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Siebundfunfzigstes Kapitel.
Die seltsame Frau

Fanny's Angst war grenzenlos, als sich am Morgen nach der Nacht, welche sie in dem Gasthause zu Winchester zugebracht, herausstellte, daß ihr Gefährte und Beschützer, der Negerknabe Noddy nirgend zu finden war. Das Gesinde hatte keine Ahnung, wo er geblieben sein könne. Sie wußten nur, daß er sich am Abend auf die Diele vor Fanny's Thür schlafen gelegt habe, und daß er am Morgen, als sie in den Gang gekommen, nicht mehr dagewesen sei.

Das Geschrei des verzweifelten Kindes rief endlich den Wirth herbei.

»Was giebt's denn?« fragte dieser mürrisch.

»Lieber, theurer Sir,« flehte Fanny, »sagen Sie mir, wo ist Noddy, mein Bruder Noddy hingekommen. O Gott, was soll ich ohne ihn anfangen, ich bin verloren ohne ihn, er ist der einzige, der mich beschützen und zu meiner Mutter bringen kann. O sagen Sie mir, wo ist er, wo finde ich ihn?«

»Der Bube wird davongelaufen sein, wie jetzt alle Nigger ihren Herren entlaufen,« meinte der Wirth.

»Nein, nein, das ist nicht wahr, er ist nicht davongelaufen. Noddy hätte mich von freien Stücken nie verlassen, er wäre lieber gestorben.«

»So wird ihn die Polizei geholt haben, die jetzt alle vagabondirenden Nigger aufgreift.«

Fanny stieß einen Schrei aus.

»Die Polizei? Schnell bringen sie mich aus die Polizei, damit ich den Leuten sage, daß Noddy unschuldig ist, daß er niemals Jemandem etwas zu leide gethan, daß er meinem Vater und mir das Leben gerettet hat. Bester Sir, schnell bringen Sie mich auf die Polizei, damit sie ihn wieder freilassen.«

»Ich kümmere mich darum nicht,« brummte der Wirth und drehte sich um.

Einen Hausknecht schien der Jammer des Kindes zu rühren. Er näherte sich und sagte theilnehmend:

»Das wird Ihnen nichts nützen, liebe Miß. Die eingefangenen Nigger sind heute bereits in aller Frühe per Transport auf den Bahnhof gebracht; ich sah unter diesen auch den Knaben, den Sie Ihren Bruder nennen.«

Fanny brach in lautes Schluchzen aus.

»Wo hat man ihn hingebracht, wissen Sie es?«

»Die Nigger werden alle nach Richmond gebracht und von da aus ihren Herren wieder zugestellt.«

»Nach Richmond, dahin wollte ich auch, o mein Gott und nun kann ich nicht reisen, die Neger haben mir keinen Cent Reisegeld gelassen«, jammerte das Kind.

Unter den Zuschauern hatte sich auch die Dame, welche gestern sich so gütig gegen die Kinder gezeigt hatte, indem sie den Wirth bewog, ihnen auf ihre Kosten ein Abendessen und Nachtlager zu geben, und ihr Diener der Neger Scip eingefunden. Der Letztere sah mit zufriedenem Grinsen die Angst des Kindes, wie ein Meister ein wohlgelungenes Werk seiner Hand betrachtet, die Dame aber, welche er Mrs. Bagges genannt hatte, verzog ihr hartes Gesicht zu einem mitleidigen Aussehen, während ihr falsches Auge aber auf das Kind wie auf eine gute Beute schielte.

»Oh grämen Sie sich nicht,« sagte sie mit erheuchelter Zärtlichkeit »Ich danke meinem Schöpfer, daß es mir vergönnt ist, Ihnen in Ihrer traurigen Lage zu helfen.«

Trotz ihres Schmerzes bebte doch Fanny zurück beim Klang dieser Stimme, der Widerwille, welchen sie von Anfang an gegen diese Frau empfunden, erfaßte sie aufs Neue.

