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Vierundsechzigstes Kapitel.
Der Morgen nach der Schreckensnacht

Der Regen, welcher im Verlauf der Nacht des 9. September in Strömen vom Himmel geflossen war, hörte gegen den Morgen hin auf, und die Sonne tauchte klar und rein hinter den Häusermassen New-Yorks hervor, um die Ueberreste der grauenvollen Scenen zu beleuchten, welche die entmenschten Horden ausgeführt.

Viele der größten und schönsten Häuser waren Schutthaufen, unter deren rauchender und glimmender Asche man zum Theil die Ueberreste von Reichthum und Pracht erblickte. Jammernd umstanden die ehemaligen Bewohner diese Gebäude, die Stätte einstigen Glückes, und durchsuchten den Schutt nach den halb oder ganz verkohlten Leichnamen ihrer Angehörigen, welche darunter begraben lagen, oder standen händeringend und verzweifelnd bei der schrecklichen Gewißheit, daß sie jetzt nackt und bloß dastanden, daß ihnen Alles, Alles verloren sei, ihr Leben voll Armuth und Elend verwünschend und Diejenigen beneidend, welchen der Tod diesen Jammer erspart hatte.

Im Koth der Straßen, welchen der Regen ausgeweicht hatte, lagen die Leichen erschlagener Neger, zum Theil die Spuren gräßlicher Martern an sich tragend; An Laternenpfählen und Thürpfosten baumelten die Erhängten, an einem Bretterzaun stand eine Anzahl Schwarzer aufgereiht, welche die Unholde sämmtlich an einer Hand dort festgenagelt hatten. Die Unglücklichen lebten noch, als man sie fand, und flehten, daß man ihren Qualen durch den Tod ein Ende machen möchte.

Die Häuser des ganzen Viertels, in welchem meistens die Neger wohnten, waren von ihren Bewohnern fast sämmtlich verlassen. Sie hatten sich theils geflüchtet, theils fand man ihre Leichen zerschmettert durch den Sturz aus dem Fenster auf der Straße, theils in irgend einem Winkel, in welchem sie einen Versteck gesucht hatten.

Vor dem Court-Hause, wo ein heftiger Kampf stattgefunden, lagen die Leichen sowohl der Beamten wie der Rebellen so dicht, daß sie fast den ganzen Vorhof bedeckten. Die Thüren der Gefängnisse standen offen, sowohl die Eingangsthüren, wie auch die Zellen; und diejenigen von den Beamten, welche mit dem Leben davon gekommen waren, waren damit beschäftigt, in den Gängen ihre Collegen aufzusuchen, welche, weil sie sich geweigert hatten, die Thüren zu öffnen, dort von den Rebellen erschlagen waren.

Mr. Judd, der Chef der Polizei in New-York, und Mr. Schleiden, der Commandeur der Militärpatrouillen, welche eben eine Runde durch die Straßen der Stadt gemacht hatten, kamen auch hierher und blieben erschüttert stehen, bei dem Anblick, welcher sich ihnen im Vorhofe bot. So dicht hatten sie nirgends die Leichen gefunden, wie hier. Mit Heldenmuth hatten die Wachen den ungleichen Kampf mit den Rebellen aufgenommen und ihre Pflichttreue mit dem Leben gebüßt.

»Wären wir nur eine Stunde früher gekommen,« sagte Mr. Schleiden, »so hätten wir es verhindern können.«

»Freilich,« bestätigte Mr. Judd, »allein wir können Gott nicht genug danken, daß die Hilfe überhaupt kam. Rechnen Sie, was geschehen wäre, wenn der Aufruhr in dieser Weise nur noch 12 Stunden fortgetobt hätte. Wir haben die Ankunft der Miliz fast wie ein göttliches Wunder angesehen, denn wie konnten wir erwarten, daß man in Washington von dem Aufstande früher Nachricht hatte, als selbst in New-York.«

»Wissen Sie, wem Sie die Rettung der Stadt verdanken?« fragte Schleiden.

