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Sechsundfunfzigstes Kapitel.
Eine verdächtige Person

George Borton sah auffallend bleich aus; das Feuer seiner Augen war erloschen und der kecke Muth, der ihn sonst nie verließ, gebrochen. Seine Züge, obgleich immer noch weich und schön, schienen abgehärmt und auf ihnen lagerte eine Wolke tiefer Betrübniß, ja sogar eine gewisse Unzufriedenheit mit sich selbst und innere Zerrissenheit sprach aus jedem seiner Minen und jedem seiner Worte. Lincoln empfing ihn mit der gewohnten Leutseligkeit, indem er ihm die Hand reichte und ihn zum Sitzen einlud.

»Sie wollen also im Ernst die Armee verlassen?« sagte Lincoln. »Ja der That, ein großer Verlust, Mr. Borton; denn die Dienste, welche Sie dem Vaterlande geleistet, sind nicht geringe.«

»Das Ereigniß, von dem ich in meinem Abschiedsgesuch spreche,« antwortete George, »mein Erkanntsein in Richmond, macht es mir unmöglich, in dieser Weise dem Vaterlande ferner zu nützen.«

»Aber warum scheiden Sie überhaupt aus der Armee, gerade jetzt, da Ihr Avancement zum Major Ihnen so nahe bevorsteht?«

»Der Ehrgeiz trieb mich nicht auf das Schlachtfeld, Sir!«

»Ich weiß, ich habe das auch nicht sagen wollen, aber wir werden Sie vermissen.«

»Ich hoffe dem Vaterlande auch jetzt nützlich zu sein, und was mich hierher führt, ist vielleicht ein Beweis, daß ich nicht aufhöre, meine Kräfte, wie mein Leben dem Vaterlande zu weihen.«

»Sie kamen nicht wegen Ihrer Entlassung?«

»Nein, ich kam Sie zu warnen.«

»Mich zu warnen? Ist etwa wieder ein Meuchelmord im Plan?« fragte Lincoln mit halb mitleidigem, halb geringschätzigem Lächeln.

»Ihr Leben ist allerdings auch in Gefahr, doch für den Augenblick nicht bedroht· wohl aber ist die Stadt New-York in Gefahr, eingeäschert zu werden. Der Pöbel bereitet einen Aufruhr vor, der die Beraubung der Beamten, die Vernichtung der Conscriptionslisten und die gänzliche Zerstörung der Stadt zum Zweck hat.«

Lincoln sprang von seinem Sitze auf, sein großes Auge schien dem Sprecher bis in das Innerste seiner Seele zu dringen.

»Sie wissen das bestimmt?«

»Ich weiß es, Sir.«

»Wann soll das geschehen?«

»Bevor ich auf diese Frage antworte, Sir, muß ich Sie um Erlaubniß bitten, Ihnen eine Bedingung zu stellen, aus deren Erfüllung ich dringen muß.«

»Was für eine Bedingung? – Sprechen Sie.«

»Ich muß Sie bitten, mich weder nach den Personen, um welche es sich handelt, zu fragen, noch zu forschen, auf welche Weise ich das, was ich berichte, in Erfahrung gebracht habe.«

»Das ist in der That eine sonderbare Bedingung, Mr. Borton. Die Ergreifung der Anstifter ist ja die Hauptsache.«

»Ich habe meine Gründe die Anstifter nicht auszuliefern, Excellenz.«

Die Stirne Lincoln's verfinsterte sich.«

»Ich will nicht annehmen, Mr. Borton, daß Sie mit diesen Personen im Bunde stehen; allein ein echter Patriot muß das Vaterland höher achten als die Bande des Bluts und der Freundschaft.«

George schwieg, einen Seufzer unterdrückend. Lincoln fuhr fort:

»Ich kenne Ihren Patriotismus, Mr. Borton, und weiß, daß Sie nicht wollen werden, daß das Vaterland stets in Gefahr schwebt, dadurch, daß die Anstifter solcher Verbrechen, wie das, von welchem Sie eben sprachen, frei und ungekannt ihr Wesen treiben; und ich hoffe daher, daß Sie sich eines andern besinnen und keine solche Bedingungen stellen werden.«

George heftete einen fast flehenden Blick auf den Präsidenten, als er entgegnete:

»Sir, mit meinem Leben will ich dafür stehen, daß von dieser Seite kein Verbrechen verübt wird. Ich will jeden Anschlag zu Ihrer Kenntniß bringen, damit man dem Unheil vorzubeugen im Stande ist, aber ich kann die Personen nicht nennen, denn ich würde damit einen Mann vernichten, den ich liebe – liebe … ich wollte sagen, der meinem Herzen so nahe steht wie Keiner. Zürnen Sie mir daher nicht, wenn ich von jener Bedingung nicht abgehe.«

Der Präsident schien einen Moment unmuthsvoll zu überlegen, dann sagte er in einem Tone, der sehr verschieden von seinem anfänglichen Wohlwollen war:

»Ich willige ein, sprechen Sie also, was wissen Sie von der beabsichtigten Revolte?«

»Daß dieselbe am 9. September, also in drei Tagen, stattfinden und einen Umfang haben wird, daß die Polizei nichts dagegen auszurichten vermag, es ist demnach dringend nöthig, daß man ungesäumt Truppen nach New-York schickt.«

»Und wer verbürgt uns, Mr. Borton, daß diese Ihre Nachricht nicht blinder Lärm ist?«

»Mein Ehrenwort, Sir.«

»Ihr Ehrenwort fiel früher mehr ins Gewicht als jetzt nach dem, was ich soeben von Ihnen gehört;« antwortete Lincoln bitter. »Adieu, Sir, ich danke Ihnen.«

Dem Jüngling schnitt diese Kälte ins Herz, mit einem wahrhaft rührenden, Mitleid flehenden Blick trat er dem Präsidenten einen Schritt näher, er schien sich vertheidigen zu wollen, aber er drängte das Wort zurück, das er schon auf den Lippen hatte, und verließ niedergeschlagen und vernichtet das Cabinet.

Er hatte sich kaum entfernt, so drückte Lincoln auf eine Schelle.

Mr. Nicolai erschien.

»Der junge Mann,« sagte der Präsident, »welcher soeben fortging, muß scharf beobachtet werden, man muß die Personen kennen lernen, mit denen er umgeht, und das Treiben dieser Personen muß überwacht werden.«

»Wie!« entgegnete der Secretair verwundert, »liegt ein Verdacht gegen ihn vor?«

»Allerdings und zwar der Verdacht, daß er mit Landesverräthern im Bunde steht. Man muß seine Liaisons kennen lernen.«

Nachdem er darauf schnell einige Zeilen auf ein Blatt Papier geschrieben, übergab er dasselbe dem Secretair mit den Worten:

»Schicken Sie diese Depesche sofort an Stanton.«

Als sich der Secretair entfernt hatte, wandte er sich wieder an den Grafen von Schleiden, welcher mit Staunen diese Scene beigewohnt hatte.

»Mr. Schleiden, diese Affaire in New-York kann für Sie ein Probestück sein. Gehen Sie zum Kriegsminister, lassen Sie sich Ihr Offizierspatent ausfertigen und gehen Sie nach New-York, um dort ein Komando über einen Theil der Truppen zu übernehmen, welche dort hingeschickt werden.«

Der Präsident war sehr verstimmt. Mit starken Schritten ging er auf und ab und war so ausschließlich mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er kaum bemerkte, wie der Graf Anstalten traf, sich zu beurlauben.