Die Dame mochte es ahnen, daß ihr Aeußeres nicht besonders Vertrauen einflößend sei, sie beeilte sich daher, die Abneigung der Kleinen zu besiegen, indem sie hinzufügte:

»Sie wollen nach Richmond zu Ihrer Mama? Ihr Begleiter ist bereits dahin voraus, wenn Sie also dahin gehen, wird es Ihnen leicht sein, ihn frei zu machen. Nun trifft es sich gerade, daß ich heute abreise nach Richmond, und wenn Sie wollen, so will ich Sie mitnehmen.«

Fanny blickte überrascht zu der Sprecherin auf. Ihr Widerwille war besiegt, die Frau erschien ihr wie ein vom Himmel gesandter rettender Engel und in ihrer Seele bereute sie es, gegen die gute Dame auch nur einen Augenblick Mißtrauen empfunden zu haben.

Mrs. Bagges fuhr fort, indem sie dem Kinde zärtlich mit der Hand über die Wangen strich.

»Nun ängstigen Sie sich nicht weiter, mein süßes Vögelchen, Sie werden Ihren Freund ja wiederfinden. Bethsey Bagges ist nicht die Frau, die ein hübsches Kind, wie Sie es sind, weinen sehen kann. Trocknen Sie Ihre hübschen Augen und weinen Sie nicht mehr, das macht die Augenlider roth und giebt ein geschwollenes Gesicht. Sehen Sie munter aus, dann sind Sie noch einmal so hübsch.«

Obwohl diese Art sie zu beruhigen, der weinenden Fanny keineswegs zusagte, so konnte sie doch nicht umhin, dieser Frau für die unerwartete Hülfe in den wärmsten Worten zu danken. Sie ergriff ihre knochige gelbe Hand und drückte einen Kuß auf dieselbe, indem sie sagte:

»Ich weiß nicht, wie ich Ihre Güte lohnen soll, Ma'am, aber sein Sie überzeugt, daß ich Ihnen ewig dafür dankbar sein werde, auch Mama wird Ihnen danken und Papa, wenn er wieder frei sein wird. Wie muß ich dem lieben Gott danken, daß er mir gerade Sie in einem Augenblick schickt, da ich im allergrößten Elend war.«

»Lassen Sie das,« unterbrach sie die gütige Frau. »Ich verlange keinen andern Dank, als daß es Ihnen bei mir gefallen mag; und gefallen wird es Ihnen schon, ich werde Ihnen Kleider geben, so schön wie Sie nur je in Ihrem Hause sie getragen haben, und kein Luxus soll Ihnen fehlen, alles was Sie sich wünschen, sollen Sie haben, und unter einer Anzahl lustiger Gespielinnen das lustigste Leben führen.«

»Ach ich verlange nichts von allem, Ma'am;« antwortete Fanny; »Ihre Großmuth braucht sich gar nicht so weit zu erstrecken. Ich will ja nur in Ihrer Begleitung bis Richmond zu meiner Mutter gelangen, dort habe ich Alles, was ich nur haben will; und brauche Ihnen nicht länger zur Last zu fallen.«

»Nun ja, ja,« beruhigte sie Mrs. Bagges nicht ganz angenehm berührt durch diese Aeußerung, »ich weiß, daß meine Persönlichkeit nicht viel« Anziehendes hat ...«

»»Oh, das ist es nicht,« fiel Fanny ein, erschrocken, daß eine Anspielung auf ihre Abneigung gegen die Dame in ihrer Antwort gelegen haben sollte. »Gegen Sie selbst habe ich nichts, sondern empfinde für Sie die höchste Dankbarkeit; Ma'am.«

»Schon gut mein Goldvögelchen,« versetzte Mrs. Bethsey Bagges, »kleiden Sie sich an und frühstücken Sie mit uns, die· andern allerliebsten Dingerchen werden schon auf uns warten. – Geh' doch hinunter Scip«– wandte sie sich an den Neger, welcher der Unterredung mit widrigem Grinsen zugehört hatte. – »Bestelle das Frühstück und zwar ein recht gutes; Miß Fanny ist es gewohnt, die feinsten Leckerbissen zu frühstücken. Sage der Lene, daß sie den Eierauflauf recht schmackhaft macht und die Hammelschnitte nicht zu scharf würzt. Für einen so zarten Magen taugt das nicht. ... Soll ich Ihnen nicht beim Ankleiden helfen, Miß? Sie sind doch sicher gewohnt, eine Zofe zu haben, und die Lene ist so ungeschickt und ist auch jetzt bei der Bereitung des Frühstücks beschäftigt.« –

Ohne Fanny's Antwort abzuwarten, schloß sie die Thür ihres Zimmers, zog sie dort auf einen Stuhl nieder und begann ihr Haar zu ordnen.