»Nun?«

»Einem Jüngling, den ich. in der Nacht habe verhaften müssen.«

»Ein am Complott Betheiligter?«

»Ich hoffe nicht, daß er das ist. Es ist ein Jüngling, welcher sich in merkwürdiger Weise bald als Freund, bald als der schlimmste Feind der Anstifter gezeigt und mich schließlich dadurch vollends verwirrt hat, daß er sich mir als verkleidetes Mädchen entdeckte.«

»Wunderbar!«

»Kennen Sie eine Familie Powel?«

»Gewiß, Mr. Schleiden. Mr. Charles Powel galt bis vor Kurzem für einen durchaus achtbaren Mann und seine Frau als ein Muster aller weiblichen Tugenden.«

»Bis vor Kurzem, sagen Sie?«

»Allerdings, denn der Mann ist wegen Unterschlagung zu mehrjähriger Gefängnißstrafe verurtheilt und die Frau in Untersuchung. Es liegt der Verdacht sehr nahe, daß sie die heimliche Korrespondenz des Mr. Berckley, des Rebellen-Agenten, welcher hier in Haft·gehalten wurde, unterstützt hat.«

»Also steht die Familie jetzt in schlechtem Ruf?«

»Ganz gewiß. Aber wiefern interessirt Sie diese Familie?«

»Weil der Jüngling, von dem ich eben sprach, oder vielmehr das Mädchen, welches ich habe verhaften müssen, und von dessen Schuld ich mich moralisch nicht überzeugt halte, eine Schwester jenes Mr. Powel ist.«

»Das ist eben keine Empfehlung für das Mädchen.«

»Ach fürchte fast, daß es so ist. Sie selbst übrigens war von der Schuldlosigkeit ihres Bruders wie ihrer Schwägerin mehr als überzeugt und hatte, wie sie mir mittheilte, eben im Begriff gestanden, Schritte zu thun, um sie aus der Haft zu befreien.«

»Ueber den Punkt kann sie sich beruhigen, denn ihre Schwägerin ist bereits gegen Caution entlassen,« und ihr Bruder« – er deutete mit Lächeln auf die offenstehenden Gefängnißthüren. – »Sie sehen wohl, daß seiner Selbstbefreiung sich keine Schwierigkeiten darbieten, er wird sich nicht besonnen haben, von der günstigen Gelegenheit Gebrauch zu machen.«

Sie waren während dieser Unterredung hineingetreten und schritten die Corridors entlang. Ein alter Wärter kam ihnen entgegen, große Thränen auf den gefurchten Wangen, begrüßte er Mr. Judd mit zitternder Stimme, und fügte dann hinzu:

»O, mein Gott, daß wir das erleben müssen, Alle todt, ermordet von diesem verfluchten Gesindel.«

»Habt Ihr schon gezählt, wie viel Ihr Todte habt?« fragte Mr. Judd.

»Von uns Beamten und den Posten sind zusammen funfzig Mann todt, und die Andern sind Alle so schwer verwundet, daß nicht viele von ihnen mit dem Leben davonkommen werden.«

»Und die Gefangenen Alle entflohen, natürlich?«

»Alle fort, das können Sie sich schon denken Mister Judd.«

»Haben Sie bereits die Zellen revidirt?«

»Noch nicht, wir haben bis jetzt vollauf zu thun gehabt, die Todten und Verwundeten aus allen Winkeln hervorzuholen; und wozu auch die Zellen revidiren? – es ist ja Niemand darin.«

»Es wäre aber doch möglich, sie hätten vergessen eine oder die andere Zelle auszuschließen, oder die festeren Thüren hätten den Versuchen, sie zu öffnen, widerstanden.«

»Ach nein,« sagte der alte Mann. »Sie hätten nur sehen sollen, mit welcher Umsicht und Berechnung sie zu Werke gingen. Sie haben kein Schloß vergessen zu öffnen, es war gerade, als wären sie mit unsern Schlüsseln so vertraut, wie mit ihrem Hausschlüssel. Ganz natürlich, sie werden wohl schon sämmtlich hier ihr Logis gehabt haben, diese Mörder und Spitzbuben.«

