aber kein Gold konnte einen Fuhrmann bewegen, sie durch die Wilderneß zu fahren, die ja überall von feindlichen Truppen durchstreift war. Sie selbst flog in der Nacht von Haus zu Haus, sie sparte weder Bitten noch Versprechungen; und erst nach stundenlangen erschöpfendem Suchen, da gelang es ihr, einen armen Teufel zu bewegen, sie für eine ansehnliche Summe nach Old-Church zu fahren.

Es war bereits am Nachmittage, als sie dort anlangte. In der Nähe des Fleckens lag das Hauptquartier Grants. Dahin begab sich Esther, um zu erfahren, ob er den sie suchte, bereits gefunden und begraben sei, oder ob er lebe. Der Secretair schlug die Liste der Gefallnen auf. – Oberst Seward? Nein, unter den Gefallnen ist er nicht registrirt. – Unter den Verwundeten? Auch nicht. – Unter den Vermißten? ja, da steht der gesuchte Name Frederic Seward.

»Er wird also wohl gefangen sein,« bemerkte der Secretair, »oder er liegt irgendwo auf dem Schlachtfelde und ist nicht aufgefunden worden, was auch möglich ist.«

»Nicht nur möglich, sondern gewiß!« rief Esther und stürmte hinaus.

Vom Schlachtfeld bei den Schanzen hatte Jim, wie sie aus seiner Erzählung vernommen, die Richtung nach Old-Church eingeschlagen, und ungefähr 8 Meilen von diesem Ort entfernt hatte er die Leiche seines Gefangenen im Gebüsch liegen lassen. – Es war ein wahnwitziges Unternehmern auf diese unbestimmten Andeutungen hin die Leiche eines Menschen in der Wilderneß suchen zu wollen; aber war ihr Zustand der leidenschaftlichsten Aufregung etwas anderes als Wahnsinn? – Die Liebe macht blind, trotzt blind allen Gefahren und kennt keine Schwierigkeiten. –

Esther suchte einen Begleiter, aber sie fand Keinen, der es riskiren wollte, sich in eine Gegend zu begeben, wo er leicht als Spion verhaftet werden könnte. Sie hatte keine Geduld mehr, um wieder Stunden zu verschwenden, deshalb unterzog sie sich allein der Mühe und Gefahr; nur mit einem Korbe versehen, welcher etwas Wein und einige Lebensmittel enthielt, begab sie sich in den kaum je von einem Sterblichen betretenen Theil der Wildniß, durch welchen Jim mit seinem Gefangenen den Weg genommen haben mußte.

Obgleich hier keine Schlacht geliefert war, so hatten hier doch verschiedene Tirailleurgefechte stattgefunden, die ebenfalls manches Opfer gefordert hatten. Man hatte auf den Schlachtfeldern, wie überall wo Gefechte stattgefunden hatten, die Todten aufgesucht. Wie aber war es möglich auf diesem Terrain, namentlich wo niedriges und dichtes Gebüsch es bedeckte, alle die Tausende von Todten aufzufinden, welche hier zerstreut lagen? Selbst wenn man Zeit gehabt hätte, die sorgfältigsten Nachsuchungen anzustellen, wäre es nicht möglich gewesen, geschweige denn jetzt, wo jeden Moment Ueberfälle und Angriffe der Rebellen eine organisirte Nachsuchung überhaupt hinderten.

Die Unionsarmee hatte diese Gegend bereits verlassen und die·Richtung nach Spottsylvania eingeschlagen. Seit Jahren vorher hatte sicher kein Fuß diese Gegend betreten, und Jahre sollten vergehen, ehe Truppenmassen wieder denselben Weg nahmen, ja ehe auch nur ein Einzelner Veranlassung hatte, diese Einöde aufzusuchen.