»O, welch köstliches Haar, rief sie, als sie die schweren Flechten auflös'te. »Welch schönes Dunkelbraun und wie dicht und weich es ist. Es ist. ordentlich ein angenehmes Gefühl, sich dies Haar durch die Hand gleiten zu lassen.«

»Ma'am, ich möchte Sie nicht gern bemühen; ich will versuchen, mir das Haar selbst zu ordnen,« sagte Fanny, welche jedenfalls die Berührung der großen knochigen Hände nicht für ein angenehmes Gefühl hielt.

Aber Mrs. Bagges beabsichtigte nicht, sie so leichten Kaufs aus den Händen zu lassen.

»J, sehen Sie, wie Sie gleich unfreundlich sind,« antwortete sie. »Gönnen Sie mir doch das Vergnügen Ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie wollen mich wohl gern los sein, und heimlich hinausgehen und versuchen, ob sich Ihnen nicht eine andere Hülfe aus Ihrer Verlegenheit bietet. – Ja sehen Sie, wie unrecht es ist, so mißtrauisch zu sein gegen eine Frau wie Bethsey Bagges.«

»Ich versichere Sie, daß ich keineswegs mißtrauisch gegen Sie bin, Mrs. Bagges, und daß ich nicht hinausgehen wollte, aber ...«

»Nun wenn das ist, so lassen Sie mich Ihnen helfen. – Ach, diese zarten, runden Schultern, wie schön sie sind – erlauben Sie, Miß, ich kann nicht widerstehen ...«

Sie wartete aber wieder die Erlaubniß nicht ab, sondern drückte ihre dünnen kautschuckartigen Lippen aus die Schulter des Kindes.

Fanny zuckte bei der Berührung zusammen, aber sie wagte nicht, der Frau ihren Unwillen zu verrathen, aus Furcht, sie zu erzürnen.

»Ah!« fuhr Mrs. Bagges in ihrer Bewunderung fort, indem sie das aufgelöste Haar malerisch über die entblößten Schultern warf, »ein Mann, der Sie so sähe ...«

»Ich bitte Sie, Ma'am!« ries das Kind vorwurfsvoll und bis in den Nacken erröthend.

»Nun, nun,« beruhigte sie die Frau, »ich sage nur » wenn.« Sie brauchen da nicht gleich so böse auszusehen. – Warten Sie ich werde Ihnen das Haar à la Corday machen, so steht es Ihnen am schönsten.«

Mit wunderbarer Fertigkeit, als ob das ihr Gewerbe sei, hatte sie in der That schnell eine zwar etwas phantastische aber doch so kleidsame Haartour zu Stande gebracht, daß Fanny nicht umhin konnte, wohlgefällig zu lächeln, als sie in den Spiegel sah.

»Das wäre gemacht!« fuhr Mrs. Bagges geschwätzig fort, »nun die Strümpfe und Schuhe.«

Sie setzte sich auf die Erde, nahm einen Fuß des Kindes und betrachtete ihn mit Kennermiene.

»Ein sehr hübscher Fuß, klein, hoch, fleischig, ganz wie er sein muß, und die Wade, Miß Fanny, wahrlich, die ist so ausgebildet, als ob Sie sechzehn Jahre zählten, überhaupt welche Rundung in diesem Bein – Erlauben Sie, Miß Fanny ...«

Diesmal aber erlaubte Fanny nicht, sondern sprang erröthend und entrüstet auf.

»Nein, Ma'am. Das dulde ich nicht. Ich bitte, sprechen Sie von etwas Anderem und helfen Sie mir nicht weiter beim Ankleiden.«

Mrs. Bagges neigte ihren Kopf zur Seite und zwang ihr pergamentnes Gesicht zu einem mütterlich freundlichen Lächeln.