»Welches ist die Zelle Berckley's?«

»Die ist oben, Sir, ganz oben.«

»Führen Sie uns einmal dahin. Vielleicht, daß irgend etwas, das wir dort finden, auf seine hiesigen Verbindungen hindeutet.«

Sie stiegen die Treppe hinauf und schritten durch einen sehr langen Corridor. Der Wärter hatte ganz recht berichtet, alle Thüren standen weit offen, und alle Zellen, in welche sie im Vorbeigehen einen Blick warfen, waren leer.

»Dort die Zelle rechter Hand, das war Mr. Berckley's Gefängniß,« sagte der Wärter.

Mr. Judd schritt auf eine offenstehende Thür zu.

»Nicht die,« sagte der Wärter, »die daneben ist es.«

Aber Mr. Judd kehrte dennoch nicht um, sondern blieb überrascht und betroffen in der Thür der Zelle stehen. Auch Schleiden theilte seine Ueberraschung, als er einen Blick in das Innere der Zelle warf.

Dort saß, den Kopf auf den Tisch gestützt, auf dem Rande seiner Bettstelle die abgemagerte, blasse, verwilderte Gestalt eines Mannes. Der Unglückliche schien so vertieft in seine traurigen Gedanken, daß er die Anwesenheit der Fremden nicht eher bemerkte, als bis der Polizeichef ihn anredete:

»He Mann, sind Sie krank?«

Der Gefangene schlug seine hohlen, geisterhaft blickenden Augen zu dem Sprecher auf, und antwortete mit langsamer, dumpfer Grabesstimme:

»Krank? – Ja, aber hier, hier,« fügte er hinzu, die dürre Hand auf seine Brust drückend.

»Wie kommt es, daß Sie die Gelegenheit zu entfliehen unbenutzt gelassen haben? fuhr Mr. Judd fort. »Sie scheinen sich eben nicht nach der Freiheit zu sehnen.«

Der Gefangene stieß einen schweren Seufzer aus und rief, die Hände krampfhaft zusammenfaltend:

»O, mein Weib, meine Kinder!«

»Der Mann scheint geistesabwesend,« sagte Schleiden, »man sollte ihn von hier fort in ein Hospital bringen.«

»Wenn Sie sich so sehr nach Weib und Kindern sehnen,« nahm der Polizeichef wieder das Wort, »warum sind Sie alsdann nicht diese Nacht mit den andern Gefangenen entflohen?«

Da erhob sich der zusammengeknickte Mann von seinem Sitz und richtete sich stolz und gerade empor und sagte, festen Blickes auf den Frager zutretend mit stolzer Würde:

»Weil ich es verschmähe, Sir, von einer Freiheit Gebrauch zu machen, welche mir der Zufall verschafft. Wenn nicht meine Unschuld von den Richtern anerkannt ist, daß ich vor aller Welt gerechtfertigt dastehe, so will ich weder frei sein, noch leben. Weder meiner Familie noch irgendeinem Menschen will ich unter die Augen treten, so lange ich mit dem Makel befleckt bin, der durch die schändlichste Verläumdung auf mich geworfen ist.«

Er brach nach diesen Worten wieder kraftlos zusammen, sank auf den Stuhl zurück und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Es lag in den Worten und in der ganzen Erscheinung des Mannes so viel Ueberzeugendes und Theilnahme Erweckendes, daß sowohl Judd als der Lieutenant sich ergriffen fühlten und sich unwillkürlich sagten:

»Hier muß ein Irrthum obwalten, der Mann muß unschuldig sein.«

Ein Blick, welchen die Beiden wechselten, sprach diese ihre Gedanken aus, und in so mildern Tone als ihm möglich wandte sich Mr. Judd an den Gefangenen:

»Wenn Ihnen Unrecht geschehen, so sein Sie überzeugt, daß Alles aufgeboten werden wird, Ihnen Ihr Recht zu verschaffen. – Wie ist Ihr Name?«