Ueberrascht und erschüttert von dem, was er dort gesehen und gehört, verließ der Graf das Haus des Präsidenten, um sich, dem Befehl gemäß, zum Kriegsminister zu begeben. Als er so eilenden Schrittes über den Platz ging, sah er in einiger Entfernung den jungen Mann, dessen Mittheilung nicht nur, sondern dessen ganze Persönlichkeit sein Interesse im höchsten Grade erregt hatte. Derselbe schien unschlüssig, ob er weiter gehen oder umkehren sollte, denn er stand oft still und sah sich um. Er trug sein Haupt gesenkt, seine Haltung war matt und hinfällig; selbst in der Entfernung, die zwischen ihnen lag, konnte Schleiden erkennen, daß der Jüngling vom tiefsten Kummer niedergedrückt war.

Theils das Interesse, was er für ihn empfand, theils wohl auch der Befehl des Präsidenten: »Man muß die Personen kennen lernen, mit denen er umgeht«; veranlaßten ihn, dem Jüngling von ferne zu folgen.

Er verschwand in einem Hause der Bowstreet, einer schmalen und versteckt gelegenen Straße. – Des Grafen biedere offene Natur widerstrebte der Pflicht, ihm weiter zu folgen, oder zu erfahren, wer in dem Hause wohne.

»Nein«, sagte er sich, »ich kann es nicht, ich kann nicht die Rolle eines Polizeispions spielen. Eine solche Spionage kann auch der Präsident nicht wollen, in dem Lande der größten bürgerlichen Freiheit darf es keine Polizeispione geben! – Ich thue es nicht.«

Dennoch zögerte er umzukehren. Der Kummer, die Zerknirschung des jungen Mannes hatten ihn gerührt und ihm sein Herz gewonnen, wie gern hätte er ihn in seine Arme geschlossen und ihm gesagt: »Ich hege kein Mißtrauen gegen Dich, unglücklicher Jüngling. Welches auch die Ursache sein möge, die Dich zwang, jene Bedingung zu stellen, ich ehre dies Geheimniß. – Komm an mein Herz, sei mein Freund!«

Mehr als einmal näherte er sich dem Hause, mehr als einmal erfaßte er den Klopfer, aber stets gab er sein Vorhaben auf, aus Furcht, er könne in den Verdacht des Spionirens gerathen, bis endlich sein Benehmen dem Portier auffiel, der von dem Fenster seiner Loge aus ihn beobachtet hatte. Derselbe öffnete jetzt das Fenster und fragte als der Graf eben wieder den Klopfer ergriff:

»Wen suchen Sie, Sir?«

Der Graf war durch die Frage des Portiers, eines Negers mit einem verschmitzten, aber gutmüthigen Gesicht, etwas in Verlegenheit gesetzt, aber der Wahrheit gemäß antwortete er:

»Ich wünsche zu wissen, wer in diesem Hause wohnt·«

»Sie wünschen den Hauswirth zu sprechen?« antwortete der Neger, »das ist Mr. Spangler der Zimmermann beim Ford-Theater.

»Ist er der Freund des jungen Mr. Borton?«

»Nein«, antwortete der Neger, »der ist es nicht, sondern Mr. Conover ist es.«

Mr. Conover! – Er hatte jetzt den Namen der Person gehört, welche die Annährung zu dem Jüngling, der in so kurzer Zeit sein Herz gewonnen, vermitteln konnte. Er dankte dem Portier und wollte sich eben entfernen, als die Hausthür sich öffnete und eine Dame heraustrat, tief verschleiert, aber doch nicht so dicht, daß der Graf nicht hätte die Züge erkennen können.

»Es muß seine Schwester sein!« rief er, ihr nachblickend.

»Ganz sein Gesicht, ganz seine schlanke Figur, sein Gang, sein kummervolles Aussehen. O sie theilt seinen Schmerz. – Welche Grazie, welche Schönheit!«

Wie angewurzelt stand er da und verfolgte die Dame mit den Augen so lange er sie sehen konnte.