»Die liebe Unschuld,« sagte sie halb zärtlich halb mitleidsvoll. »Wie das gleich auffährt, bei einer bloßen Berührung und noch dazu von einer bejahrten Frau, welche Töchter haben könnte, doppelt so alt wie Sie.«

Fanny fühlte, daß sie der guten Frau Unrecht gethan habe, und bat sie wegen ihres Zornausbruches um Verzeihung, welche ihr auch mit großer Zuvorkommenheit gewährt wurde, und da Bethsey Bagges jetzt sich so viel wie möglich ihrer Vorliebe, die Details der Körperbildung zu mustern, enthielt, sondern die Dienste einer Zofe mit eben so viel Anstand als Geschick leistete, so verging die übrige Zeit während des Ankleidens in bestem Einvernehmen und ohne einen bemerkenswerthen Zwischenfall.

Das Frühstück war inzwischen in dem großen Gastzimmer angerichtet und wie Mrs. Bagges angeordnet hatte, ließ dasselbe nichts zu wünschen übrig, es bestand aus einem Eierauslaufe, Schinken, Hammelschnitten, ein wenig kaltes Hahn und dem unerläßlichen Thee.

Die andern »allerliebsten Dingerchen,« von denen Mrs. Bagges vorausgesetzt hatte, daß sie schon warten würden, waren in der That schon versammelt und schienen bereits im Vorgenuß des einladenden Frühstücks zu schwelgen, es waren dies vier Mädchen, etwa im Alter von 10 – 14 Jahren, die das Prädikat »allerliebst« sicherlich in so fern verdienten, als sie sämmtlich von Gesicht und Wuchs hübsch waren.

»Hier bringe ich Euch eine Freundin,« sagte Mrs. Bagges, welche Fanny an der Hand herein führte. »Es ist Miß Fanny, ich bitte Euch, daß Ihr sie lieb habt und sie freundlich behandelt, denn sie ist meinem Herzen sehr theuer.«

»Wohl auch eine arme Verwandte?« fragte in ironischem Tone das älteste von den Mädchen, eine Blondine von 14 Jahren, die Nase rümpfend und Mrs. Bagges geringschätzig anlächelnd.

»Nein, Sairy,« antwortete die Dame mit einer Stimme, welche die einer mit Unrecht Beleidigten sein sollte, aber mit einem grimmigen Seitenblick auf die Sprecherin. »Es ist keine arme Verwandte, weder arm noch eine Verwandte, Du schnippisches Ding. – Ach Miß Fanny,« wandte sie sich an diese – »Sie glauben nicht Miß Fanny – oder erlauben Sie mir, daß ich Sie schlechtweg Fanny nenne? Sie erlauben es, Sie gutes Kind – Sie glauben nicht, Fanny, wie diese Sairy mich zuweilen betrübt durch ihren losen Mund. – Aber ich habe sie doch lieb, ich habe alle·Kinder lieb ... Komm her Sairy, küsse Deine Tante, Du kleines böses Kind.«

»Ach Papperlapapp,« antwortete Sairy unwillig die blonden Locken schüttelnd. »Lassen Sie die Redensarten und lassen Sie uns lieber frühstücken, ich habe Hunger.«

Bethsey Bagges schüttelte betrübt lächelnd den Kopf und legte die Hand auf den flachen Busen, als ob dort die Stelle sei, wo diese schnöde Undankbarkeit sie treffe. Da sie aber gleichzeitig einsah, daß das Beste, was sie thun könne das sei, daß sie der Aufforderung Sairy's folge, so nahm sie denn am oberen Ende des Tisches Platz, worauf die Mädchen unverzüglich ihrem Beispiel folgten.

Drei von den Kindern thaten es ohne Umstände, die vierte indessen zögerte, sich dem Tische zu nähern.

Dies veranlaßte Mrs. Bagges sie anzusehen.

Kaum aber hatte sie einen Blick auf sie geworfen, als sie entrüstet die Hände zusammenschlug.