»Charles Powel.«

»Powel!« wiederholte Schleiden verwundert für sich. »Das ist also auch ein Glied der Familie, an welcher nichts dran ist, wie alle Welt meint. Wenn die übrigen Glieder dieser Familie nicht schuldiger sind, als dieser Mann, beim Himmel, so sind sie reiner als das Licht der Sonne selbst.«

Mr. Judd war inzwischen vorangegangen in die Zelle, welche der Vorsitzende des Ordens der Ritter vom goldenen Cirkel inne gehabt hatte. Mit Hülfe Schleidens und des Wärters wurde dieselbe genau durchsucht. Anfangs, wie es schien, ohne Erfolg. Die Betten, das Stroh, die Winkel und Ecken, Alles war genau durchsucht, und schon wollte Judd sich wieder entfernen, als seine Aufmerksamkeit sich auf das Fenster richtete. Das Fensterbrett hatte sich ein wenig geworfen und eine schmale Spalte über dem Mauerwerk geöffnet, aus welcher das Ende einer Schnur herab hing. Judd erfaßte dasselbe und zog die Schnur hervor, welche lang genug war, um, aus dem Fenster gelassen, bis auf die Erde herab zu reichen. Das war also das Instrument, vermittelst dessen Mr. Berckley seine Briefe erhalten hatte. Konnte man aber nicht seine Spur, dieser Briefe selbst finden? – Richtig, das Fensterbrett ließ sich mit einiger Kraftanstrengung so weit in die Höhe heben, daß man die Hand in die Spalte bringen konnte, in welcher sich nicht allein Papier und Bleistift, sondern auch ein Brief vorfand.

Mr. Judd öffnete den Brief, welcher keine Adresse trug, außer in der Ecke die Buchstaben K. G. C. Der Brief selbst war in einer unverständlichen Chiffernschrift geschrieben. –

Als Mr. Judd und sein Begleiter eben im Begriff waren, das Court-Haus zu verlassen, kam ein Adjutant und meldete ihnen, daß der General Wallace soeben angekommen sei und die Herren ersuchen lasse, zu ihm nach der Commandantur zu kommen.

Mr. Wallace, der in Aushebungsangelegenheiten einige Tage in Hobocken zu thun gehabt hatte, war per Telegraph von den Ereignissen in New-York benachrichtigt worden und sofort zurückgeeilt. Die Vernichtung der Aushebungslisten hatte ihm, so ruhig und besonnen er sich stets, selbst in den schwierigsten Verhältnissen zeigte, fast die Fassung geraubt. – Bleich und mit allen Zeichen der größten Aufregung schritt er in seinem Zimmer im Kommandanturgebäudes auf und ab. Das ganze Personal der Aushebungsoffice hatte er bereits citiren lassen und aus ihrer Aller Aussagen mußte er zu der Gewißheit gelangen, daß die Listen vernichtet seien.

Was war nun zu thun? – Er konnte zu keinem Entschluß kommen. Man mußte eine neue Aushebung beginnen. Aber auf welche Weise sollte das geschehen, ohne die entsetzlichste Verwirrung herbeizuführen? Der General hatte völlig den Kopf verloren.

»Nun, wie sieht es aus?« fragte er hastig und aufgeregt den Polizeichef, der mit Schleiden eintrat.

»Das Unheil hätte größer sein können,« erwiderte dieser. »Die Hülfe ist eben noch nicht ganz zu spät gekommen.«

»Sie haben bereits die Runde durch die Stadt gemacht?«

»Ich habe mit Mr. Schleiden, dem Befehlshaber der Patrouillen, soeben fast alle die Plätze besucht, wo das Unheil am stärksten gewüthet.«

»Nun?«

»Es sind etwa hundert Häuser niedergebrannt, und nach einer ungefähren Schätzung haben wir drei bis viertausend Todte, meist Nigger.«

»Aber die Aushebungslisten, Sir, die Aushebungslisten!«

»Sind ohne Zweifel mit verbrannt.«

»Ich bitte um Verzeihung,« fiel hier der Lieutenant Schleiden ein. »Ich zweifle daran, daß die Aushebungslisten verbrannt sind.«

»Was sagen Sie?« rief der General auf Schleiden zuspringend. »Nicht verbrannt? – Gestohlen?«

»Gerettet, glaube ich,« antwortete Schleiden.