Die Todten, welche man hier vergessen, sie blieben unbestattet; wilde Thiere fraßen ihr Fleisch, und die glühende Sonne bleichte ihr Gebein. Wie mancher Held lag hier, ungekannt: hätte er gelebt, so hätte der Dank des Vaterlandes ihm den Lorbeer aufs Haupt gedrückt, so aber fehlte ihm selbst ein bescheidenes Grab. Was verschlägt es auch, wenn unter den Tausenden von Helden, die da brav kämpften und den Heldentod starben, Einer unbegraben bleibt? Seine Kameraden dringen auf ihrer Siegesbahn weiter vor, lassen ihn liegen und Niemand kümmert sich mehr um ihn. Aber daheim, vielleicht zwei hundert Meilen von seinem Todtenlager entfernt, weint eine alte Mutter um den einzigen Sohn, da trauert ein Mädchen um das verlorene Glück ihres Lebens. –

Mehr als einmal hatte Esther Veranlassung, solchen Gedanken Raum zu geben, denn mehr als einen Todten fand sie in dem sonnverbrannten Grase liegen. Entsetzen und Angst trieb sie, sobald sie sich überzeugt, daß es nicht der Gesuchte sei, weiter. Sie rief laut den Namen Fredericks in den Wald hinein, und strengte dann ihre Sinne an, um zu lauschen auf eine Antwort. Oft, ach oft antwortete ihr eine matte Stimme. Sie folgt dem Rufe, und erblickt – o über die Schauerscenen des Krieges: – einen Verwundeten. Es war ihm vielleicht ein Glied zerschmettert, er konnte nicht gehen, er war ohnmächtig gewesen, als man hier die Verwundeten aufgesucht hatte, und hatte sich nicht bemerkbar machen können. Als Alles vorbei und still war, da war der Elende erwacht zu der Ueberzeugung, daß ihn nichts anderes erwarte, als das gräßliche Geschick, hier hülflos umzukommen, entweder den Wunden zu erliegen, oder vor Hunger und Durst zu verschmachten oder von einem wilden Thiere zerrissen zu werden.

Es gab unter diesen unglücklichen manche, welche nur ganz leichte Wunden hatten, eine Kugel im Bein, oder sonst eine Verletzung, welche leicht hätte courirt werden können, sie hatten zum Theil versucht, sich auf Händen und Füßen kriechend weiter zu schleppen, bis sie zuletzt der Erschöpfung erlegen waren; sie hatten sich in ihrer gräßlichen Angst mit den Zähnen das eigene Fleisch vom Leibe gerissen, oder hatten sich selbst entleibt, wenn sie einer Waffe habhaft werden konnten.

Sechs Monate nach Beendigung des Bürgerkrieges, also mehr als anderthalb Jahre später, als die hier erzählten Ereignisse stattfanden, wurde eine Militairabtheilung denselben Weg geschickt, welchen Grant genommen hatte durch die Wilderneß, um die Ueberreste Derer aufzusuchen, die damals dort zurückgeblieben waren. Nach einer ungefähren Schätzung kann man annehmen, daß 4000 Menschen von denen, die man noch fand, noch längere Zeit gelebt haben, und so den gräßlichsten Tod erlitten hatten. Viele sind offenbar an ihren Wunden gestorben; bei weitem die meisten sind lediglich verhungert oder verdürstet. Die Berichte der Offiziere, die mit diesen Recherchen betraut waren, wiederzugeben, sträubt sich fast die Feder.

Viele, viele dieser Unglücklichen traf auch Esther. Händeringend, die verdorrten Lippen kaum zu öffenen im Stande, flehten sie die Vorübergehende an um einen Trunk Wasser.

Aber wo Wasser hernehmen in dieser Wüste? Hier in diesem Haidesand, wo versengtes Riedgras und Nadelholz fast die ganze Vegetation bildeten, hier fand sich auch nicht einmal ein kühlendes Blatt. Sie hatte noch keine zwei Stunden ihre Nachforschungen fortgesetzt, da waren die mitgenommenen Vorräthe von Wein und Speisen verbraucht Es war ihr unmöglich, den Sterbenden, welche sie antraf, ihre herzzerreißenden Bitten abzuschlagen, zumal es ihr mit jeder Minute mehr zur Gewißheit wurde, daß Jim sich nicht getäuscht, daß Frederick wirklich todt sei.