Hatte er sich getäuscht, oder hatte wirklich ein flüchtiges Roth ihre bleiche Wangen überzogen, als sie zufällig ihr Auge im Vorbeigehen auf ihn geworfen hatte? –

»Beim Himmel, ich habe nie ein schöneres Mädchen gesehen!« rief er entzückt, als sie seinen Blicken entschwunden war. »Wollte Gott, es wäre mir vergönnt, sie jemals wieder zu sehen!« –

Im Rath der Vorsehung war es beschlossen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen – zu seinem Verderben! – O! warum klagen die Menschen so oft, daß das, was sie so heiß ersehnten, nicht in Erfüllung geht? – Welcher Sterbliche mag ermessen, ob nicht die Erfüllung tausendmal schrecklicher ist als das Entsagen! – –

Die Dame, welche der Graf von Schleiden für die Schwester George Bortons hielt, trug ein einfarbiges dunkles Kleid zwar von feinstem Stoffe, aber von bescheidenem und anspruchslosem Schnitt, dem entsprechend war auch ihre übrige Toilette.

Sie nahm ihren Weg nach der nordöstlichen Vorstadt. An die volkreichen Straßen, der eigentlichen Stadt schließt sich eine baumbepflanzte Straße, welche nur spärlich mit Häusern besetzt ist. Dieselben liegen fast alle einzeln, so daß sich zwischen ihnen immer weite Zwischenräume befinden. Beinahe das letzte dieser Häuser trug auf einem grünen Schilde über der Haustür die Bezeichnung:

»Boarding-House von Helene Surratt.«

Dies Haus war das Ziel der Dame. Wie Jemand, der hier nicht fremd ist, schritt sie durch den Hausflur, die Dienerschaft begrüßte sie achtungsvoll, und selbst einzelne Herren, welche, aus dem Parlour kommend, ihr begegneten, zogen ihre Hüte tiefer, als sie es sicherlich vor den meisten übrigen Damen thaten.

»Ist Mrs. Surratt zu Hause?« fragte sie die Magd, welche ihr den Schlüssel zu ihrem Zimmer überreichte.

»Ja, sie ist zu Hause«, war die Antwort. »Sie ist beim Frühstück und erwartet Miß Mary, und auch Mr. George ist dort, er hat schon mehrmals auf ihr Zimmer geschickt um nachsehen zu lassen, ob Sie noch nicht zurückgekehrt seien.«

Miß Mary's kummervolle Stirn faltete sich bei Erwähnung jenes George wie im Unwillen, glättete sich indessen schnell wieder und mit erzwungener Ruhe sagte sie:

»Ich werde herab kommen, sobald ich mit meiner Toilette fertig bin. Gieb den Schlüssel.«

Mit diesen Worten stieg sie die Treppe hinauf, und öffnete eines der Zimmer. Ehe sie jedoch hineinging, hielt sie inne, sah sich rings um, ob Niemand sie beobachte, dann schlich sie auf den Zehen an eine andere Thür, legte ihr Ohr an das Schlüsselloch und lauschte mit zurückgehaltenem Athem eine Weile.

Ein Männerschritt ließ sich von innen hören. Schnell flog sie zurück und verschwand in ihrem Zimmer. Mit einem Seufzer verschloß sie die Tür hinter sich.

»Gott sei Dank!« rief sie, »er ist noch da, ich werde ihn noch einmal sehen, bevor er. zur Ausführung der That geht, die ihm das Leben kosten kann – aber geschieht das, so wird es nicht geschehen, weil ich ihn verrathen. – O Wilkes, Wilkes, Du ahnst nicht, welches Opfer ich Dir gebracht habe!«

Ihr Antlitz mit den Händen bedeckend und laut schluchzend sank sie auf die Kissen des Sopha's nieder.

Inzwischen saß Miß Surratt, die Wirthin des Boarding Hauses in ihrem Privatzimmer beim Frühstückstisch. Ihre Züge schienen härter und unweiblicher als je und im Vergleich mit ihr trat der Contrast um so schärfer hervor, den das sanfte, fast schwärmerische Gesicht des jungen Mannes, welcher ihr gegenüber saß, zu dem ihrigen bildete.