»Sprechen Sie die Wahrheit Herr? – Um Gotteswillen reden Sie, was veranlaßt Sie zu dieser Meinung? – Bedenken Sie, was Sie sagen, das ist eine Angelegenheit, welche den ganzen Staat, ja die ganze Republik betrifft. – Woher glauben Sie, daß die Listen gerettet sind?«

Der Graf erzählte das Abenteuer in jener entlegenen 69sten Straße In New-York haben die meisten Straßen, namentlich die Querstraßen, keine besonderen Namen, sondern nur Nummern. und die Aeußerung, welche Miß Mary Powel in Bezug auf die Aushebungslisten gethan hatte.

»Die Canaille hat Sie getäuscht,« brummte der General, ungläubig den Kopf schüttelnd. Sie gehört augenscheinlich mit zum Complott. – Ist nicht auch der Bruder, jener Charles Powel, einer von diesen demokratischen Hunden? – Sie wissen es jawohl, Mr. Judd.«

»Der Bruder,« antwortete dieser, »stand stets im Rufe ein guter Republikaner zu sein, allein dessen Frau steht in sehr dringendem Verdacht, mit den Anhängern des Südens Verbindung unterhalten zu haben.«

»Nun ja, da haben Sie's!« rief der General. »Sie sind dupirt, lieber Lieutenant.«

»Trotz alledem aber behaupte ich, daß jenes Mädchen die Wahrheit sprach,« erwiederte Schleiden bestimmt, »ich kann mich weder von der Falschheit dieses Mädchens, noch überhaupt von der Schuld der übrigen Glieder dieser Familie überzeugen. – Ich würde rathen, das Mädchen herführen zu lassen und zu vernehmen.«

Der General sah ein, daß dies allerdings das Beste sei, und schickte seinen Adjutanten sofort ab, um Miß Mary Powel herzuführen.

Kaum hatte sich dieser entfernt, so meldete ein Secretair den Hauptmann der Hafenpolizei zu Boston, Mr. Morris.

»Was führt Sie zu dieser unglücklichen Stunde hierher?« fragte der General, als der Angemeldete eingetreten war. »Die Polizei in New-York hat in diesem Augenblick mit ihren eigenen Angelegenheiten schon mehr zu thun, als sie zu leisten vermag, daß sie sich unmöglich um die Angelegenheiten der Polizei von Boston kümmern kann.«

»Und doch muß ich die Hilfe der hiesigen Polizei beanspruchen,« antwortete Morris. Meine Angelegenheit ist so wichtig, fast wichtiger, als das Unglück, welches diese Stadt betroffen hat.«

»Oho, was hat das zu bedeuten?«

»Zunächst,« fuhr Mr. Morris fort, »muß ich berichten, daß ich in New-York bereits ohne Zuziehung der hiesigen Criminalpolizei eine Haussuchung vorgenommen habe.«

»Der Fall muß in der That sehr dringend sein,« bemerkte Mr. Judd, unangenehm berührt.

»Er war sehr dringend,« antwortete Mr. Morris, »Es handelte sich um die Auffindung einer gewissen Kiste, welche die Alabama im Hafen von Boston ans Land schaffte, und welche die Beute an baarem Gelde von den gekaperten Schiffen enthielt, etwa eine Million Dollars.«

»Und diese Kiste soll in New-York sein?«

»Sie ist dem Banquier Aaron Lewy übergeben worden, und bei ihm eben habe ich die Haussuchung vorgenommen.«