»Nettice, Du garstiges Geschöpf, wie kannst Du es wagen, in diesem Anzuge herunter zu kommen und Dich in diesen Lumpen hier unter so vornehmen Kindern zu zeigen? Meinst Du, daß Miß Fanny sich mit einem Mädchen, das wie eine Bettlerin aussieht, an einen Tisch setzen soll? Warum hast Du die Kleider nicht angezogen, die ich Dir durch Scip hinaufgeschickt habe? Oder hast Du ihr die Kleider nicht gebracht, Scip, die ich ganz expreß für sie in dem feinsten Magazin gekauft habe?«

Der Neger, welcher mit seinem stereotypen Grinsen auf dem Gesicht an der Thür lehnte, antwortete durch ein stummes Nicken.

Das Mädchen, welchem diese Rüge galt, war ein sehr hübsches Kind von 12 – 13 Jahren, mit blauen, sanften Augen und schönem kastanienbraunem, wohlgeordnetem Haar. Mit ihrem lieblichen Gesicht, ihrem sorgfältig frisirten Haar und ihren sauberen Strümpfen und eleganten Schuhen aber stand ihre übriger Anzug sehr im Widerspruch, denn sie trug ein völlig zerlumptes Kleid und einen schmutzigen zerrissenen Shawl um die Schultern.

»Ich habe ihr auch schon gesagt«, bemerkte die stets mundfertige Sairy, »daß sie in diesem Kleide nicht beim Frühstück erscheinen dürfte, aber sie wollte mir ja nicht folgen und das neue Kleid anziehen.«

»Warum thatest Du denn das nicht?« sagte Mrs. Bagges zornig.

»Ach, ich bitte Sie sehr um Entschuldigung, Ma'am ...« begann das Kind.

»Ich habe Dir gesagt, Du sollst mich Tante nennen und nicht Ma'am oder Mrs Bagges oder sonst wie – Nun ich bin neugierig zu erfahren, was Du an dem Kleide auszusetzen hattest.«

»Es ist so sehr weit ausgeschnitten,« antwortete Nettice kleinlaut. – »eine selige Mutter litt es nie ...«

»Ach was, Deine selige Mutter lebt nicht mehr und Dein Stiefvater läßt Dich in Lumpen umherlaufen und jagt Dich aus dem Hause, und nun wirst Du thun, was Deine Wohlthäterin von Dir zum Dank verlangt, und das ist, daß Du das Kleid anziehst. Ist es Dir zu weit ausgeschnitten, so thue eine Canessous darüber – Scip wird Dir eins aus meiner Garderobe geben. Auf der Stelle geh und kleide Dich anders an, und wenn Du fertig bist, magst Du zum Frühstück kommen, und merke Dir, bist Du ungehorsam, so schicke ich Dich zu Deinem Stiefvater zurück.«

»O thun Sie das nicht«, flehte das Kind, Thränen vergießend. »Ich bitte tausendmal um Vergebung, daß ich Sie erzürnte. Sein Sie nicht böse und schicken Sie mich nicht meinem Stiefvater zurück. Gern will ich Alles thun, was Sie fordern.«

»Schon gut, geh«, sagte Mrs. Bagges ärgerlich und den Kopf abwendend, als sie dem Kinde die Hand zum Kusse reichte.

Fanny empfand unwillkürlich Mitleid mit dem Kinde und mißbilligte Mrs. Bagges Härte sehr, allein sie scheute sich, etwas von ihren Gedanken zu verrathen.

Mrs. Bagges nahm jetzt wieder ihren zärtlich freundlichen Ton an, indem sie, während sie den Thee bereitete, in ihrem Geplauder fortfuhr:

»Nun, meine liebe Fanny, möchten Sie wohl gerne wissen – aber wollen Sie mir erlauben, daß ich Sie »Du« nenne? ... Ich komme mir »vor als wäre ich Ihre Mutter ... Sie erlauben es, Sie sind ja mein Liebling – also: nun liebe Fanny, möchtest Du wohl wissen, wer diese Deine neuen Freundinnen sind?«

Fanny, welche durch das vertrauliche »Du« allerdings nicht sehr angenehm berührt wurde, mochte ihrer Wohlthäterin doch nicht wiedersprechen, sondern machte gute Miene und sagte in möglichst freundlichem Tone:

»Ohne Zweifel Ihre Töchter, Ma'am.«

»Nenne mich nicht Ma'am mein Täubchen. Nenne mich Tante, es hört sich das vertraulicher an. – Nein, Schätzchen, nicht meine Töchter. ...«

»Arme Verwandte!« fiel hier Sairy ein und brach bei der Bemerkung in lautes Lachen aus.