Dieser junge Mann war George Arnold, einer der Mitverschworenen vom Bunde des »unsichtbaren Feindes.« Er schien sehr unruhig, denn bei jedem Geräusch, das sich draußen vernehmen ließ, wandte er sich nach der Thür um, als ob er erwarte, daß Jemand eintrete. Seine Unterhaltung mit der Wirthin war zerstreut und abgebrochen, und sein Appetit war sehr gering.

Wieder ließen sich draußen Tritte vernehmen. Mr. Arnold drehte sich hastig um, den Blick auf die Thür geheftet schien er in athemloser Erwartung.

Die Thür öffnete sich, und eine Dienerin trat ein, welche den Thee brachte.

»Ist Miß Mary noch nicht zurückgekehrt?« fragte er enttäuscht.

»Sie ist zurückgekommen, Mr. George,« antwortete die Gefragte.

»Und wird sie herabkommen?«

»Sie wird herabkommen, sobald sie mit dem Ankleiden fertig ist.«

Das Antlitz des jungen Mannes heilte sich auf; es war als ob er auf einmal ein Anderer geworden sei. Er wurde gesprächiger, und die Zerstreutheit war von ihm gewichen; von seinem Sitze sich erhebend, ging er einige Minuten auf und ab, mit den Händen gestikulirend und dabei einzelne Worte ausstoßend.

»Ich werde sie also noch einmal sehen, diesen Engel! …. Wie hätt' ich auch den Muth gewinnen können, ohne Abschied von ihr zu gehen? ….. Ihr Besitz soll der Preis meiner Thaten sein! ….. Meine Liebe soll sie trösten für den Verlust, welchen sie beweint. …..«

Mrs. Surratt beobachtete ihn mit einem Blicke, welcher halb Vorwurf halb Besorgniß auszudrücken schien. Endlich unterbrach sie sein Stillschweigen mit den Worten:

»Wissen Sie, Mr. Arnold, Ihre Leidenschaft für das Mädchen mißfällt mir.«

»Mißfällt Ihnen? Warum?«

»Weil sie Ihnen und unserer Sache gefährlich ist.«

»Gefährlich? Im Gegentheil. Meine Begeisterung steigert sich, wenn ich auf sie blicke. Für sie bin ich Alles zu thun bereit!«

»Ihre Aufgabe erfordert Besonnenheit und einen unbefangenen Blick. Die Liebe aber macht unbesonnen und blind.«

»Fürchten Sie nichts, Ma'am. Die Liebe zu einem solchen Wesen kann nur veredeln und begeistern zu großen Thaten, wie die, welche wir zu vollbringen haben. Ist es nicht wahr, daß sie ein edles, freundliches, engelreines Geschöpf ist?«

»Das scheint sie zu sein. Bedenken Sie, daß wir sie noch nicht lange genug kennen. Sie kam erst vor einigen Wochen in unser Haus, und war bis dahin Keinem von uns bekannt.«

»Oh, man sieht aus den ersten Blick, daß sie ein Engel ist.«

»Ihr Unglück ist es, was Sie rührt.«

»Das auch, denn Jedermann wird sie beklagen müssen. So jung, und durch den Krieg völlig verwaist, kommt sie allein und schutzlos aus dem Süden hier an um hier entfernte Verwandte aufzusuchen. Schon das allein war genügend, um mich zu bestimmen, ihr meinen Schutz anzubieten; aber das wurde mir noch vielmehr zur Pflicht, als ich die Entdeckung machte, daß sie eine schwärmerische Anhängerin der Conföderirten sei.«