Die Nacht brach herein, aber Esther ruhte nicht. Es war die zweite Nacht, welche sie nicht schlief, aber sie spürte keine Müdigkeit, unverdrossen fuhr sie fort, das ganze Terrain ·zu durchsuchen, von Strauch zu Strauch flog sie und sah, ob seine Leiche nicht dahinter liege, und immer wieder rief sie seinen Namen, doch nirgend seine Leiche und nirgend seine Stimme.

Der Morgen dämmerte, aber die aufgehende Sonne, welche selbst dieser traurigen Gegend Leben und Frische zu verleihen schien, belebte die Suchende nicht mit neuer Hoffnung, aber sie setzte nichts destoweniger ihre Arbeit fort, ihren schwindenden Kräften Trotz bietend. Dieser eine Punkt, auf welchen sich alle ihre geistige und leibliche Thätigkeit concentrirte, drängte alle Anforderungen der Natur in den Hintergrund; so gebieterisch auch immer Müdigkeit und Erschöpfung auftreten, bis zu einer gewissen Grenze sind sie doch dem Willen unterthan.

Bis zu einer gewissen Grenze, aber darüber hinaus vermag der Geist nicht dem Körper zu gebieten, und an dieser Grenze stand Esther, als sich die Sonne dem Mittage näherte. Langsamer und langsamer wurden ihre Schritte; ihre Füße versagten ihr mehr als einmal den Dienst, sie mußte ausruhen. Die Hitze dörrte ihre Zunge. Angst, Aufregung, Hunger, Durst, Anstrengung, das Alles hatte ihre Kräfte erschöpft. Sie fühlte, daß sie das Geschick dieser Elenden theilen würde, welche der blutige Krieg zu dem entsetzlichen Tode verdammt hatte.

Glühend brannte die Mittagssonne. Esther blickte um sich, ob nicht irgend ein schattiges Gebüsch in der Nähe sei, denn die Nadelholzstauden aus dem Sande gewährten keinen Schatten und keine Kühlung. – Richtig ja, in einiger Entfernung da ward das dunkle saftige Grün eines Gehölzes von niedrigen Bäumen und Strauchwerk sichtbar. Konnte sie es noch erreichen?

Sie schleppte sich hin nach jener Richtung.

Ach zwischen Lipp' und Bechersrand ist oft ein weiter Weg. Esther verzweifelte schon, ob ihre Kräfte ausreichen würden, jene Oase in dieser Einöde zu erreichen. Schon nach einigen Schritten mußte sie ausruhen, und wenn sie sich wieder erhob, fand sie sich matter als vorher.

Wie der Schiffbrüchige sich mit übermenschlicher Anstrengung durch die Wogen arbeitet, um einen schwimmenden Balken zu erfassen, so gab die Todesangst auch Esther Kraft, sich über die brennende Sandfläche hin bis zu der schützenden Oase hindurchzuarbeiten. Sie erreichte das Gehölz, ein duftiger Blüthenhauch wehte sie an und eine kühle Luft fächelte ihre triefende Stirn.

Das war aber auch Alles, was ihre Sinne noch wahrzunehmen vermochten. Sie hatte erst einige Schritte in das Gehölz hineingethan, da schlossen sich ihre Augen, und sie sank unter einem Caprifolienstrauch zu Boden. Ihr todtmattes Haupt sank hinten über, aber – es lehnte sich nicht in das Gras, sondern auf ... Der Schrecken öffnete noch einmal Esther's Auge ... sie fühlte, daß sie den Körper eines Menschen berührt habe.