»Sairy!« verwies sie Mrs. Bagges »Es scheint als spottest Du über mich? – Habe ich das um Dich verdient, Du böses Kind?« –

Sairy antwortete bloß durch einen verachtenden Seitenblick.

»Diese hier,« begann Mrs. Bagges die Ceremonie des Vorstellens, indem sie mit der größten Ernsthaftigkeit auf die Aelteste der Gesellschaft deutete, »ist Sairy, eine arme Verwandte, die ich vor zwei Jahren in meinem Hause aufnahm und erzog.«

Die junge Dame, von welcher die Rede war, brach bei diesen Worten in ein so unbändiges Lachen aus, daß sie fast an dem Bissen, den sie eben im Munde hielt, erstickte.

Die Augen der Dame schossen wüthende Blicke, aber sie blieben ohne alle Wirkung, und als sie wie um Schutz und Unterstützung zu suchen, sich nach dem Neger an der Thür umwandte, fand sie, daß auch dieser nicht das ernste Gesicht machte, was er hätte machen müssen, wenn er die Taktlosigkeit Sairy's recht begriffen hätte, vielmehr sah er ganz so aus, als ob ihn Sairy mit ihrem Lachen angesteckt hätte.

Fanny fürchtete, daß ihre Wohlthäterin ernstlich böse werden würde und hielt es für das Beste, ihre Aufmerksamkeit auf die Andern zu lenken, welche ihr bis jetzt keine Veranlassung zum Zorn gegeben hatten. Sie fragte daher:

»Und wer ist denn hier meine Nachbarin Mistreß – Mistreß – ich wollte sagen Tante?«

»Deine Nachbarin, mein Schatz,« war die Antwort, welche Mrs. Bagges mit großer Ueberwindung gab, »ist die kleine Anna, die Tochter einer entfernten Verwandten von mir, deren Vater im Kriege fiel und deren Mutter im großen Elend lebt. Da ich von dem Unglücke meiner Cousine hörte, so reiste ich hierher und habe ihr das Kind abgenommen.«

»Meine Mutter sagte doch, sie hätte Sie nie gesehen vor dem Tage, als Sie ihr das Geld gaben?« bemerkte Anna, ein kleines verkommenes Kind von 10 Jahren mit blassen, eingefallenen Wangen.

»Sagte sie das, kleiner Naseweis?« entgegnete Mrs. Bagges spitzig· »Es kann sein, daß sie mich vorher nicht sah, aber sie ist doch meine Verwandte und ich habe ihr die 100 Dollars gegeben, damit sie mir das Vergnügen läßt, Dich zu erziehen, mein Püppchen.«

»Und diese?« fragte Fanny, auf ein etwa 12 jähriges schwarzäugiges Mädchen deutend mit dicken Pausbacken und so umfangreicher Taille, als ob sie ein verjüngtes Conterfei einer Bierwirthin sei.

»Diese heißt Polly,« antwortete Mrs. Bagges.

»Auch die Tochter eines Verwandten?« fragte Fanny.

»Nein!« antwortete Polly statt der Gefragten. »Mein Vater ist ein sehr reicher Mann, aber meine Mutter ist nicht seine Frau gewesen, sie ist todt, ich bin bei andern Leuten erzogen und die haben mich mit Mrs. Bagges mitgeschickt, weil mein Vater es so gewollt hat.«

»Und das ist Nettice!« fuhr Mrs. Bagges fort, als eben das blauäugige Kind in dem neuen Kleide schüchtern zu Thür hereintrat. Sie hatte das Canessous dicht um ihre Schultern gezogen und schlich ängstlich an den Tisch heran.