»Haben Sie die Kiste vorgefunden?«

»Nein. Mr. Lewy leugnet nicht, die Kiste in Empfang genommen zu haben, behauptet aber, sie sei ihm bei dem gestrigen Crawall geraubt worden. Mein erstes Anliegen ist nun das, daß die hiesige Polizei Alles aufbietet, um etwas über den Verbleib der Kiste in Erfahrung zu bringen.«

. Gegen dies Verlangen ließ sich natürlich nichts einwenden, und die Million Dollars war selbst unter den obwaltenden Verhältnissen ein Gegenstand der eifrigsten Bemühung werth; also erklärte Mrs. Judd ohne Widerrede seine Bereitwilligkeit, nach dem Verbleib der Kiste zu forschen.

»Wissen Sie wie die Kiste aussieht?« fügte er hinzu.

»Allerdings«, antwortete Mr. Morris, »ich habe die Kiste mit eigenen Augen gesehen, und zwar in einem Boote, dessen Insassen ich für Lachsfischer hielt, die aber Mannschaften der Sea-bright, des Begleitschiffes der Alabama gewesen sind. Die Kiste ist von Eichenholz mit starkem Stahlbeschlag und einem starken Vorlegeschloß.«

Der Adjutant, welcher abgeschickt war, um Miß Mary Powel herzuführen, meldete in diesem Augenblick, daß dieselbe im Vorzimmer warte.

»Lassen Sie sie sofort eintreten«, befahl der General, für den kein anderer Gegenstand in diesem Augenblick mehr Interesse hatte, als derjenige, über welchen die Gefangene vernommen werden sollte.

»Ich bitte um Verzeihung«, fiel Mr. Morris ein, »ich habe noch eine Sache vorzutragen.« –

»Bester Freund, Alles was Sie vortragen können. ist nicht halb so wichtig, als eine Nachricht über den Verbleib der Aushebungslisten. – Gehen Sie, Herr Lieutenant, führen Sie, die Gefangene herein.«

Der Adjutant entfernte sich.

»Ich brauche das Verhör durch meine Gegenwart nicht zu stören«, nahm Morris wieder das Wort, »was ich noch zu sagen habe, ist kurz genug. Mr. Slowson, der Director der Westindischen Compagnie, läßt die hiesige Polizei ersuchen, auf den Mann zu fahnden, welcher in dem Steckbrief, den ich Ihnen hier übergebe, Mr. Judd« – er überreichte demselben das Papier – »näher bezeichnet ist, und ersucht sie zugleich, die übrigen Polizeibehörden aller Staaten der Union von der Thatsache in Kenntniß zu setzen.«

Mr. Judd hatte einen flüchtigen Blick auf das ihm übergebene Papier geworfen, das aber sofort sein ganzes Interesse fesselte.

»Was?« rief er, gerade in dem Moment, als der Adjutant Miß Powel hereinführte. – »Was? die Alabama lag in Hafen von Boston und ist durch einen Officier unserer Marine herausgeloots't? – Wer war der Schurke, der diesen Verrath beging? – Powel, lese ich recht?«

»Es war der Lieutenant der Brigg Contest,« Eugene Powel!« bestätigte Mr. Morris.

»Das ist Verleumdung, Sir!« rief, in edler Entrüstung erröthend, die Gefangene, einen stolzen Blick auf den Polizeibeamten heftend.

Mr. Morris sah sie verwundert an.

»Das ist Verleumdung«, wiederholte Mary, »ich sage, daß der Lieutenant Powel eines Verraths nicht fähig ist, und wenn alle Polizeibeamte der Union ihn dessen beschuldigten und alle Gerichte ihn verurtheilten.«

»Sie kennen diesen Patron, wie es scheint?« fragte Morris etwas höhnisch, »vielleicht ein Liebhaber, den man so warm vertheidigt?«

»Eugene Powel ist mein Bruder«, antwortete Mary stolz. »Ich kenne seine patriotische Gesinnung und seinen edlen Charakter, und weiß, daß er einer Schurkerei nicht fähig ist. Ich kenne ihn wie mich selbst, und so wenig wie ich selbst einer solchen Handlung fähig wäre, und könnte ich alle Schätze der Erde dadurch gewinnen ...«

»Ha, ha, ha!« unterbrach sie Morris. »Sie vergessen, Miß, daß Sie eben selbst eines ähnlichen Verbrechens halber gefangen sind.« –

»Und daß auch Ihr anderer Bruder und dessen Frau sich im Gefängniß befinden«, fügte Wallace hinzu.