Das jähe Entsetzen, mit dem Tode in so unmittelbare Berührung zu kommen, rief ihr das schwindende Bewußtsein zurück. Sie raffte sich empor, um sich für ihr Sterbelager einen entfernteren Platz zu wählen, da – war es Wahrheit? – War es der Traum eines Fiebers? – War es ein Bild ihrer erregten Phantasie? – Nein, es war Wirklichkeit, das waren die Züge des geliebten Mannes, den aufzusuchen sie ihre Kräfte bis zur letzten Neige erschöpft hatte. Es war Frederic Seward.

Mit einem Schrei stürzte sie sich auf den entseelten Körper. Verschwunden war Ermattung und Ohnmacht, jeder Nerv spannte sich noch einmal zur Thätigkeit an, die ganze Energie ihres Willens kehrte wieder.

Sie hob das theure Haupt in ihren Armen empor, preßte es an die Brust, und bedeckte die bleichen Lippen mit heißen Küssen, sie rief ihn mit den zärtlichsten Namen, ihre Thränen flossen auf seine Stirn, aber weder Worte noch Küsse, noch Thränen vermochten das entflohene Leben zurück zu rufen.

Da Esther durch Jim erfahren hatte, daß Frederic eine Schußwunde erhalten hatte, so beschloß sie die Wunde zu untersuchen, und wo möglich zu verbinden. Die Stelle der Wunde war nicht schwer zu finden, die mit Blut getränkten Kleider, in der Nähe der Schulter, zeigten ihr dieselbe. Die Wunde hatte sicherlich bereits seit langer Zeit nicht mehr geblutet, denn das Blut war fest getrocknet, aber ihre unvorsichtige und stürmische Umarmung hatte die Quelle des Blutstromes, die sich bereits selbst verstopft hatte, wieder aufgerissen. Verzweifelnd riß sie ihm mit ihren Händen die Kleider von der Schulter ab.

Wahrhaftig die Wunde blutete ... Blutete? Kann die Wunde eines Todten bluten?

Esther legte sich diese Frage vor, und mit einem Freudenschrei rief sie:

»Nein,·er ist nicht todt! Es ist Blut, rothes Blut, was der Wunde entströmt.«

Sie sank an seiner Seite auf die Kniee nieder, und nahm mit dem verklärten Lächeln seliger Hoffnung sein Haupt in den Schooß. Sie drückte ihr Taschentuch auf die klaffende Wunde. Sie riß ihr seidenes Halstuch ab und band es ihm um die Schulter, um die Ströme des entfesselten Bluts zu hemmen. Sie löste ihren Gürtel, streifte ihre Blouse ab und riß sie in Stücke, bis es ihr endlich gelang, das Blut zu hemmen. Freudenthränen waren es, die ihren Augen entströmten, während sie noch immer sein Haupt in ihren Armen hielt.

Er lebte, sie war davon überzeugt, doch kein Lebenszeichen gab er von sich. Bleich, regungslos mit geschlossenen Augen und schlaff zur Seite hängenden Armen, lag er da. In diesem Zustande mußte er sich befunden haben, als Jim ihn für todt hielt und liegen ließ. Aber Frederic Seward war seit den fünf Tagen, die seit seiner Verwundung verflossen waren, nicht in dem Zustand der Ohnmacht geblieben, davon überzeugte sich Esther. Spuren auf dem Rasen zeigten, daß er von einer andern Stelle sich bis zu diesem Platz fortgeschleppt habe. Unzweifelhaft war er bald nach Jim's Entfernung erwacht, hatte das Hilflose seiner Lage erkannt, und hatte versucht, weiter zu gehen, hier aber, unter diesem Strauch, hatten ihn wieder die Kräfte verlassen.

Auch das Wunder, daß er nach fünf Tagen noch am Leben war, und nicht in der Hitze verschmachtet sei, erklärte sich einigermaßen, als Esther sah, daß seine geschlossene Hand einen Büschel saftiges Laub umfaßte, und auch in seinem halbgeöffneten Munde Spuren eines zerkauten Blattes bemerkte.

Ihre Freude aber nahm schnell ab, denn sie mußte einsehen, daß der Geliebte sich jetzt in einem Zustande der Schwäche befinde, welche jeden Augenblick seinen wirklichen Tod zur Folge haben konnte.