»Du solltest das Uebertuch ablegen und im bloßen Halse gehn,« meinte die Dame.

»Sie wird einen eckigen Hals haben, sie ist ja so mager« bemerkte Sairy. »Wissen Sie, Alte, sie ist wie die Mathilde, die auch nicht ausgeschnitten gehen kann.«

»Ach nein, mit Nettice ist es etwas andres, es ist bei ihr kein Naturfehler, es hat nur an der Pflege gelegen, daß sie mager ist. Sie wird sich bei uns zu Hause schon auswachsen.«

Unter solchen Gesprächen verging das Frühstück. Scip hatte inzwischen die Reisevorbereitungen getroffen und das Gepäck nach dem Bahnhofe gebracht.

Nachdem Mrs. Bagges für sich, ihren Diener und die fünf Mädchen die Rechnung bezahlt hatte, und dabei dem Wirthe noch mit besonderer Betonung wiederholt hatte, daß sie nach Richmond reise und dort zu Hause sei, bestieg sie mit ihren Schützlingen ein Cab.

»Nach dem Georgia Bahnhof!« befahl sie dem Kutscher.

»Nach dem Georgia Bahnhof?« wiederholte Nettice, welche in Winchester zu Hause war, »da geht es nicht nach Richmond. Nach Richmond, da müssen wir mit der Cumberlandbahn fahren. Die Georgiabahn geht ja nach Charlestown.«

»Verschone mich mit Deinem Geschwätz!« herrschte Mrs. Bagges sie an. »Es ist genug, wenn ich sage, daß ich nach Richmond fahre und nicht nach Charlestown.«

»Aber mit der Georgiabahn ...!«

»Schweig, sage ich, und schwatze nicht unsinniges Zeug, was muß nur Fanny davon denken? Ich sage Dir, wir fahren nach Richmond und damit genug!«

»Es ist wirklich kein Unsinn, liebe Mrs. Bagges, mit der Georgiabahn ...!«

»Schweig, Du vorlautes Ding, oder soll ich Dich hier absetzen und Deinem Stiefvater zurückschicken?«

Die Drohung wirkte. – Nettice machte keinen Versuch weiter, ihre geographischen Zweifel gegen die Reise nach Richmond geltend zu machen.

Auf der Reise, welche den ganzen Tag hindurch und die folgende Nacht und den folgenden Tag währte, ereignete, sich nichts wesentlich Merkwürdiges, nur daß Fanny nicht umhin konnte, einige Bemerkungen zu machen, welche ihren Widerwillen gegen ihre Wohlthäterin wohl erhöhten, aber doch in ihrem unbefangenen, kindlichen Herzen kein Mißtrauen gegen dieselbe erweckten. Mrs. Bagges hatte ein eigenes Coupé gemiethet für sich und ihre Schützlinge und vermied es während der ganzen Fahrt, so weit als es irgend thunlich, die Kinder allein zu lassen. Sie benahm sich gegen Fanny mit ausgesuchter Freundlichkeit, gegen Nettice aber und die kleine Anna mit Strenge, es war nicht schwer zu sehen, daß sie über diese eine unbedingte Herrschaft hatte und von ihnen unter allen Umständen Gehorsam fordern konnte, mit größerer Vorsicht aber ging sie in ihren Befehlen und Anordnungen bei Polly zu Werke, und über Sairy hatte sie nicht den geringsten Einfluß, vielmehr schien diese arme Verwandte ihre Wohlthäterin förmlich zu tyrannisiren. Wenn sie einen Wunsch aussprach, so geschah es in einer Weise, welche voraussetzte, daß eine abschlägliche Antwort unmöglich sei und befleißigte sich überhaupt in allen ihren Antworten, wenn sie Mrs. Bagges überhaupt einer Antwort würdigte, eines beleidigenden Spottes.