»Wenigstens sagte sie, daß sie das sei.«

»Wir dürfen aber in diese ihre Aussage keinen Zweifel setzen, Mrs. Surratt, denn erwägen Sie nur, daß sie uns das Geständniß machte, noch ehe sie eine Ahnung davon hatte, daß wir mit dem Süden in Verbindung stehen, vielmehr uns noch für gute Unionisten halten mußte. Ich weiß noch, in welcher rührenden Weise sie uns dies Geständniß machte. Als sie uns ihr Unglück erzählt hatte, daß Ihr Vater in der Schlacht bei Gettysburg gefallen sei, daß sie keine Verwandte mehr in Virginien habe und nun nach Washington komme, um hier entfernte Verwandte aufzusuchen, und als ich ihr darauf meine Hilfe und meinen Schutz anbot, da sagte sie: »Ich bin Ihnen für Ihre Güte dankbar, allein, ich fürchte, Sie werden mich dieser Güte für unwerth halten, wenn ich Ihnen eine Mittheilung mache, über meine Gesinnung. – Ich bat sie, sich diese Mitheilung zu ersparen, wenn es sie schmerzte, dieselbe zu machen, allein ihre Wahrheitsliebe trieb sie zu dem schüchternen Geständniß, daß sie eine treue Anhängerin der Conföderirten sei. Wer beschreibt meine Freude, als ich die Entdeckung machte, daß sie gerade zu unserer Parthei gehöre, sie ist mir seit dem Augenblick theurer als mein Leben.«

»Ich fürchte nur, daß Sie ihr in der Verblendung Ihrer Liebe zu viel Vertrauen schenken.«

»Verdient sie etwa dieses Vertrauen nicht? Hat sie nicht auch Ihr Herz und Ihre Zuneigung erworben?«

»Ich kann nicht leugnen, daß ich ebenfalls Theilnahme für sie empfinde, denn sie ist eben so fromm, als sie unglücklich ist. Sie besucht mit mir regelmäßig die Betstunden und ist bei jeder Predigt die andächtigste Zuhörerin, und die Frömmigkeit ist eine Eigenschaft, die man bei einem schönen jungen Mädchen nicht hoch genug schätzen kann.«

Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß oftmals Frauen, welche keine Spur von Herz und Gemüth besitzen, wie Mrs. Surratt, auf strengste Ausübung religiöser Ceremonien hielt; sie sind die fleißigsten Kirchengängerinnen und die eifrigsten Mitglieder aller möglichen Wohlthätigkeitsanstalten. Es ist als ob sie selbst den Mangel an Weiblichkeit fühlten und strebten, den Schein derselben in einer Andächtelei zu wahren, welche sie mit einem Ernst üben, wie ihn nur wahre Religiosität zu erzeugen vermag.

Auch Mrs. Surratt bestrebte sich eifrigst, sich als eine wahrhaft fromme Frau zu documentiren und diesem Zug ihres Charakters ist Ihre Inklination für Mary mehr zuzuschreiben, als ihrer Partheisucht.

Miß Mary erschien in eben so anspruchsloser als geschmackvoller Toilette. Sie war ein wahrhaft schönes Weib, zwar nicht mehr in der ersten Blüthe der Jugend, denn sie mochte bereits 24 Jahre zählen, aber doch verlieh der Ausdruck des Kummers und des Seelenleidens ihrem Gesicht etwas ungemein Anziehendes. Ihr Teint schien etwas zu dunkel für die dunkelblonden Locken, welche in reicher Fülle ihr Haupt umgaben, indessen stand derselbe durchaus nicht im Widerspruch mit den dunklen braunen Augen, welche einst im Feuer der Energie geglänzt haben mochten, jetzt aber traurig und niedergeschlagen, unter den schwarzen Wimpern hervorschimmerten. Der Graf von Schleiden hatte allen Grund gehabt, sie für die Schwester George Bortons zu halten, denn so sehr auch die Kleidung ihr ein anderes Aussehen gab, so hatte sie mit jenem Offizier doch eine frappante Aehnlichkeit, und hätte Margot, die Dienerin der Miß Emmy Brown sie gesehen, so würde sie darauf geschworen haben, es sei die Dame, welche im Ankleidezimmer ihrer Herrin die Männerkleidung mit weiblicher vertauscht, und sich im Angesichte der Beamten, die nach dem Spion George Borton suchten, aus dem Hause entfernt hatte.