Mary schlug erröthend die Augen nieder, ihre Lippen bebten, ihre Wimpern zitterten, und eine Thräne rollte über ihre Wangen.

»O, Wilkes, den Tod wollte ich lieber für dich erlitten haben, als die Schmach, für eine ehrlose Verrätherin zu gelten!« flüsterte sie.

Mr. Schleiden näherte sich ihr theilnahmevoll.

»Fassen Sie sich Miß Powel. Der Verdacht, welcher auf Ihnen, wie auf den Ihrigen ruht, ist noch nicht erwiesen, und was Ihren Bruder Charles betrifft, so haben sowohl ich, wie auch Mr.·Judd die Ueberzeugung, daß er weniger schuldig ist, als er scheint, und hoffen, daß einst der Tag kommen wird, wo er völlig gerechtfertigt dasteht; – und daß Ihnen und Ihren übrigen Verwandten ein Gleiches zu Theil werde, das gebe Gott.«

Mary trocknete ihre Thränen und dankte dem Offizier mit einem tiefinnigen Blick.

So sehr auch die Worte Schleiden's den General befremden mochten, so ließ er sich doch nicht Zeit, sein Mißfallen über diese unzeitige Weichherzigkeit auszudrücken, sondern wandte sich sofort an die Gefangene.

»Sie sind verhaftet worden, weil Sie den Anführer einer Rotte Rebellen in der 69. Street den Händen seiner Verfolger entzogen.«

Mary schwieg.

»Sie stehen also in irgend einer Verbindung mit dem Complott, welches den Aufruhr angezettelt.«

Wieder keine Antwort.

»Ich will jetzt nicht reden von den Verbrechen, an welchen Sie sonst betheiligt waren, die im Verlauf der Nacht verübt wurden –«

»Ich bitte zu bemerken, daß ich es war, welche größere Verbrechen, verhütet hat«, fiel hier Mary, welche ihre Fassung und Sicherheit, ja einen Muth, wie ihn nur das Bewußtsein der Unschuld giebt, wiedergefunden hatte. – »ich war bei keinem Verbrechen betheiligt, wohl aber die Ursache, daß rechtzeitig Miliz kam.«

»Sie?«

»Ja, Herr General, das kann ich bestätigen«, fiel Schleiden ein, »ich war Zeuge, daß Miß Powel die Anzeige beim Präsidenten machte, und auf die Nothwendigkeit hinwies, Miliz nach New-York zu schicken.

»Das Mädchen macht auf mich denselben günstigen Eindruck, wie der Gefangene in Court-Hause, flüsterte der Chef der Polizei dem Lieutenant zu. – »Merkwürdiges Geschick, daß alle Glieder der Familie in einem schlimmen Verdacht stehen, den sie nicht zu verdienen scheinen.«

Der General schüttelte ungläubig mit dem Kopfe. Er fuhr fort:

»Sie wußten, daß die Aushebungslisten vernichtet werden sollten?«

»Ja, ich wußte es«, antwortete Mary fest.

»Da Sie nun, wie Sie behaupten, die übrigen Verbrechen zu verhindern suchten, warum suchten Sie nicht auch dies schlimmste aller Verbrechen zu verhindern? – Ha, nun reden sie, was thaten Sie, um es zu verhindern? – Sie können von dem, was Sie begangen haben viel gut machen, wenn Sie uns mittheilen, was Sie von dem Verbleib der Aushebungslisten wissen.«

»Das wäre geschehen, Herr General, auch ohne Ihre Frage und ohne die Verheißung, welche Sie damit verknüpfen. – Die Aushebungslisten wären sicher unrettelbar verloren, wenn ich sie nicht gerettet hätte.«

»Mädchen«, rief der General und ergriff ihre beiden Hände, »Sie hätten das gethan, Sie?«

Sein Gesicht strahlte, und die freudige Ueberraschung ließ ihn vergessen, daß er eine Gefangene verhöre.