Die nöthigen Erfrischungen reichte Scip, welcher in einem andern Coupe fuhr, in den Wagen, so daß es nicht nöthig war, oft auszusteigen. Ueber die Namen der Ortschaften, welche sie berührten, hielt Mrs. Bagges ihre Pfleglinge in völliger Ungewißheit. Als sie in der Nacht ausstiegen, um in einem Gasthofe einige Stunden zu ruhen, fragte Nettice schüchtern wie die Stadt heiße, in welcher sie sich befanden, aber bei dieser Frage wurde – wozu Fanny vergebens einen Grund zu finden suchte – Mrs. Bagges so böse, daß sie die Drohung, das Kind hier zu lassen, und es seinem Schicksal zu überlassen, so energisch wiederholte, daß Fanny unter Thränen für die Arme Fürbitte that.

Als die Kinder sich zu Bette gelegt und Mrs. Bagges vorsichtig, als ob sie einen Schatz zu bewahren hätte, die Thür abgeschlossen und die Schlüssel in ihre Tasche gesteckt hatte, bevor sie sich auf ihr Zimmer begab, ergriff Fanny, ihre Hand unter der Bettdecke hervorstreckend, die der weinenden Nettice, deren Bett neben dem ihrigen stand.

»Warum erzürnst Du auch nur durch solche Fragen die Frau?« sagte sie mitleidsvoll. »Thu es doch lieber nicht, Du siehst ja, daß sie es nicht gern hört, und wie schrecklich wäre es für Dich, wenn sie Dich hier ließe; was würdest Du nur anfangen, Du armes Kind?«

Nettice drückte einen Kuß auf die weiche Hand Fanny's.

»Ach, Miß«, sagte sie schluchzend, »ich weiß ganz gewiß – doch ich will lieber nichts mehr sagen. Ach Gott, wie unglücklich bin ich, seit meine Mutter todt ist.«

»Liebe Nettice«, sagte Fanny in ihr Weinen einstimmend, »warte nur, bis wir in Richmond sind, da soll sich meine Mutter Deiner annehmen.«

»Ach, Richmond – Richmond ...« flüsterte sie, doch sie vollendete nicht, sondern begnügte sich, die Hand Fanny's an ihr Herz zu pressen.

»Ei was«, begann plötzlich Sairy, sich in ihrem Bette aufrichtend, »Ihr seid dumm, Euch vor der Alten zu fürchten. Ich versichere Euch, sie läßt Nettice nicht hier. Ich weiß das, ich kenne sie, denn ich bin bereits zwei Jahre in ihrem Hause. Sie hat mich auf diese Reise mitgenommen, weil ich noch die Beste von Allen bin und Ihr seht doch, daß ich Ihr nicht schmeichele.«

»Von Allen?« wiederholte Fanny, »hat denn Mrs. Bagges noch mehr arme Verwandte zu Hause?«

Sairy lächelte.

»Du wirst ja sehen!«

Am andern Morgen früh gings weiter und erst am Abend waren sie am Ziel ihrer Reise. Scip öffnete die Thür des Coupe's packte die Schachteln und Kisten auf einen bereitstehenden Wagen und Mrs. Bagges stand mit ihren Schützlingen derweile aus dem Perron, sie mit ihren Armen zusammen haltend, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel nimmt, damit kein's verloren gehe.

Die Kinder schauten alle dem Gewirr und Getümmel aus dem Bahnhofe zu, sie hatten ein solches Durcheinander von Wagen und Menschen nie gesehen, nur Nettice schien nicht darauf zu achten, sondern ließ ihren Blick südwärts schweifen, wo eine breite Straße in gerader Linie fortlaufend die Aussicht bot auf eine weite, weite Ebene und einen Mastenwald.

Als Scip mit dem Gepäck in Ordnung war, beeilte sich Mrs. Bagges, die Kleinen in den Wagen steigen zu lassen, als Fanny bei dieser Gelegenheit einen Augenblick allein stand, fühlte sie sich leise am Aermel berührt.

Sie wandte sich um.

Es war Nettice, welche mit den Fingern in der Richtung jener breiten Straße wies.

»Sehen Sie dort jene schwarze weite Fläche, welche im Mondlicht glänzt?« fragte sie flüsternd.

»Ja, ich sehe es,« antwortete Fanny. »Was ist das?«

»Es ist das Meer, Miß.«

»Das Meer?«

»Ja, es ist das Meer. Richmond aber liegt nicht am Meere.«


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