Mr. Arnold begrüßte sie mit zärtlicher Bewunderung, Mrs. Surratt mit wohlwollender Freundlichkeit.

»Ich erwartete Sie bereits früher, Miß Mary,« sagte die letztere, »um mit mir die Bibelstunde bei Mr. Milworth zu besuchen.«

Miß Mary entschuldigte sich damit, daß die Nachforschungen, welche sie nach ihren Verwandten angestellt, sie länger aufgehalten haben, als sie geglaubt, und drückte mit nicht ganz sicherer Stimme, welche an der Aufrichtigkeit der Versicherung zweifeln ließ, ihr Bedauern aus, die Bibelstunde versäumt zu haben.

»Und sind diesmal Ihre Nachforschungen von Erfolg gewesen?« fragte George Arnold theilnehmend.

»Von einigem Erfolge!« war die Antwort.

»Sie werden uns verlassen?« fragte er fast erschrocken.

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Leider habe ich nur erfahren, daß einige Verwandte zwar noch am Leben, aber nicht mehr hier sind,« antwortete sie. »Sie sind entweder nach Baltimore oder nach New-York verzogen.«

»Das ist allerdings für Sie trostlos,« bemerkte Mrs. Surratt, »Sie werden also genöthigt sein, weiter in die Welt hineinzureisen und die unerquicklichen Nachforschungen fortzusetzen.«

»Leider ist es so,« antwortete das Mädchen mit Bekümmerniß. »Und was ich am meisten beklage, ist, das Haus verlassen zu müssen, in welchem ich so liebevolle Aufnahme gefunden, denn meine Geldmittel sind nicht so bedeutend, um mir einen allzu langen Aufenthalt hier zu gestatten.«

»Ach, was das betrifft, Miß Mary,« unterbrach sie Arnold mit Lebhaftigkeit, »so flehe ich Sie an, verschmähen Sie meinen Beistand nicht. Sie sollen nicht hilflos und allein in der Welt dastehn, so lange ich lebe. Sie wissen, ich bin reich, und ich kenne kein höheres Glück, als Ihnen mein Vermögen, ja mein Leben selbst zu Füßen zu legen. O, kennten Sie mein Herz, wie innig es an Ihrem Geschick theilnimmt, und wie es mein höchster Wunsch ist …

»Mr. George,« fiel Mrs. Surratt in vorwurfsvollem Ton ein, »sprechen Sie lieber ein ander Mal davon, Sie wissen, daß Sie in einer Stunde abreisen müssen, ich dächte, es wäre nothwendig, daß Sie Ihre Vorbereitung zur Reise treffen.

Arnold hatte Mary's Hand ergriffen und sie an seine Lippen geführt, sie entzog ihm dieselbe nicht, sondern drückte vielmehr die seine sanft zum Zeichen ihrer Dankbarkeit, wer aber ihr zur Seite gewandtes Antlitz gesehen hätte, die zusammengepreßten Lippen, den Widerwillen, mit welchem sie sich zu diesen Aeßerungen ihrer Gefühle hergab, der würde sofort gesehen haben, daß sie sich lediglich dazu zwang.

Noch ehe Mr. Arnold sich verabschiedete, öffnete sich die Thür und zwei Männer traten ein, jeder eine schwarze lederne Reisetasche in der Hand tragend.

Das blasse Gesicht Mary's überzog sich mit Purpurröthe, als sie ihrer ansichtig wurde·

»Wir kommen uns Ihnen zu empfehlen, werthe Mrs. Surratt, und Ihnen Miß Mary,« sagte der erste der Eingetretenen, der Niemand anders war als John Wilkes Booth.