Eine Erfrischung, wenn auch nur ein Tropfen Wasser konnte ihn retten. Wo aber Wasser hernehmen? –

Sie sprang auf und durchstrich das Gehölz. Kein Quell, keine auch noch so kleine Lache! Selbst der sonst feuchte Boden war von der Hitze der letzten Tage ausgetrocknet. Sie war in Verzweiflung. Tausend Pläne entwarf sie in einem einzigen Augenblick. Bald wollte sie Einen von den Verwundeten aufsuchen, denen sie von dem Wein gegeben hatte, und ihm diese Erquickung wieder nehmen, bald wollte sie den weiten Weg bis Old Church zurücklegen; bald wollte sie erspähen, ob sie nicht dennoch irgendwo eine Wasserquelle entdecken könne, aber ein Plan erwies sich so nutzlos und vergeblich wie der andere. Die unglücklichen Verwundeten hatten sicher nicht mehr einen einzigen Tropfen jener Erquickung übriggelassen, der Weg nach Old Church war zu weit für ihre erschöpften Kräfte, und selbst wenn sie es möglich gemacht hätte, die 18 Meilen zurückzulegen, wäre ihre Hülfe nicht aller Wahrscheinlichkeit nach doch zu spät gekommen? – Eine Quelle suchen zu wollen, war völlig nutzlos, und ein vielleicht noch größerer Zeitverlust.

Esther war in Verzweiflung Was sollte sie beginnen? Ihn vor ihren Augen verschmachten sehen?

»Nein, Geliebter!« rief sie. »Du sollst nicht sterben, wenn es in meiner Macht steht, Dich zu retten. Kann ich nichts herbeischaffen, Deine lechzenden Lippen zu befeuchten, so soll mein eigenes Leben das Deinige erhalten. Ich habe es oft gesagt, daß ich den letzten Tropfen Bluts für Dich hinzugeben bereit bin, sieh – ob ich die Wahrheit sprach!«

Frederik trug noch seinen Degen an der Seite, Esther zog ihn aus der Scheide und glückselig lächelnd hob sie ihn empor. – Ein Schnitt, und eine der bläulichen Adern ihres zarten Armes war geöffnet; – ein Strom hellen rothen Blutes ergoß sich aus der Wunde.

»Nun trink aus dem Quell meines Lebens!« rief sie, die blutende Wunde seinen Lippen nähernd.

Mit banger Spannung hing ihr Auge an seinem Antlitz, um das geringste Lebenszeichen zu erspähen.

Lange vergebens. Doch endlich, endlich wurde ihre Aufopferung gekrönt. Seine Lippen begannen sich zu bewegen, ein leichtes Gurgeln ließ sich hören – eine Bewegung des Kehlkopfes überzeugte sie, daß die belebende Flüssigkeit den rechten Weg gefunden.

Der Sterbende trank, – erst kaum wahrnehmbar, dann in stärkern Zügen.

Esther fühlte, daß das Leben ihr in demselben Maße entschwand, wie es dem Sterbenden wiederkehrte, aber wonneseliges Lächeln verklärte ihre Züge. Mit der letzten Kraft noch hielt sie sein Haupt auf ihrem Schooße und preßte es an die Brust und küßte die Stirn und das lockige Haar, während sie fortfuhr, ihn mit ihrem Blute zu tränken.

»Trink, Geliebter«, flüsterte sie: »Es ist Wonne für Dich zu sterben; es ist ein beseligender Gedanke, mit meinem Tode Dir das Leben gegeben zu haben. Ich fühle, es ist mit mir zu Ende, aber Du wirft leben!«

Und er lebte!

Langsam und matt schlug er die Augen auf und begegnete dem himmlisch verklärten Blick Esthers.

»Er lebt, er lebt!« jauchzte sie.

Noch einen Kuß drückte sie auf seine Lippen, dann schloß sie die Augen und leblos lag sie an der Seite des Geliebten.


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