»Sie haben den Staat gerettet, die ganze Union ist Ihnen zu Dank verpflichtet!« rief er mit Enthusiasmus aus; – dann aber stockte er, und seine Stirn furchtete sich von Neuem. Es stiegen ihm Zweifel auf gegen die Wahrheit ihrer Aussage. – »Wo ist aber der Beweis, daß Sie das thaten, Miß Powel«, sagte er, »geben Sie uns den Beweis.«

»Der Beweis, daß die Listen gerettet sind«, antwortete Miß Powel ruhig, »ist leicht, lassen sie dieselben gefälligst aus der Wohnung meines Bruders, 69. Street, abholen. Ich brachte sie dorthin, weil sie in jener bescheidenen Wohnung vor der Entdeckung der Aufrührer am sichersten waren, die sie sicherlich an jedem andern Orte vermutheten, als hier; – und daß ich es war, welche die Listen rettete, werden Sie erfahren, sobald sie den Wächter und den Portier der Office aufgefunden haben werden, denen ich meine Karte gab, und denen ich sagte, daß ich die Listen in Ihrem Auftrage abholte.«

Schleidens Brust erleichterte sich durch einen Seufzer, alle Anwesenden schienen das Gefühl seiner Erleichterung zu theilen, denn Jeder hatte von vorn herein sich einer gewissen Theilnahme für das Mädchen nicht erwehren können.

In den Augen des Generals aber war sie von diesem Augenblick die Unschuld selbst.

»Mr. Judd«, sagte er, »wenn sich Alles so bestätigt, wie die junge Dame sagt, so ist, denke ich, kein Grund vorhanden, sie in Haft zu behalten.«

»Leider muß sie in Haft bleiben«, versetzte der Polizei-Chef, »denn sie kann nicht leugnen, den Anführer der Rotte aus den Händen seiner Verfolger befreit zu haben.«

Der General ging unwillig einige Male auf und ab. Dann blieb er vor dem jungen Mädchen stehen und sagte so eindringlich und mit so weicher Stimme, als es seinem rauhen Soldatenorgane möglich war:

»Wahrscheinlich, Miß, wußten Sie nicht, daß er zu der Verbrecherbande gehörte.«

Er that die Frage so, daß er der Gefragten damit zugleich die verneinende Antwort in den Mund legen wollte. Miß Powel aber, einer Lüge unfähig, antwortete, ohne aufzublicken:

»Ich wußte es.«

»Sie wußten aber nicht, daß er Einer der Rädelsführer sei?«

»Auch das wußte ich.«

Jedenfalls aber können Sie seinen Namen nicht nennen?«

»Ich weiß seinen Namen, aber ich werde ihn nicht nennen.«

Der General fuhr sich mit der Hand durch das dünne weiße Haar und stand rathlos da, als ihm Judd durch sein Achselzucken zu sagen schien:

»Sie sehen, es ist dringend nothwendig, sie in Haft zu behalten.«

»Aber Sie werden sie doch mit soviel Aufmerksamkeit und Schonung behandeln lassen, wie überhaupt gegen einen Untersuchungsgefangenen angewendet werden kann?« fragte der General, als Mr. Judd dem Adjutanten den Wink gab, sie wieder abzuführen.

Der Polizeichef versicherte, daß er gegen diese Gefangene mit aller Rücksicht verfahren werde, und empfahl sich. – –

Die Nachforschungen nach der Kiste, welche die Million enthalten sollte, wurden sofort begonnen, und auch dem zweiten Ersuchen des Mr. Morris wurde genügt; der Steckbrief gegen den ehemaligen Marinelieutnant Eugene Powel stand noch denselben Abend in allen Blättern.


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