Er verneigte sich vor der Dame des Hauses mit großer Höflichkeit und ohne auch nur eine Spur eines vertraulicheren Verkehrs zu verrathen.

»Sie bleiben lange aus, Mr. Wilkes?« fragte die Wirthin, als ob sie keine Ahnung hätte, welchen Zweck seine Reise habe.

Vielleicht nur eine Woche, da wir nichts weiter beabsichtigen, als unsere Freunde Robert und Bob in New-York zu besuchen.«

»Sie werden mir doch die Ehre erweisen, wieder in meinem Hause vorzusprechen, wenn Sie zurückkehren?« sagte Mrs. Surratt.

Booth verzog keine Miene, als er antwortete:

»Ei freilich, wo wären wir in Washington besser aufgehoben? Wenn Sie es erlauben, leisten wir gern Ihrer Einladung Folge. Auch Ihnen empfehle ich mich, Mr. George; wir hoffen doch, Sie noch hier zu finden, wenn wir wiederkehren? – Ich zweifle nicht, denn wie ich sehe, fesselt Sie hier ein Magnet, dessen Anziehungskraft stärker ist, als Ihre Reiselust.«

George Arnold besaß nicht die Verstellungskunst des Schauspielers oder der Wirthin, er wurde sichtlich verlegen und stotterte etwas, aus dem hervorging, daß er ebenfalls heute noch abzureisen gedenke.

Die ganze Komödie, welche lediglich gespielt wurde, um Miß Mary zu täuschen, schien diesen Zweck erreicht zu haben, denn sie verrieth durch keine Miene, daß sie von dem Vorhaben der Verschworenen mehr Kenntniß habe, als sie sich träumen ließen; daß sie abreisten, um sich am 9. September in New-York zu treffen, wußte sie durch Arnolds vertrauensvolle Mittheilung längst.

»Bemühe Dich nicht, Wilkes, mich zu täuschen,« dachte sie bei sich. »Es ist vergebens. Wollte Gott, ich könnte Deine Reise für so harmlos halten, als Du mich glauben machen möchtest, ich wäre dann nicht gezwungen durch die Pflicht, Dich zu verrathen, Dich zu verderben, Dich, den ich liebe, den ich anbete!«

Ahnte Booth, daß die Gedanken der Dame sich mit ihm beschäftigten? Er wandte sich plötzlich mit der Frage an sie:

»Mein Fräulein, haben Sie vielleicht einen Bruder, der bei der Unionsarmee diente? Ich habe lange gesonnen, wo ich Ihre Züge gesehen haben könnte, erst jetzt fällt mir Ihre Aehnlichkeit mit einem Offizier aus, der bei Sheridan's Corps diente.«

Mary schüttelte den Kopf und antwortete, ihre Verlegenheit bekämpfend:

»Einen Bruder habe ich nicht; mein Vater aber stand bei der Armee, aber nicht bei der Unionsarmee.«

»Hm, seltsam!« meinte Booth.

»Sie haben auch Aehnlichkeit mit einem jungen Manne, dessen Gesicht ich auf einem Maskenball im Ritterhause sah,« fügte Atzerott hinzu.

Mary schüttelte gleichgültig mit dem Kopfe.

»Arnold, laß Dich warnen!« flüsterte Booth seinem Genossen zu, als er an diesem vorbei mit Atzerott zur Thür hinausging.

Mary sah sie durchs Fenster mit ihren Reifetaschen von schwarzem Leder das Cab besteigen, welches sie zum Bahnhof führte und seufzend blickte sie ihnen nach.

Eine Stunde später verließen auch Mr. O'Laughlin und George Arnold das Boarding-House, ebenfalls mit schwarzen ledernen Reisetaschen versehen.

Diese Reisetaschen enthielten das Brennmaterial, welches New-York einäschern sollte.


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